Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.Reichsspiegel Liquidierung der Marokkofrage ihr Ende gefunden. Seitdem handelt es sich Wir sehen indes, daß sie nur dann wieder anfangen zu bluten, wenn Was ist nun die europäische Politik Englands? Man muß die Vorfrage stellen: welche Rolle spielt die europäische Politik Es lassen sich dafür verschiedene Gründe anführen. Die Entwicklung in Reichsspiegel Liquidierung der Marokkofrage ihr Ende gefunden. Seitdem handelt es sich Wir sehen indes, daß sie nur dann wieder anfangen zu bluten, wenn Was ist nun die europäische Politik Englands? Man muß die Vorfrage stellen: welche Rolle spielt die europäische Politik Es lassen sich dafür verschiedene Gründe anführen. Die Entwicklung in <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0592" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321009"/> <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/> <p xml:id="ID_2762" prev="#ID_2761"> Liquidierung der Marokkofrage ihr Ende gefunden. Seitdem handelt es sich<lb/> in der englisch-französischen Entente nicht mehr um vertragliche Verpflichtungen<lb/> und auch nicht mehr um eine bestimmte Politik, fondern nur noch um politische<lb/> Tendenzen. Diese aber hängen in erster Linie von den deutsch-französischen<lb/> Beziehungen ab. Die ganze Politik, die England während der letzten Jahre<lb/> verfolgt hat, hatte, wie wir wissen, das Ziel, im Falle eines deutsch-französischen<lb/> Konfliktes seinen Einfluß zugunsten Frankreichs in die Wagschale zu werfen.<lb/> Mit der Erledigung der Marokkoangelegenheit ist nun die einzige akute Reibungs¬<lb/> ursache zwischen Deutschland und Frankreich weggefallen. Der alte Gegensatz<lb/> und auch die Revancheidee ist freilich noch immer, wenn auch mehr oder weniger<lb/> latent, vorhanden. Aber mit den französischen Wunden von 1870 verhält es<lb/> sich wie mit den Wunden des heiligen Januarius in Neapel: man kann sie<lb/> nach Belieben bluten lassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2763"> Wir sehen indes, daß sie nur dann wieder anfangen zu bluten, wenn<lb/> andere große politische Fragen besonderen Anlaß geben. Für eine Annäherung<lb/> zwischen Deutschland und Frankreich zur Verfolgung gemeinsamer Interessen,<lb/> wie sie in den achtziger und neunziger Jahren verschiedene Male stattgefunden<lb/> hat, namentlich unter Jules Ferry und Hanotaux, ist unter den gegenwärtigen<lb/> Umständen keine Aussicht vorhanden; wir haben augenblicklich auch keine<lb/> weltpolitischen Ziele, bei denen uns Frankreich besonders nützlich sein könnte.<lb/> (Siehe auch die beiden Aufsätze von Franz Wugk-Paris in den Heften 48<lb/> und 50, 1911.) Frankreich hat auf absehbare Zeit den Anschluß an England<lb/> gefunden. Für uns wäre es vergebliche Liebesmühe, eine „Versöhnung"<lb/> mit Frankreich zu suchen. Anderseits besteht zwischen Deutschland und Frank-<lb/> reich jetzt kein Grund zu Friktionen; und gerade der Wunsch Englands, mit<lb/> uns zu einer Verständigung zu gelangen, beweist, daß seit der Erledigung der<lb/> Marokkofrage die deutsch-französischen Beziehungen eine wesentliche Entspannung<lb/> aufweisen. Unter diesen Umständen hat die Entente Englands mit Frankreich,<lb/> soweit die deutschen Interessen in Frage kommen, keine positiven Ziele, sondern<lb/> nur den mehr negativen Zweck, den 8tatus quo zu erhalten.</p><lb/> <p xml:id="ID_2764"> Was ist nun die europäische Politik Englands?</p><lb/> <p xml:id="ID_2765"> Man muß die Vorfrage stellen: welche Rolle spielt die europäische Politik<lb/> in der allgemeinen Politik Englands? Diese Frage läßt sich im gegebenen<lb/> Augenblick sehr schwer beantworten. Die politischen Interessen Englands er¬<lb/> strecken sich über die ganze Welt, und welche Interessen im gegebenen Falle<lb/> die englische Regierung am meisten in Anspruch nehmen: ob es Ostasten, Indien,<lb/> der nahe oder mittlere Osten oder die Beziehungen zu den europäischen Mächten<lb/> sind, darüber dürfte das Urteil kompetenter Beobachter häufig auseinandergehen.