Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsspiegcl

wenigen Jahren erlebt haben. Und wie endete diese Rivalität? Auf die erste
Flottenpanik folgte fast unvermittelt die Waffenbrüderschaft der beiden Nationen
im Krimkriege. Als die zweite Panik einen bedrohlichen Umfang annahm,
begann in der Londoner City und in den Industriezentren des Nordens eine
Gegenkampagne zur Herstellung freundschaftlicher Beziehungen. Richard Cobden,
der allerdings kein Kabinettsminister war. wurde nach Paris entsandt; man
schloß einen Handelsvertrag, und dieser leitete die erste "sntents Loräiale" ein.
Im Jahre 1896 erlebten wir den englisch-amerikanischen Konflikt, der durch
den venezolanischen Grenzstreit hervorgerufen wurde. Das Einschreiten des
Präsidenten Cleveland, der die Monroedoktrin in Frage gestellt sah, führte zu
einer scharfen Krisis und zu leidenschaftlicher Erregung der öffentlichen Meinung.
Kaum aber war der akute Konfliktsstoff beseitigt, als die englische Regierung
eine Politik einschlug, die binnen weniger Jahre und zwar auf der Grundlage
bedeutender Konzessionen, die Freundschaft begründete, die noch jetzt zwischen
England und Amerika besteht. Schließlich ist auch die englisch-französische
Annäherung im Anschluß an den Faschodastreit überraschend schnell gekommen!

Wir erkennen somit keinen Grund, der uns zwänge, an der Aufrichtigkeit
einer englischen Politik zu zweifeln, die auf eine Verständigung mit Deutschland
hinarbeitet, auch wenn die Entente mit Frankreich bestehen bleibt.

England hat sich seine Erdeulen und Freundschaften nicht wenig kosten
lassen; sie sind tatsächlich so teuer zu stehen gekommen, daß es sie schon
deshalb nicht leicht aufgeben könnte. England hat es zugelassen, daß Frankreich
seine Stellung im Mittelmeer beträchtlich verstärkt und sich an der Nordwestküste
von Afrika festgesetzt hat; es hat dadurch seine eigene Stellung im Mittelmeer
geschwächt; die Annexion von Tripolis durch Italien kompliziert die Stellung
Englands im Mittelmeer noch mehr. Lord Rosebern war der einzige englische
Staatsmann, der 1904 öffentlich davor warnte, Marokko den Franzosen zu
überlassen; außer den strategischen Vorteilen, die England in dem Abkommen
von 1904 aufgab, opferte es auch seine Handelsinteressen in Marokko, deren
Wiedergewinnung es nur der deutschen Marokkopolitik verdankt. Die Freund¬
schaft mit Rußland hat England vielleicht noch mehr gekostet. Rußland zuliebe
gab es in der Balkankrisis seine alte Freundschaft mit Österreich kurzer Hand
preis. In dem Abkommen von 1907 gewährte es Rußland Vertragsrechte in
Afghanistan und Tibet und gab ihm eine Handhabe, seinen politischen und
wirtschaftlichen Einfluß in Nordpersien in einer Weise auszudehnen, die Ru߬
lands Stellung Indien gegenüber durchaus zu Rußlands Gunsten verschiebt.
Der Traum von einem Indischen Ozean unter britischer Flagge wird dadurch
immer utopischer. Diese Freundschaften stellen somit eine Kapitalsanlage dar,
die in Zukunft vielleicht noch größere Aufwendungen nötig machen wird. Sollte
nun England all dies angelegte Kapital aufgeben und die teuer bezahlten
Freundschaften mit Frankreich und Rußland, deren Stellung im Mittelmeer und
in? mittleren Osten es selbst so bedeutend hat verstärken helfen, sich in das


