Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.Reichsspiegel In Deutschland hat das abgelaufene Jahr eine fteudige Stimmung nicht Männer werden in Jahrzehnten, Nationen in Jahrhunderten. Aber während G. Cl. Reichsspiegel In Deutschland hat das abgelaufene Jahr eine fteudige Stimmung nicht Männer werden in Jahrzehnten, Nationen in Jahrhunderten. Aber während G. Cl. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0058" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320475"/> <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/> <p xml:id="ID_191"> In Deutschland hat das abgelaufene Jahr eine fteudige Stimmung nicht<lb/> aufkommen lassen. Was uns bezüglich der auswärtigen Politik am meisten<lb/> bedrückt, ist die Tatsache, daß wir bei der allgemeinen Verteilung der Erdober¬<lb/> fläche augenscheinlich schlechter fortkommen als die andern Nationen. Rußland<lb/> gewinnt sich neue Gebiete, der Habsburgerstaat konnte sich tüchtig gegen Süden<lb/> ausdehnen, Frankreich und England haben sich bei der Aufteilung Afrikas die<lb/> besten Stücke gesichert; sogar Italien und Spanien machten Anstrengungen ihr<lb/> Kolonialgebiet zu vergrößern; von Nordamerika und Japan gar nicht zusprechen!<lb/> Nur Deutschland muß sich begnügen mit dem, was vom Tische der Reichen<lb/> fällt. So obenhin betrachtet sieht das Bild allerdings kläglich ans. Bei näherem<lb/> Zusehen verliert es indessen seine grellen Farben, und wenn wir die Fassung<lb/> finden, uns auf historischen Boden zu stellen, so können wir sogar einige<lb/> beruhigende Töne entdecken. Es ist bei unserer Seelennot manche Stimmung<lb/> dabei, die nicht aus den Vorgängen auf der Weltbühne stammt, sondern durch<lb/> andere, tiefer liegende Verhältnisse bedingt wird. Der brave Michel, der kaum<lb/> dreißig Jahre lang über das große Wasser fährt, nachdem er zuvor sich sein<lb/> Heim zurechtgezimmert und erst während dieser dreißig Jahre Weltbezichungen<lb/> angeknüpft, glaubt heute schon sein Spiel verloren, weil er sich nicht in allen<lb/> Händeln und Problemen so zurechtfindet wie feine ältern Nachbaren, die sie<lb/> seit mehr als hundert Jahren bearbeiten. Gewiß, es krampft sich das Herz<lb/> zusammen, wenn man beobachtet, mit welcher Selbstverständlichkeit England heute<lb/> die Cnrenaika, morgen Koweit einsteckt, mit welcher Gelassenheit Nußland Persien<lb/> in Besitz nimmt, besonders, wenn man die jüngst geschaffenen Verhältnisse als<lb/> unabänderlich ansieht. Sind sie das aber?</p><lb/> <p xml:id="ID_192"> Männer werden in Jahrzehnten, Nationen in Jahrhunderten. Aber während<lb/> dem Einzelmenschen die Lebensdauer ziemlich bestimmt vorgeschrieben ist durch<lb/> die ihm bei der Geburt mitgegebenen Kräfte, kann jede Nation diese bis ins<lb/> unendliche verlängern durch die Pflege dieser Kräfte, die sich in ihrem Nach¬<lb/> wuchs dauernd erneuern. An uns selbst können wir die Wahrheit dieser Be¬<lb/> hauptung am besten nachprüfen. Daß wir heute sind trotz 1806 danken wir<lb/> denen von unsern Volksgenossen, die vor hundert und vor fünfzig Jahren die<lb/> Pflege und Heranbildung des Nachwuchses aus ihr Panier schrieben, welche die<lb/> Nation befreiten von allen Fesseln, die sie verkümmern hießen oder ihre Glieder<lb/> zur Auswanderung zwangen. Die Erfahrungen in der auswärtigen Politik<lb/> zeigen uns nicht, daß wir schwächer geworden, daß wir an Energie verloren,<lb/> sie lehren uns vielmehr, daß wir noch nicht stark genug sind, um die früher<lb/> herangereiften Rechts- und Machtverhältnisse in unsern Dienst zu stellen. Um<lb/> eine Politik, wie England sie treibt, sichren zu können, fehlt uns nicht nur die<lb/> Flotte; es fehlen uns auch die geographisch-strategischen Vorbedingungen, die wir<lb/> gezwungen sind durch eine um so stärkere Zentralstellung auszugleichen. Der<lb/> Allsbau der Zentralstellung aber liegt auf dem Gebiet der innern Politik.</p><lb/> <note type="byline"> G. Cl.</note><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0058]
Reichsspiegel
In Deutschland hat das abgelaufene Jahr eine fteudige Stimmung nicht
aufkommen lassen. Was uns bezüglich der auswärtigen Politik am meisten
bedrückt, ist die Tatsache, daß wir bei der allgemeinen Verteilung der Erdober¬
fläche augenscheinlich schlechter fortkommen als die andern Nationen. Rußland
gewinnt sich neue Gebiete, der Habsburgerstaat konnte sich tüchtig gegen Süden
ausdehnen, Frankreich und England haben sich bei der Aufteilung Afrikas die
besten Stücke gesichert; sogar Italien und Spanien machten Anstrengungen ihr
Kolonialgebiet zu vergrößern; von Nordamerika und Japan gar nicht zusprechen!
