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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die deutsche Malerei der Gegenwart

Der große Pendel scheint wieder zu einer neuen Wendung auszuholen;
auf die naturalistische soll eine idealistische Strömung folgen. Es ist sicherlich
für viele schwer, in dem scheinbar regellosen Farbenhaufen etwas Idealistisches
zu entdecken. Und doch ist es so: die starke Konzentration der Stimmung, die
poetische Vorstellungskraft der starken und schönen Farben stehen in unbedingtem
Gegensatz zu dem wahlloser Naturalismus der früheren, noch nicht überwundenen
Epoche. Allerdings sind Franzosen wie Manguin, Puy, Flandrin, van Dongen
in dem sinnlichen Reiz schönfarbiger Flächen kultivierter als unsere jungen
Deutschen, die sich häufig in formelhaften Abkürzungen der Töne und Verzeich¬
nungen nicht genug tun können (man denke an Rotte und Pechstein und ihre
Anhänger). Aber es bricht hier doch schon oft, wie bei Otto Müller, Germ und
Boetticher, ein hohes Schönheitsempfinden durch, und die größere Herbigkeit der
Deutschen, der Ernst, mit dem sie den neuen Aufgaben nachgehen, bürgt für
eine tiefe und fruchtbringende Auffassung bei ihnen. Dazu kommt, daß bei uns,
nicht aber in Frankreich, diese malerische Bewegung aufs glücklichste mit der
architektonisch-raumkünstlerischen zusammengeht. Gute Gemälde der Jüngsten
bilden schon heute den festlichsten und heitersten Schmuck moderner Wohnräume,
und wohin ihre Kunst in Verbindung mit der Architektur führt, erkennt man
an den Fresken Ferdinand Hodlers.

Hodler ist auf anderen Wegen zu seinem heutigen Monumentalstil gelangt,
aber man kann dennoch in ihm den Größten und Eigenwilligsten der Expressionisten
erkennen. Denn seine Kunst ist ganz Ausdruck, innerlichste Seelendarstellung,
und zugleich ganz dekorativ, von einem ungeheuren Rhythmus der Linie erfüllt.
Durch die Betonung psychischer Erlebnisse und die immer mehr gesteigerte Ver¬
stärkung. Vereinfachung ihrer Ausdrucksformen, gelangte er zu der wuchtigen
Teilung der Bildfläche, zu einem von Giotto und Signorelli zugleich geschulten
Rhythmus der Körperbewegungen, der mit innerer Notwendigkeit zum Monu¬
mentalen führte. Seine Fresken in Zürich, Jena usf. stehen an Größe der
Charaktere und an dekorativer Schönheit nicht nur hoch über Erker und Besnard,
sondern sie stehen auch über Puvis de Chavannes und Marsch. Sie sind neu¬
zeitlicher empfunden. Ihre Linie ist ebenso bestimmt wie ihre Farbe hell. Und
beides, das Hell-Dekorative wie die Fülle des Ausdrucks, stellt sie den Bestrebungen
der "Jüngsten" an die Seite.

Zu den engeren Gesinnungsgenossen Hodlers gehören die Schweizer Amiet
und Giacometti, die über den Neo-Impressionismus hinausgelangt sind zu einer
expressionistisch freien Auffassung.

Noch eine Gruppe gliedert sich an die Erscheinungen Hodlers und Marees
an, die ausschließlich monumentale Ziele verfolgt und den Menschen, vor allem
den nackten, in den Mittelpunkt ihrer Kunst stellt. Der Anreger dieser Maler,
deren Form in weiterem Sinne die Fortführung des Mar6esschen Werkes bedeuten
kann, ist Schmidt-Reutte gewesen. Er selbst gelangte kaum zu abgeschlossenen
Werken und ist über großen Aktkompositionen gestorben. Aber seine Kunst, mit


Die deutsche Malerei der Gegenwart

Der große Pendel scheint wieder zu einer neuen Wendung auszuholen;
auf die naturalistische soll eine idealistische Strömung folgen. Es ist sicherlich
für viele schwer, in dem scheinbar regellosen Farbenhaufen etwas Idealistisches
zu entdecken. Und doch ist es so: die starke Konzentration der Stimmung, die
poetische Vorstellungskraft der starken und schönen Farben stehen in unbedingtem
Gegensatz zu dem wahlloser Naturalismus der früheren, noch nicht überwundenen
Epoche. Allerdings sind Franzosen wie Manguin, Puy, Flandrin, van Dongen
in dem sinnlichen Reiz schönfarbiger Flächen kultivierter als unsere jungen
Deutschen, die sich häufig in formelhaften Abkürzungen der Töne und Verzeich¬
nungen nicht genug tun können (man denke an Rotte und Pechstein und ihre
Anhänger). Aber es bricht hier doch schon oft, wie bei Otto Müller, Germ und
Boetticher, ein hohes Schönheitsempfinden durch, und die größere Herbigkeit der
Deutschen, der Ernst, mit dem sie den neuen Aufgaben nachgehen, bürgt für
eine tiefe und fruchtbringende Auffassung bei ihnen. Dazu kommt, daß bei uns,
nicht aber in Frankreich, diese malerische Bewegung aufs glücklichste mit der
architektonisch-raumkünstlerischen zusammengeht. Gute Gemälde der Jüngsten
bilden schon heute den festlichsten und heitersten Schmuck moderner Wohnräume,
und wohin ihre Kunst in Verbindung mit der Architektur führt, erkennt man
an den Fresken Ferdinand Hodlers.