<lb/> Nur eine Tatsache steht fest: das Kabinett Asquith wünscht die englische Politik<lb/> von dem Druck zu entlasten, den der englisch-deutsche Gegensatz aus sie ausübt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2766" next="#ID_2767"> Es lassen sich dafür verschiedene Gründe anführen. Die Entwicklung in<lb/> China macht ein Zusammengehen aller interessierten Weltmächte wünschenswert.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0592]
Reichsspiegel
Liquidierung der Marokkofrage ihr Ende gefunden. Seitdem handelt es sich
in der englisch-französischen Entente nicht mehr um vertragliche Verpflichtungen
und auch nicht mehr um eine bestimmte Politik, fondern nur noch um politische
Tendenzen. Diese aber hängen in erster Linie von den deutsch-französischen
Beziehungen ab. Die ganze Politik, die England während der letzten Jahre
verfolgt hat, hatte, wie wir wissen, das Ziel, im Falle eines deutsch-französischen
Konfliktes seinen Einfluß zugunsten Frankreichs in die Wagschale zu werfen.
Mit der Erledigung der Marokkoangelegenheit ist nun die einzige akute Reibungs¬
ursache zwischen Deutschland und Frankreich weggefallen. Der alte Gegensatz
und auch die Revancheidee ist freilich noch immer, wenn auch mehr oder weniger
latent, vorhanden. Aber mit den französischen Wunden von 1870 verhält es
sich wie mit den Wunden des heiligen Januarius in Neapel: man kann sie
nach Belieben bluten lassen.
Wir sehen indes, daß sie nur dann wieder anfangen zu bluten, wenn
andere große politische Fragen besonderen Anlaß geben. Für eine Annäherung
zwischen Deutschland und Frankreich zur Verfolgung gemeinsamer Interessen,
wie sie in den achtziger und neunziger Jahren verschiedene Male stattgefunden
hat, namentlich unter Jules Ferry und Hanotaux, ist unter den gegenwärtigen
Umständen keine Aussicht vorhanden; wir haben augenblicklich auch keine
weltpolitischen Ziele, bei denen uns Frankreich besonders nützlich sein könnte.
(Siehe auch die beiden Aufsätze von Franz Wugk-Paris in den Heften 48
und 50, 1911.) Frankreich hat auf absehbare Zeit den Anschluß an England
gefunden. Für uns wäre es vergebliche Liebesmühe, eine „Versöhnung"
mit Frankreich zu suchen. Anderseits besteht zwischen Deutschland und Frank-
reich jetzt kein Grund zu Friktionen; und gerade der Wunsch Englands, mit
uns zu einer Verständigung zu gelangen, beweist, daß seit der Erledigung der
Marokkofrage die deutsch-französischen Beziehungen eine wesentliche Entspannung
aufweisen. Unter diesen Umständen hat die Entente Englands mit Frankreich,
soweit die deutschen Interessen in Frage kommen, keine positiven Ziele, sondern
nur den mehr negativen Zweck, den 8tatus quo zu erhalten.
Was ist nun die europäische Politik Englands?
Man muß die Vorfrage stellen: welche Rolle spielt die europäische Politik
in der allgemeinen Politik Englands? Diese Frage läßt sich im gegebenen
Augenblick sehr schwer beantworten. Die politischen Interessen Englands er¬
strecken sich über die ganze Welt, und welche Interessen im gegebenen Falle
die englische Regierung am meisten in Anspruch nehmen: ob es Ostasten, Indien,
der nahe oder mittlere Osten oder die Beziehungen zu den europäischen Mächten
sind, darüber dürfte das Urteil kompetenter Beobachter häufig auseinandergehen.
Nur eine Tatsache steht fest: das Kabinett Asquith wünscht die englische Politik
von dem Druck zu entlasten, den der englisch-deutsche Gegensatz aus sie ausübt.
Es lassen sich dafür verschiedene Gründe anführen. Die Entwicklung in
China macht ein Zusammengehen aller interessierten Weltmächte wünschenswert.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |