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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Franz Wcilors Martyrium

Der Onkel ist ein reicher rheinhessischer Weinhändler und tüchtiger Wingerts-
mann. Er hat Schliff und gute Manieren. Als junger Mann war er draußen
in der Welt. Das schleift an dem Menschen Ecken und Kanten ab, rundet,
poliert, macht biegsam und hellsichtig. Mit seiner Frau war es nicht anders.
AIs sie einmal ihren Bruder besuchte, hatte er die damalige Erzieherin und
Reisebegleiterin kennen gelernt und sich gewundert, wieviel praktische Erfahrungen
sich das Mädchen auf seinen Reisen gesammelt hatte. Wie die zu plaudern
wußte von französischem und portugiesischem Weinbau. Und wie sie in ihrem
ganzen Benehmen fraulich und doch energisch und klug war.

Und der alte Herrgott wollte so zwei Prachtstücke nicht umsonst gezüchtet
haben. Die sollten ein kerniger Edelstamm werden zur Erhaltung guter kräftiger
Art. Da gab er ihnen die Liebe. Sie heirateten sich, und aus der Gouvernante
adliger Kinder wurde eine prächtige Wirtschafterin. Anfangs passierten ihr ja
allerhand Drolligkeiten. Aber dann lachten sie beide, und er lehrte sie, was
sie wissen und können mußte. Es war nicht immer leicht. Doch ein fröhliches
Eheglück oder eine glückliche Ehefröhlichkeit ist ein gesunder Boden, auf dem
alles gut gedeiht.

Zu diesem Paare wollte Franz fliehen.

Wie er nach seinem Anklopfen und ihrem Herein die Tür öffnet, sieht er
Onkel und Tante und die drei Vettern beim Nachtessen fitzen.

"Eil" ruft die Tante, "was en späte liewe Besuch!"

Und der Onkel gleichzeitig:

"Eijajeijajei! Was fibre dann unsern Franz noch emal so spät zu uns?"

Franz ist befangen und entgegnet nur:

"El, ich wollt nur noch e bißje bei eich bleiwe!"

Er weiß sich nun selber keine Rechenschaft zu geben, warum er eigentlich
gekommen ist. Er begreift jetzt selbst nicht mehr, wie er so unüberlegt aus
dem Elternhause fortlaufen konnte. Denn dorthin zurück muß er ja doch wieder.
Solange ein Blitz braucht, um über den Himmel zu Zickzacken, steigt und ver¬
sinkt wieder in seinem Herzen ein knabenhafter Abenteurerplan. Er will mit
den Zigeunern entweichen, die vorm Dorfe lagern. Aber da sagt die Tante:

"Na, komm her, Franz, setz dich noch en bißje zu uns!"

Franz tritt in den Lichtkreis. Sie haben schon die Lampe brennen. Frau
Elisabeth und ihr Mann bemerken die stark geröteten vier Striche auf der
Wange des Kindes. Sie sehen sich mit Bedeutung an; nun können sie sich
das späte Kommen erklären. Im Herzen der Frau wallt warm die Mütter¬
lichkeit auf, und sie zieht den kleinen Neffen an sich. Er widerstrebt leise und
sieht scheu auf den Mann. Frau Elisabeth versteht. Diese zarte Seele kann
sich nicht jedem preisgeben, das gemarterte Kinderherz sucht eine weiche Mutter¬
seele. Sie stößt den Mann mit dem Fuße an und deutet mit den Blicken nach
der Tür.

Die Buben, drei-, sieben- und elfjährig, lärmen:


Franz Wcilors Martyrium

Der Onkel ist ein reicher rheinhessischer Weinhändler und tüchtiger Wingerts-
mann. Er hat Schliff und gute Manieren. Als junger Mann war er draußen
in der Welt. Das schleift an dem Menschen Ecken und Kanten ab, rundet,
poliert, macht biegsam und hellsichtig. Mit seiner Frau war es nicht anders.
AIs sie einmal ihren Bruder besuchte, hatte er die damalige Erzieherin und
Reisebegleiterin kennen gelernt und sich gewundert, wieviel praktische Erfahrungen
sich das Mädchen auf seinen Reisen gesammelt hatte. Wie die zu plaudern
wußte von französischem und portugiesischem Weinbau. Und wie sie in ihrem
ganzen Benehmen fraulich und doch energisch und klug war.

Und der alte Herrgott wollte so zwei Prachtstücke nicht umsonst gezüchtet
haben. Die sollten ein kerniger Edelstamm werden zur Erhaltung guter kräftiger
Art. Da gab er ihnen die Liebe. Sie heirateten sich, und aus der Gouvernante
adliger Kinder wurde eine prächtige Wirtschafterin. Anfangs passierten ihr ja
allerhand Drolligkeiten. Aber dann lachten sie beide, und er lehrte sie, was
sie wissen und können mußte. Es war nicht immer leicht. Doch ein fröhliches
Eheglück oder eine glückliche Ehefröhlichkeit ist ein gesunder Boden, auf dem
alles gut gedeiht.

Zu diesem Paare wollte Franz fliehen.

Wie er nach seinem Anklopfen und ihrem Herein die Tür öffnet, sieht er
Onkel und Tante und die drei Vettern beim Nachtessen fitzen.