Hodler ist auf anderen Wegen zu seinem heutigen Monumentalstil gelangt,
aber man kann dennoch in ihm den Größten und Eigenwilligsten der Expressionisten
erkennen. Denn seine Kunst ist ganz Ausdruck, innerlichste Seelendarstellung,
und zugleich ganz dekorativ, von einem ungeheuren Rhythmus der Linie erfüllt.
Durch die Betonung psychischer Erlebnisse und die immer mehr gesteigerte Ver¬
stärkung. Vereinfachung ihrer Ausdrucksformen, gelangte er zu der wuchtigen
Teilung der Bildfläche, zu einem von Giotto und Signorelli zugleich geschulten
Rhythmus der Körperbewegungen, der mit innerer Notwendigkeit zum Monu¬
mentalen führte. Seine Fresken in Zürich, Jena usf. stehen an Größe der
Charaktere und an dekorativer Schönheit nicht nur hoch über Erker und Besnard,
sondern sie stehen auch über Puvis de Chavannes und Marsch. Sie sind neu¬
zeitlicher empfunden. Ihre Linie ist ebenso bestimmt wie ihre Farbe hell. Und
beides, das Hell-Dekorative wie die Fülle des Ausdrucks, stellt sie den Bestrebungen
der „Jüngsten" an die Seite.

Zu den engeren Gesinnungsgenossen Hodlers gehören die Schweizer Amiet
und Giacometti, die über den Neo-Impressionismus hinausgelangt sind zu einer
expressionistisch freien Auffassung.

Noch eine Gruppe gliedert sich an die Erscheinungen Hodlers und Marees
an, die ausschließlich monumentale Ziele verfolgt und den Menschen, vor allem
den nackten, in den Mittelpunkt ihrer Kunst stellt. Der Anreger dieser Maler,
deren Form in weiterem Sinne die Fortführung des Mar6esschen Werkes bedeuten
kann, ist Schmidt-Reutte gewesen. Er selbst gelangte kaum zu abgeschlossenen
Werken und ist über großen Aktkompositionen gestorben. Aber seine Kunst, mit


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[0570] Die deutsche Malerei der Gegenwart Der große Pendel scheint wieder zu einer neuen Wendung auszuholen; auf die naturalistische soll eine idealistische Strömung folgen. Es ist sicherlich für viele schwer, in dem scheinbar regellosen Farbenhaufen etwas Idealistisches zu entdecken. Und doch ist es so: die starke Konzentration der Stimmung, die poetische Vorstellungskraft der starken und schönen Farben stehen in unbedingtem Gegensatz zu dem wahlloser Naturalismus der früheren, noch nicht überwundenen Epoche. Allerdings sind Franzosen wie Manguin, Puy, Flandrin, van Dongen in dem sinnlichen Reiz schönfarbiger Flächen kultivierter als unsere jungen Deutschen, die sich häufig in formelhaften Abkürzungen der Töne und Verzeich¬ nungen nicht genug tun können (man denke an Rotte und Pechstein und ihre Anhänger). Aber es bricht hier doch schon oft, wie bei Otto Müller, Germ und Boetticher, ein hohes Schönheitsempfinden durch, und die größere Herbigkeit der Deutschen, der Ernst, mit dem sie den neuen Aufgaben nachgehen, bürgt für eine tiefe und fruchtbringende Auffassung bei ihnen. Dazu kommt, daß bei uns, nicht aber in Frankreich, diese malerische Bewegung aufs glücklichste mit der architektonisch-raumkünstlerischen zusammengeht. Gute Gemälde der Jüngsten bilden schon heute den festlichsten und heitersten Schmuck moderner Wohnräume, und wohin ihre Kunst in Verbindung mit der Architektur führt, erkennt man an den Fresken Ferdinand Hodlers. Hodler ist auf anderen Wegen zu seinem heutigen Monumentalstil gelangt, aber man kann dennoch in ihm den Größten und Eigenwilligsten der Expressionisten erkennen. Denn seine Kunst ist ganz Ausdruck, innerlichste Seelendarstellung, und zugleich ganz dekorativ, von einem ungeheuren Rhythmus der Linie erfüllt. Durch die Betonung psychischer Erlebnisse und die immer mehr gesteigerte Ver¬ stärkung. Vereinfachung ihrer Ausdrucksformen, gelangte er zu der wuchtigen Teilung der Bildfläche, zu einem von Giotto und Signorelli zugleich geschulten Rhythmus der Körperbewegungen, der mit innerer Notwendigkeit zum Monu¬ mentalen führte. Seine Fresken in Zürich, Jena usf. stehen an Größe der Charaktere und an dekorativer Schönheit nicht nur hoch über Erker und Besnard, sondern sie stehen auch über Puvis de Chavannes und Marsch. Sie sind neu¬ zeitlicher empfunden. Ihre Linie ist ebenso bestimmt wie ihre Farbe hell. Und beides, das Hell-Dekorative wie die Fülle des Ausdrucks, stellt sie den Bestrebungen der „Jüngsten" an die Seite. Zu den engeren Gesinnungsgenossen Hodlers gehören die Schweizer Amiet und Giacometti, die über den Neo-Impressionismus hinausgelangt sind zu einer expressionistisch freien Auffassung. Noch eine Gruppe gliedert sich an die Erscheinungen Hodlers und Marees an, die ausschließlich monumentale Ziele verfolgt und den Menschen, vor allem den nackten, in den Mittelpunkt ihrer Kunst stellt. Der Anreger dieser Maler, deren Form in weiterem Sinne die Fortführung des Mar6esschen Werkes bedeuten kann, ist Schmidt-Reutte gewesen. Er selbst gelangte kaum zu abgeschlossenen Werken und ist über großen Aktkompositionen gestorben. Aber seine Kunst, mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/570>, abgerufen am 27.09.2024.