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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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reichen Materials, das ihr zur Verfügung steht, und unter stetiger Beratung der
Fachmänner die Fragen vollends zu klären und dann alsbald zur Bearbeitung
der Pläne zu schreiten."

Obgleich dieses geplante Institut wohl in erster Linie naturwissenschaftlich¬
biologisch sein wird, wie dies auch in dem Aufsatz von Adolf Harnack zum
Vorschein kommt, muß doch in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden,
daß die biologische Auffassung besonders im letzten Jahrzehnt auch auf das
Gebiet der Familienforschung und Vererbungslehre beim Menschen übergegangen
ist*), und daß zur Ergänzung der entwicklungsgeschichtlichen Studien im Gebiet
der Keimzellenlehre eine wissenschaftliche Untersuchung der Vererbungsverhältnisse
in den menschlichen Familien von fundamentaler Bedeutung für das Staats¬
leben ist. Während die genealogische Behandlung menschlicher Abstammung
lange Zeit lediglich eine Spezialbeschäftigung innerhalb einzelner Familien war,
sind neuerdings immer mehr die Beziehungen zur Vererbungslehre im allgemeinen
in den Vordergrund getreten. Dabei hat die Psychiatrie eine sehr wesentliche
Arbeit geleistet, indem sie das Auftreten von Geisteskrankheiten und Neurosen
innerhalb der Gruppen von Blutsverwandten untersuchte, indem sie serner,
abgesehen von der bloßen quantitativen Bestimmung der Fälle von geistigen
Störungen in den Familien, zu einer qualitativen Untersuchung der Krankheits¬
formen überging, ferner auch die Geistig-Normalen auf die Frage familiärer
Belastung untersuchte und schließlich auf dem Boden der beobachtenden Psychologie
immer mehr zu einer systematischen Erforschung der inneren Anlage gelangte.

Dabei stellten sich immer engere Beziehungen zwischen den Erscheinungen
im Gebiet der psychiatrischen Vererbungslehre und den allgemeinen biologischen
Vorgängen bei Menschen und Tieren heraus, so daß man schon jetzt eine
wirkliche biologische Behandlung des ganzen Gebietes ohne genaueste Unter¬
suchung der Abstammungs- und Entwicklungsverhältnisse menschlicher Familien
nicht durchführen kann. Es hat sich infolgedessen im Gebiet der Vererbungs¬
lehre beim Menschen neuerdings eine immer engere Arbeitsgemeinschaft zwischen
Genealogen, Psychiatern, Naturwissenschaftern und zum Teil auch Historikern
vollzogen, wie sie bei dein ersten Kurs über Familienforschung und Vererbungs¬
lehre, der in Gießen im Jahre 1908 stattfand, hervorgetreten und zum Teil
veranlaßt worden ist. Dem gleichen Zwecke soll der vom 9. bis 13. April d. Is.
in Gießen stattfindende zweite Kurs mit Kongreß dienen, dessen Thema im
Sinne meiner schon früher vorhandenen Bestrebungen in der Richtung der
Regenerationslehre erweitert worden ist"*).

Im Hinblick auf den Plan der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, ein Institut
für Entwicklungs- und Vererbungslehre zu schaffen, frägt es sich nun, wie weit
dabei die Vererbungslehre beim Menschen im Sinne einer systematischen Fcunilien-




Vgl. Summer: "Familienforschung und Vererbungslehre", 1L04, Verlag von A, Barth
in Leipzig,
""') Programme können vom Verfasser bezogen werden.
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reichen Materials, das ihr zur Verfügung steht, und unter stetiger Beratung der
Fachmänner die Fragen vollends zu klären und dann alsbald zur Bearbeitung
der Pläne zu schreiten."

Obgleich dieses geplante Institut wohl in erster Linie naturwissenschaftlich¬
biologisch sein wird, wie dies auch in dem Aufsatz von Adolf Harnack zum
Vorschein kommt, muß doch in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden,
daß die biologische Auffassung besonders im letzten Jahrzehnt auch auf das
Gebiet der Familienforschung und Vererbungslehre beim Menschen übergegangen
ist*), und daß zur Ergänzung der entwicklungsgeschichtlichen Studien im Gebiet
der Keimzellenlehre eine wissenschaftliche Untersuchung der Vererbungsverhältnisse
in den menschlichen Familien von fundamentaler Bedeutung für das Staats¬
leben ist. Während die genealogische Behandlung menschlicher Abstammung
lange Zeit lediglich eine Spezialbeschäftigung innerhalb einzelner Familien war,
sind neuerdings immer mehr die Beziehungen zur Vererbungslehre im allgemeinen
in den Vordergrund getreten. Dabei hat die Psychiatrie eine sehr wesentliche
Arbeit geleistet, indem sie das Auftreten von Geisteskrankheiten und Neurosen
innerhalb der Gruppen von Blutsverwandten untersuchte, indem sie serner,
abgesehen von der bloßen quantitativen Bestimmung der Fälle von geistigen
Störungen in den Familien, zu einer qualitativen Untersuchung der Krankheits¬
formen überging, ferner auch die Geistig-Normalen auf die Frage familiärer
Belastung untersuchte und schließlich auf dem Boden der beobachtenden Psychologie
immer mehr zu einer systematischen Erforschung der inneren Anlage gelangte.