Reichsspiegcl

wenigen Jahren erlebt haben. Und wie endete diese Rivalität? Auf die erste
Flottenpanik folgte fast unvermittelt die Waffenbrüderschaft der beiden Nationen
im Krimkriege. Als die zweite Panik einen bedrohlichen Umfang annahm,
begann in der Londoner City und in den Industriezentren des Nordens eine
Gegenkampagne zur Herstellung freundschaftlicher Beziehungen. Richard Cobden,
der allerdings kein Kabinettsminister war. wurde nach Paris entsandt; man
schloß einen Handelsvertrag, und dieser leitete die erste „sntents Loräiale" ein.
Im Jahre 1896 erlebten wir den englisch-amerikanischen Konflikt, der durch
den venezolanischen Grenzstreit hervorgerufen wurde. Das Einschreiten des
Präsidenten Cleveland, der die Monroedoktrin in Frage gestellt sah, führte zu
einer scharfen Krisis und zu leidenschaftlicher Erregung der öffentlichen Meinung.
Kaum aber war der akute Konfliktsstoff beseitigt, als die englische Regierung
eine Politik einschlug, die binnen weniger Jahre und zwar auf der Grundlage
bedeutender Konzessionen, die Freundschaft begründete, die noch jetzt zwischen
England und Amerika besteht. Schließlich ist auch die englisch-französische
Annäherung im Anschluß an den Faschodastreit überraschend schnell gekommen!

Wir erkennen somit keinen Grund, der uns zwänge, an der Aufrichtigkeit
einer englischen Politik zu zweifeln, die auf eine Verständigung mit Deutschland
hinarbeitet, auch wenn die Entente mit Frankreich bestehen bleibt.

England hat sich seine Erdeulen und Freundschaften nicht wenig kosten
lassen; sie sind tatsächlich so teuer zu stehen gekommen, daß es sie schon
deshalb nicht leicht aufgeben könnte. England hat es zugelassen, daß Frankreich
seine Stellung im Mittelmeer beträchtlich verstärkt und sich an der Nordwestküste
von Afrika festgesetzt hat; es hat dadurch seine eigene Stellung im Mittelmeer
geschwächt; die Annexion von Tripolis durch Italien kompliziert die Stellung
Englands im Mittelmeer noch mehr. Lord Rosebern war der einzige englische
Staatsmann, der 1904 öffentlich davor warnte, Marokko den Franzosen zu
überlassen; außer den strategischen Vorteilen, die England in dem Abkommen
von 1904 aufgab, opferte es auch seine Handelsinteressen in Marokko, deren
Wiedergewinnung es nur der deutschen Marokkopolitik verdankt. Die Freund¬
schaft mit Rußland hat England vielleicht noch mehr gekostet. Rußland zuliebe
gab es in der Balkankrisis seine alte Freundschaft mit Österreich kurzer Hand
preis. In dem Abkommen von 1907 gewährte es Rußland Vertragsrechte in
Afghanistan und Tibet und gab ihm eine Handhabe, seinen politischen und
wirtschaftlichen Einfluß in Nordpersien in einer Weise auszudehnen, die Ru߬
lands Stellung Indien gegenüber durchaus zu Rußlands Gunsten verschiebt.
Der Traum von einem Indischen Ozean unter britischer Flagge wird dadurch
immer utopischer. Diese Freundschaften stellen somit eine Kapitalsanlage dar,
die in Zukunft vielleicht noch größere Aufwendungen nötig machen wird. Sollte
nun England all dies angelegte Kapital aufgeben und die teuer bezahlten
Freundschaften mit Frankreich und Rußland, deren Stellung im Mittelmeer und
in? mittleren Osten es selbst so bedeutend hat verstärken helfen, sich in das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0590" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321007"/>
            <fw type="header" place="top"> Reichsspiegcl</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2755" prev="#ID_2754"> wenigen Jahren erlebt haben. Und wie endete diese Rivalität? Auf die erste<lb/>
Flottenpanik folgte fast unvermittelt die Waffenbrüderschaft der beiden Nationen<lb/>
im Krimkriege. Als die zweite Panik einen bedrohlichen Umfang annahm,<lb/>
begann in der Londoner City und in den Industriezentren des Nordens eine<lb/>
Gegenkampagne zur Herstellung freundschaftlicher Beziehungen. Richard Cobden,<lb/>
der allerdings kein Kabinettsminister war. wurde nach Paris entsandt; man<lb/>
schloß einen Handelsvertrag, und dieser leitete die erste &#x201E;sntents Loräiale" ein.<lb/>
Im Jahre 1896 erlebten wir den englisch-amerikanischen Konflikt, der durch<lb/>
den venezolanischen Grenzstreit hervorgerufen wurde. Das Einschreiten des<lb/>
Präsidenten Cleveland, der die Monroedoktrin in Frage gestellt sah, führte zu<lb/>
einer scharfen Krisis und zu leidenschaftlicher Erregung der öffentlichen Meinung.<lb/>
Kaum aber war der akute Konfliktsstoff beseitigt, als die englische Regierung<lb/>
eine Politik einschlug, die binnen weniger Jahre und zwar auf der Grundlage<lb/>
bedeutender Konzessionen, die Freundschaft begründete, die noch jetzt zwischen<lb/>
England und Amerika besteht. Schließlich ist auch die englisch-französische<lb/>
Annäherung im Anschluß an den Faschodastreit überraschend schnell gekommen!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2756"> Wir erkennen somit keinen Grund, der uns zwänge, an der Aufrichtigkeit<lb/>
einer englischen Politik zu zweifeln, die auf eine Verständigung mit Deutschland<lb/>
hinarbeitet, auch wenn die Entente mit Frankreich bestehen bleibt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2757" next="#ID_2758"> England hat sich seine Erdeulen und Freundschaften nicht wenig kosten<lb/>
lassen; sie sind tatsächlich so teuer zu stehen gekommen, daß es sie schon<lb/>
deshalb nicht leicht aufgeben könnte. England hat es zugelassen, daß Frankreich<lb/>
seine Stellung im Mittelmeer beträchtlich verstärkt und sich an der Nordwestküste<lb/>
von Afrika festgesetzt hat; es hat dadurch seine eigene Stellung im Mittelmeer<lb/>
geschwächt; die Annexion von Tripolis durch Italien kompliziert die Stellung<lb/>
Englands im Mittelmeer noch mehr. Lord Rosebern war der einzige englische<lb/>
Staatsmann, der 1904 öffentlich davor warnte, Marokko den Franzosen zu<lb/>
überlassen; außer den strategischen Vorteilen, die England in dem Abkommen<lb/>
von 1904 aufgab, opferte es auch seine Handelsinteressen in Marokko, deren<lb/>
