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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

gegenüber. Nur schwer verstehen wir die Ein-
fachheitund Durchsichtigkeit dieses Abenteurers.
Es ist eine Unruhe in uns gekommen, von der
jenes Jahrhundert nichts wußte. Und leicht
fühlen wir einen Haß gegen eine ewig lächelnde
Welt, die uns leer und herzlos erscheint und
deren Stil die Arabeske war. Denn unser
Leben ist unermeßlich gewachsen an seelischer
Innigkeit und Intensität. Aus gilt als
Höchstes, was als um tiefsten erschauern
macht, sei es in Schmerz oder Lust.

Dem Rokoko aber war Leichtsein alles.
"Nicht die Schwere vieler Erden, mir die
spielenden Geberden." Wie ein Symbol Hai
es sich den graziösesten der Tänze, das Menuett,
geschaffen, wo "man sich mit manieriert ver¬
flochtenen Fingerspitzen langsam um einander
drehte und sich lächelnd in die Rügen schaute
und dann mit einer tiefen, bewundernden Ver¬
beugung von einander glitt."

Niemand stand isoliert, und die Lust sich
hinzugeben schuf die heitere Geselligkeit und
die intimen Feste, den Tanz und die Maske¬
raden. Auf den Bildern des Rokoko kehrte
immer wieder, wie seine eigentliche Geste,
das verstellte Fliehen und das sich Erreichen,
das Meiden und sich Suchen, das Weigern
und Gewähren.

Es war nicht guter Ton, lief zu fühlen
und erleben. Denn nie durfte man die Hal¬
tung verlieren. Das Leben spielte sich zwischen
Spiegeln und Lichtern ab. Die Zeit wollte
das Helle, Klare; und noch in die dunkelsten
Stunden der Liebe drang der wache, zu¬
sehende Verstand. Man war selten allein und
ließ sich auch dann nicht gehen. Auch in den
Briefen erschien man in sorgfältiger Toilette.
Es setzt eine lange Erziehung und Selbstzucht
voraus, bis eine so beherrschte Sicherheit der
Haltung erreicht war, die mich den Schmerz
noch unter einem Lächeln barg -- dem Lächeln
Watteaus. Und in dein Verzicht, den wir hier
fühlen, liegt ein Teil der Tragik des Rokoko.

.
Das ganze Leben war Form geworden
und lebte ohne Seele. Es war genau das
Gegenteil zu unserer formlosen und seelen-
Haften Zeit.

[Spaltenumbruch]

Es ist etwas Naives, Kindliches in der
Schamlosigkeit und selbst in der Perversität
des Rokoko. Denn alles war nur ein Spiel,
aber man war so ernsthaft darein vertieft
wie Kinder, wenn sie spielen. Doch wenn
man länger zusieht, bekommt die Ernsthaftig¬
keit, mit der das Rokoko spielt, etwas Un¬
heimliches. Auch .hier fühlen wir heute die
Tragik. Indem man alle und die besten
Kräfte um das Leichteste, Unverhältnismäßigste
setzte, mußte man einst mit Schrecken erkennen,
daß der Einsatz zu hoch war und daß man
daS Leben verspielt hatte.

Indem man nicht fühlen durfte, weil es
uicht gut aussah, verfeinerte man den Intellekt
auf eine uuerhörie Weise, wendete ihn auf
die Erotik um und machte eine Art Schach¬
spiel daraus. Hier im gesteigerten Jniellek-
t"alismus,indcnvervielfältigtenSpiegelungen,
liegt das Böse des Rokoko, und der zierliche,
subtile Marivaur, fand früh die tiefen Worte:
"I^'Aus se Auto a mesul s am'eilf hö rakkine."

Es ist nicht mehr die heiße Vitalität deS
Barock, sie ist unter dem scharfen Licht der
wachsenden Bewußtheit gewellt; eS ist die
Freude um der ArnbeSkc, an den Komplikationen,
am Spiel deS eigenen Intellekts. Den ver-
schlungensten Weg sucht man in der Liebe,
denn der kürzeste von Begierde zu Genuß hat
keinen Steig. Wir denken an die künstlich ge¬
wundenen Labyrinthe in den Gärten der Zeit,
Wo der Jrrende statt des erhofften Ausgangs
versteckte Spiegel fand, die dem Betroffenen
das eigene Bild entgegenhielten.

So verbindet sich skrupelloser Genuß mit
raffiniertem Intellektualismus. Erinnern wir
uns, daß das Rokoko der Stil des Ratio¬
nalismus, der Ausklärung war, und daß die
Genien der Zeit Voltaire und Lessing hießen.
Die frivolen Romane sind in einer mathe¬
matisch geschulten, sich aus Antithesen zu¬
sammensetzenden Sprache geschrieben.