Nur Deutschland muß sich begnügen mit dem, was vom Tische der Reichen
fällt. So obenhin betrachtet sieht das Bild allerdings kläglich ans. Bei näherem
Zusehen verliert es indessen seine grellen Farben, und wenn wir die Fassung
finden, uns auf historischen Boden zu stellen, so können wir sogar einige
beruhigende Töne entdecken. Es ist bei unserer Seelennot manche Stimmung
dabei, die nicht aus den Vorgängen auf der Weltbühne stammt, sondern durch
andere, tiefer liegende Verhältnisse bedingt wird. Der brave Michel, der kaum
dreißig Jahre lang über das große Wasser fährt, nachdem er zuvor sich sein
Heim zurechtgezimmert und erst während dieser dreißig Jahre Weltbezichungen
angeknüpft, glaubt heute schon sein Spiel verloren, weil er sich nicht in allen
Händeln und Problemen so zurechtfindet wie feine ältern Nachbaren, die sie
seit mehr als hundert Jahren bearbeiten. Gewiß, es krampft sich das Herz
zusammen, wenn man beobachtet, mit welcher Selbstverständlichkeit England heute
die Cnrenaika, morgen Koweit einsteckt, mit welcher Gelassenheit Nußland Persien
in Besitz nimmt, besonders, wenn man die jüngst geschaffenen Verhältnisse als
unabänderlich ansieht. Sind sie das aber?
Männer werden in Jahrzehnten, Nationen in Jahrhunderten. Aber während
dem Einzelmenschen die Lebensdauer ziemlich bestimmt vorgeschrieben ist durch
die ihm bei der Geburt mitgegebenen Kräfte, kann jede Nation diese bis ins
unendliche verlängern durch die Pflege dieser Kräfte, die sich in ihrem Nach¬
wuchs dauernd erneuern. An uns selbst können wir die Wahrheit dieser Be¬
hauptung am besten nachprüfen. Daß wir heute sind trotz 1806 danken wir
denen von unsern Volksgenossen, die vor hundert und vor fünfzig Jahren die
Pflege und Heranbildung des Nachwuchses aus ihr Panier schrieben, welche die
Nation befreiten von allen Fesseln, die sie verkümmern hießen oder ihre Glieder
zur Auswanderung zwangen. Die Erfahrungen in der auswärtigen Politik
zeigen uns nicht, daß wir schwächer geworden, daß wir an Energie verloren,
sie lehren uns vielmehr, daß wir noch nicht stark genug sind, um die früher
herangereiften Rechts- und Machtverhältnisse in unsern Dienst zu stellen. Um
eine Politik, wie England sie treibt, sichren zu können, fehlt uns nicht nur die
Flotte; es fehlen uns auch die geographisch-strategischen Vorbedingungen, die wir
gezwungen sind durch eine um so stärkere Zentralstellung auszugleichen. Der
Allsbau der Zentralstellung aber liegt auf dem Gebiet der innern Politik.
G. Cl.
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