„Eil" ruft die Tante, „was en späte liewe Besuch!"

Und der Onkel gleichzeitig:

„Eijajeijajei! Was fibre dann unsern Franz noch emal so spät zu uns?"

Franz ist befangen und entgegnet nur:

„El, ich wollt nur noch e bißje bei eich bleiwe!"

Er weiß sich nun selber keine Rechenschaft zu geben, warum er eigentlich
gekommen ist. Er begreift jetzt selbst nicht mehr, wie er so unüberlegt aus
dem Elternhause fortlaufen konnte. Denn dorthin zurück muß er ja doch wieder.
Solange ein Blitz braucht, um über den Himmel zu Zickzacken, steigt und ver¬
sinkt wieder in seinem Herzen ein knabenhafter Abenteurerplan. Er will mit
den Zigeunern entweichen, die vorm Dorfe lagern. Aber da sagt die Tante:

„Na, komm her, Franz, setz dich noch en bißje zu uns!"

Franz tritt in den Lichtkreis. Sie haben schon die Lampe brennen. Frau
Elisabeth und ihr Mann bemerken die stark geröteten vier Striche auf der
Wange des Kindes. Sie sehen sich mit Bedeutung an; nun können sie sich
das späte Kommen erklären. Im Herzen der Frau wallt warm die Mütter¬
lichkeit auf, und sie zieht den kleinen Neffen an sich. Er widerstrebt leise und
sieht scheu auf den Mann. Frau Elisabeth versteht. Diese zarte Seele kann
sich nicht jedem preisgeben, das gemarterte Kinderherz sucht eine weiche Mutter¬
seele. Sie stößt den Mann mit dem Fuße an und deutet mit den Blicken nach
der Tür.

Die Buben, drei-, sieben- und elfjährig, lärmen:


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[0579] Franz Wcilors Martyrium Der Onkel ist ein reicher rheinhessischer Weinhändler und tüchtiger Wingerts- mann. Er hat Schliff und gute Manieren. Als junger Mann war er draußen in der Welt. Das schleift an dem Menschen Ecken und Kanten ab, rundet, poliert, macht biegsam und hellsichtig. Mit seiner Frau war es nicht anders. AIs sie einmal ihren Bruder besuchte, hatte er die damalige Erzieherin und Reisebegleiterin kennen gelernt und sich gewundert, wieviel praktische Erfahrungen sich das Mädchen auf seinen Reisen gesammelt hatte. Wie die zu plaudern wußte von französischem und portugiesischem Weinbau. Und wie sie in ihrem ganzen Benehmen fraulich und doch energisch und klug war. Und der alte Herrgott wollte so zwei Prachtstücke nicht umsonst gezüchtet haben. Die sollten ein kerniger Edelstamm werden zur Erhaltung guter kräftiger Art. Da gab er ihnen die Liebe. Sie heirateten sich, und aus der Gouvernante adliger Kinder wurde eine prächtige Wirtschafterin. Anfangs passierten ihr ja allerhand Drolligkeiten. Aber dann lachten sie beide, und er lehrte sie, was sie wissen und können mußte. Es war nicht immer leicht. Doch ein fröhliches Eheglück oder eine glückliche Ehefröhlichkeit ist ein gesunder Boden, auf dem alles gut gedeiht. Zu diesem Paare wollte Franz fliehen. Wie er nach seinem Anklopfen und ihrem Herein die Tür öffnet, sieht er Onkel und Tante und die drei Vettern beim Nachtessen fitzen. „Eil" ruft die Tante, „was en späte liewe Besuch!" Und der Onkel gleichzeitig: „Eijajeijajei! Was fibre dann unsern Franz noch emal so spät zu uns?" Franz ist befangen und entgegnet nur: „El, ich wollt nur noch e bißje bei eich bleiwe!" Er weiß sich nun selber keine Rechenschaft zu geben, warum er eigentlich gekommen ist. Er begreift jetzt selbst nicht mehr, wie er so unüberlegt aus dem Elternhause fortlaufen konnte. Denn dorthin zurück muß er ja doch wieder. Solange ein Blitz braucht, um über den Himmel zu Zickzacken, steigt und ver¬ sinkt wieder in seinem Herzen ein knabenhafter Abenteurerplan. Er will mit den Zigeunern entweichen, die vorm Dorfe lagern. Aber da sagt die Tante: „Na, komm her, Franz, setz dich noch en bißje zu uns!" Franz tritt in den Lichtkreis. Sie haben schon die Lampe brennen. Frau Elisabeth und ihr Mann bemerken die stark geröteten vier Striche auf der Wange des Kindes. Sie sehen sich mit Bedeutung an; nun können sie sich das späte Kommen erklären. Im Herzen der Frau wallt warm die Mütter¬ lichkeit auf, und sie zieht den kleinen Neffen an sich. Er widerstrebt leise und sieht scheu auf den Mann. Frau Elisabeth versteht. Diese zarte Seele kann sich nicht jedem preisgeben, das gemarterte Kinderherz sucht eine weiche Mutter¬ seele. Sie stößt den Mann mit dem Fuße an und deutet mit den Blicken nach der Tür. Die Buben, drei-, sieben- und elfjährig, lärmen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/579>, abgerufen am 27.09.2024.