Aber die Desillusion konnte nicht aus¬
bleiben. Eine wachsende Leere, das Grauen
vor der Verhirnlichnng deS Lebens wird
immer mächtiger und drohender. Vauve-
nargues erkennt als "die Krankheit unserer
Tage, alles scherzhaft zu behandeln". --
"lXotre plus Zrsnä mal est clans l'esprit".
Und in einer Greisin, Madame dn Deffaud,
schafft sich die Sehnsucht nach dem Gefühl

[Ende Spaltensatz]

Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

gegenüber. Nur schwer verstehen wir die Ein-
fachheitund Durchsichtigkeit dieses Abenteurers.
Es ist eine Unruhe in uns gekommen, von der
jenes Jahrhundert nichts wußte. Und leicht
fühlen wir einen Haß gegen eine ewig lächelnde
Welt, die uns leer und herzlos erscheint und
deren Stil die Arabeske war. Denn unser
Leben ist unermeßlich gewachsen an seelischer
Innigkeit und Intensität. Aus gilt als
Höchstes, was als um tiefsten erschauern
macht, sei es in Schmerz oder Lust.

Dem Rokoko aber war Leichtsein alles.
„Nicht die Schwere vieler Erden, mir die
spielenden Geberden." Wie ein Symbol Hai
es sich den graziösesten der Tänze, das Menuett,
geschaffen, wo „man sich mit manieriert ver¬
flochtenen Fingerspitzen langsam um einander
drehte und sich lächelnd in die Rügen schaute
und dann mit einer tiefen, bewundernden Ver¬
beugung von einander glitt."

Niemand stand isoliert, und die Lust sich
hinzugeben schuf die heitere Geselligkeit und
die intimen Feste, den Tanz und die Maske¬
raden. Auf den Bildern des Rokoko kehrte
immer wieder, wie seine eigentliche Geste,
das verstellte Fliehen und das sich Erreichen,
das Meiden und sich Suchen, das Weigern
und Gewähren.

Es war nicht guter Ton, lief zu fühlen
und erleben. Denn nie durfte man die Hal¬
tung verlieren. Das Leben spielte sich zwischen
Spiegeln und Lichtern ab. Die Zeit wollte
das Helle, Klare; und noch in die dunkelsten
Stunden der Liebe drang der wache, zu¬
sehende Verstand. Man war selten allein und
ließ sich auch dann nicht gehen. Auch in den
Briefen erschien man in sorgfältiger Toilette.
Es setzt eine lange Erziehung und Selbstzucht
voraus, bis eine so beherrschte Sicherheit der
Haltung erreicht war, die mich den Schmerz
noch unter einem Lächeln barg — dem Lächeln
Watteaus. Und in dein Verzicht, den wir hier
fühlen, liegt ein Teil der Tragik des Rokoko.

.
Das ganze Leben war Form geworden
und lebte ohne Seele. Es war genau das
Gegenteil zu unserer formlosen und seelen-
Haften Zeit.

[Spaltenumbruch]

Es ist etwas Naives, Kindliches in der
Schamlosigkeit und selbst in der Perversität
des Rokoko. Denn alles war nur ein Spiel,
aber man war so ernsthaft darein vertieft
wie Kinder, wenn sie spielen. Doch wenn
man länger zusieht, bekommt die Ernsthaftig¬
keit, mit der das Rokoko spielt, etwas Un¬
heimliches. Auch .hier fühlen wir heute die
Tragik. Indem man alle und die besten
Kräfte um das Leichteste, Unverhältnismäßigste
setzte, mußte man einst mit Schrecken erkennen,
daß der Einsatz zu hoch war und daß man
daS Leben verspielt hatte.

Indem man nicht fühlen durfte, weil es
uicht gut aussah, verfeinerte man den Intellekt
auf eine uuerhörie Weise, wendete ihn auf
die Erotik um und machte eine Art Schach¬
spiel daraus. Hier im gesteigerten Jniellek-
t»alismus,indcnvervielfältigtenSpiegelungen,
liegt das Böse des Rokoko, und der zierliche,
subtile Marivaur, fand früh die tiefen Worte:
„I^'Aus se Auto a mesul s am'eilf hö rakkine."

Es ist nicht mehr die heiße Vitalität deS
Barock, sie ist unter dem scharfen Licht der
wachsenden Bewußtheit gewellt; eS ist die
Freude um der ArnbeSkc, an den Komplikationen,
am Spiel deS eigenen Intellekts. Den ver-
schlungensten Weg sucht man in der Liebe,
denn der kürzeste von Begierde zu Genuß hat
keinen Steig. Wir denken an die künstlich ge¬
wundenen Labyrinthe in den Gärten der Zeit,
Wo der Jrrende statt des erhofften Ausgangs
versteckte Spiegel fand, die dem Betroffenen
das eigene Bild entgegenhielten.

So verbindet sich skrupelloser Genuß mit
raffiniertem Intellektualismus. Erinnern wir
uns, daß das Rokoko der Stil des Ratio¬
nalismus, der Ausklärung war, und daß die
Genien der Zeit Voltaire und Lessing hießen.
Die frivolen Romane sind in einer mathe¬
matisch geschulten, sich aus Antithesen zu¬
sammensetzenden Sprache geschrieben.

