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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

ergreifenden Ausdruck, Sie, die alle sinn¬
lichen und geistigen Genüsse erschöpft hat
ohne der entsetzlichsten inneren Verödung
wehren zu können, auch sie fühlt das Gift
der Zeit: e'ehr la pnvation an sentiment,
aveo la clouleur 6o us pouvoir s'su passer.
Und fast achtzigjährig, halbblind, liebt sie
zum erstenmal mit dem Herzen, überstürzt
und besinnungslos, wie Verschmachtende
trinken, liebt sie in Verzweiflung und hoff¬
nungslos und ist dennoch selig, weil sie liebt.
Reben ihr aber steht, wie der Geist der neuen
Zeit Rousseaus, steht neben den großen Lie¬
benden aller Zeiten Julie de Lespmasse, die
in ihrem Leben keinen fand, der der rückhalt¬
losen LieveSfähigkeit ihres unersättlichen Her¬
zens hätte standhalten können. n'uims
neu cle es c>ni ost Z, äemi, ac es c>ni est
incZecis, 6e ce qui n'est am'un peu".

Alfred Schier

Der Mensch will lieber für schlecht als für
dumm gelten. Keinen Mangel gibt er weniger
gern zu, als die eigene Dummheit, selbst wenn
er sie erkennt, und wenn er am härtesten treffen
will, sucht er dem Gegner den Stempel der
Dummheit aufzuprägen. Wer ist dumm?
Welche Psychologische Kriterien geben das Recht,
ein Individuum der breiten Zone intellek-
tuellerUnzülänglichkeit zuzuweisen? Nach oben,
gegen die Durchschuittsbegabung und nach
unten, gegen den pathologischen Schwachsinn
hin verwischen sich ihre Grenzen. Die Be¬
urteilung ist im Eiuzelfnll erschwert, einerseits

[Spaltenumbruch]

weil neben der allgemeinen auch eine partielle
Dummheit besteht und anderseits weil die
Lebensverhältnisse, das Alter, das Geschlecht,
die Nassezugehörigkeit des Individuums stets
in Rechnung zu stellen sind, so gestatten z. B.
intellektuelle Leistungen, die beim gebildeten
Städter den Dummkopf verraten, beim Bauer
nicht den gleichen Schluß. Und haben wir
einmal die Dummheit gleichsam in der Rein¬
kultur vor uns, so erhebt sich die bedeutsame
Frage nack ihrer organischen Grundlage,
ihrer Vererbbarkeit usw. So gibt die Dumm¬
heit eine Fülle von Problemen auf, deren
Bearbeitung nur mit dem Rüstzeug der
modernen Psychologisch - biologischen Wissen¬
schaft in Angriff genommen werden kann, aber
auch große praktische Menschenkenntnis voraus¬
setzt. Wenn daher derbekannteMünchnerNerven-
arzt Leopold Loewenfeld ein Buch "Wer
die Dummhert" (eine Umschau im Gebiete
menschlicher Unzulänglichkeit, Verlag von I. F.
Bergmann, Wiesbaden, S Mark) veröffentlicht,
das zwar nicht den Anspruch erhebt, eine er¬
schöpfende oder auch nur systematische Dar¬
stellung des Gegenstandes zu bieten, aber in
fesselnder Weise in großen Zügen ein Bild
der Dummheit und ihrer Bedeutung im Leben
zeichnet, so sei dies mit Freuden begrüßt und
unseren Lesern gern zur Kenntnis gebracht.
Das Werk ist uicht nur unterhaltend, sondern
auch belehrend, dies gilt besonders von den
beiden letzten Kapiteln, die von dem intellek¬
tuellen Fortschritt der Menschheit und vom
Kampf gegen die Dummheit handeln.

[Ende Spaltensatz]


Maßgebliches und Unmaßgebliches

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ergreifenden Ausdruck, Sie, die alle sinn¬
lichen und geistigen Genüsse erschöpft hat
ohne der entsetzlichsten inneren Verödung
wehren zu können, auch sie fühlt das Gift
der Zeit: e'ehr la pnvation an sentiment,
aveo la clouleur 6o us pouvoir s'su passer.
Und fast achtzigjährig, halbblind, liebt sie
zum erstenmal mit dem Herzen, überstürzt
und besinnungslos, wie Verschmachtende
trinken, liebt sie in Verzweiflung und hoff¬
nungslos und ist dennoch selig, weil sie liebt.
Reben ihr aber steht, wie der Geist der neuen
Zeit Rousseaus, steht neben den großen Lie¬
benden aller Zeiten Julie de Lespmasse, die
in ihrem Leben keinen fand, der der rückhalt¬
losen LieveSfähigkeit ihres unersättlichen Her¬
zens hätte standhalten können. n'uims
neu cle es c>ni ost Z, äemi, ac es c>ni est
incZecis, 6e ce qui n'est am'un peu".