Wiedergewinnung es nur der deutschen Marokkopolitik verdankt. Die Freund¬<lb/>
schaft mit Rußland hat England vielleicht noch mehr gekostet. Rußland zuliebe<lb/>
gab es in der Balkankrisis seine alte Freundschaft mit Österreich kurzer Hand<lb/>
preis. In dem Abkommen von 1907 gewährte es Rußland Vertragsrechte in<lb/>
Afghanistan und Tibet und gab ihm eine Handhabe, seinen politischen und<lb/>
wirtschaftlichen Einfluß in Nordpersien in einer Weise auszudehnen, die Ru߬<lb/>
lands Stellung Indien gegenüber durchaus zu Rußlands Gunsten verschiebt.<lb/>
Der Traum von einem Indischen Ozean unter britischer Flagge wird dadurch<lb/>
immer utopischer. Diese Freundschaften stellen somit eine Kapitalsanlage dar,<lb/>
die in Zukunft vielleicht noch größere Aufwendungen nötig machen wird. Sollte<lb/>
nun England all dies angelegte Kapital aufgeben und die teuer bezahlten<lb/>
Freundschaften mit Frankreich und Rußland, deren Stellung im Mittelmeer und<lb/>
in? mittleren Osten es selbst so bedeutend hat verstärken helfen, sich in das</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0590] Reichsspiegcl wenigen Jahren erlebt haben. Und wie endete diese Rivalität? Auf die erste Flottenpanik folgte fast unvermittelt die Waffenbrüderschaft der beiden Nationen im Krimkriege. Als die zweite Panik einen bedrohlichen Umfang annahm, begann in der Londoner City und in den Industriezentren des Nordens eine Gegenkampagne zur Herstellung freundschaftlicher Beziehungen. Richard Cobden, der allerdings kein Kabinettsminister war. wurde nach Paris entsandt; man schloß einen Handelsvertrag, und dieser leitete die erste „sntents Loräiale" ein. Im Jahre 1896 erlebten wir den englisch-amerikanischen Konflikt, der durch den venezolanischen Grenzstreit hervorgerufen wurde. Das Einschreiten des Präsidenten Cleveland, der die Monroedoktrin in Frage gestellt sah, führte zu einer scharfen Krisis und zu leidenschaftlicher Erregung der öffentlichen Meinung. Kaum aber war der akute Konfliktsstoff beseitigt, als die englische Regierung eine Politik einschlug, die binnen weniger Jahre und zwar auf der Grundlage bedeutender Konzessionen, die Freundschaft begründete, die noch jetzt zwischen England und Amerika besteht. Schließlich ist auch die englisch-französische Annäherung im Anschluß an den Faschodastreit überraschend schnell gekommen! Wir erkennen somit keinen Grund, der uns zwänge, an der Aufrichtigkeit einer englischen Politik zu zweifeln, die auf eine Verständigung mit Deutschland hinarbeitet, auch wenn die Entente mit Frankreich bestehen bleibt. England hat sich seine Erdeulen und Freundschaften nicht wenig kosten lassen; sie sind tatsächlich so teuer zu stehen gekommen, daß es sie schon deshalb nicht leicht aufgeben könnte. England hat es zugelassen, daß Frankreich seine Stellung im Mittelmeer beträchtlich verstärkt und sich an der Nordwestküste von Afrika festgesetzt hat; es hat dadurch seine eigene Stellung im Mittelmeer geschwächt; die Annexion von Tripolis durch Italien kompliziert die Stellung Englands im Mittelmeer noch mehr. Lord Rosebern war der einzige englische Staatsmann, der 1904 öffentlich davor warnte, Marokko den Franzosen zu überlassen; außer den strategischen Vorteilen, die England in dem Abkommen von 1904 aufgab, opferte es auch seine Handelsinteressen in Marokko, deren Wiedergewinnung es nur der deutschen Marokkopolitik verdankt. Die Freund¬ schaft mit Rußland hat England vielleicht noch mehr gekostet. Rußland zuliebe gab es in der Balkankrisis seine alte Freundschaft mit Österreich kurzer Hand preis. In dem Abkommen von 1907 gewährte es Rußland Vertragsrechte in Afghanistan und Tibet und gab ihm eine Handhabe, seinen politischen und wirtschaftlichen Einfluß in Nordpersien in einer Weise auszudehnen, die Ru߬ lands Stellung Indien gegenüber durchaus zu Rußlands Gunsten verschiebt. Der Traum von einem Indischen Ozean unter britischer Flagge wird dadurch immer utopischer. Diese Freundschaften stellen somit eine Kapitalsanlage dar, die in Zukunft vielleicht noch größere Aufwendungen nötig machen wird. Sollte nun England all dies angelegte Kapital aufgeben und die teuer bezahlten Freundschaften mit Frankreich und Rußland, deren Stellung im Mittelmeer und in? mittleren Osten es selbst so bedeutend hat verstärken helfen, sich in das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/590
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/590>, abgerufen am 29.12.2024.