Dabei stellten sich immer engere Beziehungen zwischen den Erscheinungen
im Gebiet der psychiatrischen Vererbungslehre und den allgemeinen biologischen
Vorgängen bei Menschen und Tieren heraus, so daß man schon jetzt eine
wirkliche biologische Behandlung des ganzen Gebietes ohne genaueste Unter¬
suchung der Abstammungs- und Entwicklungsverhältnisse menschlicher Familien
nicht durchführen kann. Es hat sich infolgedessen im Gebiet der Vererbungs¬
lehre beim Menschen neuerdings eine immer engere Arbeitsgemeinschaft zwischen
Genealogen, Psychiatern, Naturwissenschaftern und zum Teil auch Historikern
vollzogen, wie sie bei dein ersten Kurs über Familienforschung und Vererbungs¬
lehre, der in Gießen im Jahre 1908 stattfand, hervorgetreten und zum Teil
veranlaßt worden ist. Dem gleichen Zwecke soll der vom 9. bis 13. April d. Is.
in Gießen stattfindende zweite Kurs mit Kongreß dienen, dessen Thema im
Sinne meiner schon früher vorhandenen Bestrebungen in der Richtung der
Regenerationslehre erweitert worden ist"*).

Im Hinblick auf den Plan der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, ein Institut
für Entwicklungs- und Vererbungslehre zu schaffen, frägt es sich nun, wie weit
dabei die Vererbungslehre beim Menschen im Sinne einer systematischen Fcunilien-




Vgl. Summer: „Familienforschung und Vererbungslehre", 1L04, Verlag von A, Barth
in Leipzig,
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[0572] Ein Rcichsinstitut für Fcmnlicnforschung reichen Materials, das ihr zur Verfügung steht, und unter stetiger Beratung der Fachmänner die Fragen vollends zu klären und dann alsbald zur Bearbeitung der Pläne zu schreiten." Obgleich dieses geplante Institut wohl in erster Linie naturwissenschaftlich¬ biologisch sein wird, wie dies auch in dem Aufsatz von Adolf Harnack zum Vorschein kommt, muß doch in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, daß die biologische Auffassung besonders im letzten Jahrzehnt auch auf das Gebiet der Familienforschung und Vererbungslehre beim Menschen übergegangen ist*), und daß zur Ergänzung der entwicklungsgeschichtlichen Studien im Gebiet der Keimzellenlehre eine wissenschaftliche Untersuchung der Vererbungsverhältnisse in den menschlichen Familien von fundamentaler Bedeutung für das Staats¬ leben ist. Während die genealogische Behandlung menschlicher Abstammung lange Zeit lediglich eine Spezialbeschäftigung innerhalb einzelner Familien war, sind neuerdings immer mehr die Beziehungen zur Vererbungslehre im allgemeinen in den Vordergrund getreten. Dabei hat die Psychiatrie eine sehr wesentliche Arbeit geleistet, indem sie das Auftreten von Geisteskrankheiten und Neurosen innerhalb der Gruppen von Blutsverwandten untersuchte, indem sie serner, abgesehen von der bloßen quantitativen Bestimmung der Fälle von geistigen Störungen in den Familien, zu einer qualitativen Untersuchung der Krankheits¬ formen überging, ferner auch die Geistig-Normalen auf die Frage familiärer Belastung untersuchte und schließlich auf dem Boden der beobachtenden Psychologie immer mehr zu einer systematischen Erforschung der inneren Anlage gelangte. Dabei stellten sich immer engere Beziehungen zwischen den Erscheinungen im Gebiet der psychiatrischen Vererbungslehre und den allgemeinen biologischen Vorgängen bei Menschen und Tieren heraus, so daß man schon jetzt eine wirkliche biologische Behandlung des ganzen Gebietes ohne genaueste Unter¬ suchung der Abstammungs- und Entwicklungsverhältnisse menschlicher Familien nicht durchführen kann. Es hat sich infolgedessen im Gebiet der Vererbungs¬ lehre beim Menschen neuerdings eine immer engere Arbeitsgemeinschaft zwischen Genealogen, Psychiatern, Naturwissenschaftern und zum Teil auch Historikern vollzogen, wie sie bei dein ersten Kurs über Familienforschung und Vererbungs¬ lehre, der in Gießen im Jahre 1908 stattfand, hervorgetreten und zum Teil veranlaßt worden ist. Dem gleichen Zwecke soll der vom 9. bis 13. April d. Is. in Gießen stattfindende zweite Kurs mit Kongreß dienen, dessen Thema im Sinne meiner schon früher vorhandenen Bestrebungen in der Richtung der Regenerationslehre erweitert worden ist"*). Im Hinblick auf den Plan der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, ein Institut für Entwicklungs- und Vererbungslehre zu schaffen, frägt es sich nun, wie weit dabei die Vererbungslehre beim Menschen im Sinne einer systematischen Fcunilien- Vgl. Summer: „Familienforschung und Vererbungslehre", 1L04, Verlag von A, Barth in Leipzig, ""') Programme können vom Verfasser bezogen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/572>, abgerufen am 27.09.2024.