Alfred Schier

Der Mensch will lieber für schlecht als für
dumm gelten. Keinen Mangel gibt er weniger
gern zu, als die eigene Dummheit, selbst wenn
er sie erkennt, und wenn er am härtesten treffen
will, sucht er dem Gegner den Stempel der
Dummheit aufzuprägen. Wer ist dumm?
Welche Psychologische Kriterien geben das Recht,
ein Individuum der breiten Zone intellek-
tuellerUnzülänglichkeit zuzuweisen? Nach oben,
gegen die Durchschuittsbegabung und nach
unten, gegen den pathologischen Schwachsinn
hin verwischen sich ihre Grenzen. Die Be¬
urteilung ist im Eiuzelfnll erschwert, einerseits

[Spaltenumbruch]

weil neben der allgemeinen auch eine partielle
Dummheit besteht und anderseits weil die
Lebensverhältnisse, das Alter, das Geschlecht,
die Nassezugehörigkeit des Individuums stets
in Rechnung zu stellen sind, so gestatten z. B.
intellektuelle Leistungen, die beim gebildeten
Städter den Dummkopf verraten, beim Bauer
nicht den gleichen Schluß. Und haben wir
einmal die Dummheit gleichsam in der Rein¬
kultur vor uns, so erhebt sich die bedeutsame
Frage nack ihrer organischen Grundlage,
ihrer Vererbbarkeit usw. So gibt die Dumm¬
heit eine Fülle von Problemen auf, deren
Bearbeitung nur mit dem Rüstzeug der
modernen Psychologisch - biologischen Wissen¬
schaft in Angriff genommen werden kann, aber
auch große praktische Menschenkenntnis voraus¬
setzt. Wenn daher derbekannteMünchnerNerven-
arzt Leopold Loewenfeld ein Buch „Wer
die Dummhert" (eine Umschau im Gebiete
menschlicher Unzulänglichkeit, Verlag von I. F.
Bergmann, Wiesbaden, S Mark) veröffentlicht,
das zwar nicht den Anspruch erhebt, eine er¬
schöpfende oder auch nur systematische Dar¬
stellung des Gegenstandes zu bieten, aber in
fesselnder Weise in großen Zügen ein Bild
der Dummheit und ihrer Bedeutung im Leben
zeichnet, so sei dies mit Freuden begrüßt und
unseren Lesern gern zur Kenntnis gebracht.
Das Werk ist uicht nur unterhaltend, sondern
auch belehrend, dies gilt besonders von den
beiden letzten Kapiteln, die von dem intellek¬
tuellen Fortschritt der Menschheit und vom
Kampf gegen die Dummheit handeln.

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[0055] Maßgebliches und Unmaßgebliches ergreifenden Ausdruck, Sie, die alle sinn¬ lichen und geistigen Genüsse erschöpft hat ohne der entsetzlichsten inneren Verödung wehren zu können, auch sie fühlt das Gift der Zeit: e'ehr la pnvation an sentiment, aveo la clouleur 6o us pouvoir s'su passer. Und fast achtzigjährig, halbblind, liebt sie zum erstenmal mit dem Herzen, überstürzt und besinnungslos, wie Verschmachtende trinken, liebt sie in Verzweiflung und hoff¬ nungslos und ist dennoch selig, weil sie liebt. Reben ihr aber steht, wie der Geist der neuen Zeit Rousseaus, steht neben den großen Lie¬ benden aller Zeiten Julie de Lespmasse, die in ihrem Leben keinen fand, der der rückhalt¬ losen LieveSfähigkeit ihres unersättlichen Her¬ zens hätte standhalten können. n'uims neu cle es c>ni ost Z, äemi, ac es c>ni est incZecis, 6e ce qui n'est am'un peu". Alfred Schier Der Mensch will lieber für schlecht als für dumm gelten. Keinen Mangel gibt er weniger gern zu, als die eigene Dummheit, selbst wenn er sie erkennt, und wenn er am härtesten treffen will, sucht er dem Gegner den Stempel der Dummheit aufzuprägen. Wer ist dumm? Welche Psychologische Kriterien geben das Recht, ein Individuum der breiten Zone intellek- tuellerUnzülänglichkeit zuzuweisen? Nach oben, gegen die Durchschuittsbegabung und nach unten, gegen den pathologischen Schwachsinn hin verwischen sich ihre Grenzen. Die Be¬ urteilung ist im Eiuzelfnll erschwert, einerseits weil neben der allgemeinen auch eine partielle Dummheit besteht und anderseits weil die Lebensverhältnisse, das Alter, das Geschlecht, die Nassezugehörigkeit des Individuums stets in Rechnung zu stellen sind, so gestatten z. B. intellektuelle Leistungen, die beim gebildeten Städter den Dummkopf verraten, beim Bauer nicht den gleichen Schluß. Und haben wir einmal die Dummheit gleichsam in der Rein¬ kultur vor uns, so erhebt sich die bedeutsame Frage nack ihrer organischen Grundlage, ihrer Vererbbarkeit usw. So gibt die Dumm¬ heit eine Fülle von Problemen auf, deren Bearbeitung nur mit dem Rüstzeug der modernen Psychologisch - biologischen Wissen¬ schaft in Angriff genommen werden kann, aber auch große praktische Menschenkenntnis voraus¬ setzt. Wenn daher derbekannteMünchnerNerven- arzt Leopold Loewenfeld ein Buch „Wer die Dummhert" (eine Umschau im Gebiete menschlicher Unzulänglichkeit, Verlag von I. F. Bergmann, Wiesbaden, S Mark) veröffentlicht, das zwar nicht den Anspruch erhebt, eine er¬ schöpfende oder auch nur systematische Dar¬ stellung des Gegenstandes zu bieten, aber in fesselnder Weise in großen Zügen ein Bild der Dummheit und ihrer Bedeutung im Leben zeichnet, so sei dies mit Freuden begrüßt und unseren Lesern gern zur Kenntnis gebracht. Das Werk ist uicht nur unterhaltend, sondern auch belehrend, dies gilt besonders von den beiden letzten Kapiteln, die von dem intellek¬ tuellen Fortschritt der Menschheit und vom Kampf gegen die Dummheit handeln.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/55>, abgerufen am 29.12.2024.