Aber die Desillusion konnte nicht aus¬
bleiben. Eine wachsende Leere, das Grauen
vor der Verhirnlichnng deS Lebens wird
immer mächtiger und drohender. Vauve-
nargues erkennt als „die Krankheit unserer
Tage, alles scherzhaft zu behandeln". —
„lXotre plus Zrsnä mal est clans l'esprit".
Und in einer Greisin, Madame dn Deffaud,
schafft sich die Sehnsucht nach dem Gefühl

[Ende Spaltensatz]

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[0054] Maßgebliches und Unmaßgebliches gegenüber. Nur schwer verstehen wir die Ein- fachheitund Durchsichtigkeit dieses Abenteurers. Es ist eine Unruhe in uns gekommen, von der jenes Jahrhundert nichts wußte. Und leicht fühlen wir einen Haß gegen eine ewig lächelnde Welt, die uns leer und herzlos erscheint und deren Stil die Arabeske war. Denn unser Leben ist unermeßlich gewachsen an seelischer Innigkeit und Intensität. Aus gilt als Höchstes, was als um tiefsten erschauern macht, sei es in Schmerz oder Lust. Dem Rokoko aber war Leichtsein alles. „Nicht die Schwere vieler Erden, mir die spielenden Geberden." Wie ein Symbol Hai es sich den graziösesten der Tänze, das Menuett, geschaffen, wo „man sich mit manieriert ver¬ flochtenen Fingerspitzen langsam um einander drehte und sich lächelnd in die Rügen schaute und dann mit einer tiefen, bewundernden Ver¬ beugung von einander glitt." Niemand stand isoliert, und die Lust sich hinzugeben schuf die heitere Geselligkeit und die intimen Feste, den Tanz und die Maske¬ raden. Auf den Bildern des Rokoko kehrte immer wieder, wie seine eigentliche Geste, das verstellte Fliehen und das sich Erreichen, das Meiden und sich Suchen, das Weigern und Gewähren. Es war nicht guter Ton, lief zu fühlen und erleben. Denn nie durfte man die Hal¬ tung verlieren. Das Leben spielte sich zwischen Spiegeln und Lichtern ab. Die Zeit wollte das Helle, Klare; und noch in die dunkelsten Stunden der Liebe drang der wache, zu¬ sehende Verstand. Man war selten allein und ließ sich auch dann nicht gehen. Auch in den Briefen erschien man in sorgfältiger Toilette. Es setzt eine lange Erziehung und Selbstzucht voraus, bis eine so beherrschte Sicherheit der Haltung erreicht war, die mich den Schmerz noch unter einem Lächeln barg — dem Lächeln Watteaus. Und in dein Verzicht, den wir hier fühlen, liegt ein Teil der Tragik des Rokoko. . Das ganze Leben war Form geworden und lebte ohne Seele. Es war genau das Gegenteil zu unserer formlosen und seelen- Haften Zeit. Es ist etwas Naives, Kindliches in der Schamlosigkeit und selbst in der Perversität des Rokoko. Denn alles war nur ein Spiel, aber man war so ernsthaft darein vertieft wie Kinder, wenn sie spielen. Doch wenn man länger zusieht, bekommt die Ernsthaftig¬ keit, mit der das Rokoko spielt, etwas Un¬ heimliches. Auch .hier fühlen wir heute die Tragik. Indem man alle und die besten Kräfte um das Leichteste, Unverhältnismäßigste setzte, mußte man einst mit Schrecken erkennen, daß der Einsatz zu hoch war und daß man daS Leben verspielt hatte. Indem man nicht fühlen durfte, weil es uicht gut aussah, verfeinerte man den Intellekt auf eine uuerhörie Weise, wendete ihn auf die Erotik um und machte eine Art Schach¬ spiel daraus. Hier im gesteigerten Jniellek- t»alismus,indcnvervielfältigtenSpiegelungen, liegt das Böse des Rokoko, und der zierliche, subtile Marivaur, fand früh die tiefen Worte: „I^'Aus se Auto a mesul s am'eilf hö rakkine." Es ist nicht mehr die heiße Vitalität deS Barock, sie ist unter dem scharfen Licht der wachsenden Bewußtheit gewellt; eS ist die Freude um der ArnbeSkc, an den Komplikationen, am Spiel deS eigenen Intellekts. Den ver- schlungensten Weg sucht man in der Liebe, denn der kürzeste von Begierde zu Genuß hat keinen Steig. Wir denken an die künstlich ge¬ wundenen Labyrinthe in den Gärten der Zeit, Wo der Jrrende statt des erhofften Ausgangs versteckte Spiegel fand, die dem Betroffenen das eigene Bild entgegenhielten. So verbindet sich skrupelloser Genuß mit raffiniertem Intellektualismus. Erinnern wir uns, daß das Rokoko der Stil des Ratio¬ nalismus, der Ausklärung war, und daß die Genien der Zeit Voltaire und Lessing hießen. Die frivolen Romane sind in einer mathe¬ matisch geschulten, sich aus Antithesen zu¬ sammensetzenden Sprache geschrieben. Aber die Desillusion konnte nicht aus¬ bleiben. Eine wachsende Leere, das Grauen vor der Verhirnlichnng deS Lebens wird immer mächtiger und drohender. Vauve- nargues erkennt als „die Krankheit unserer Tage, alles scherzhaft zu behandeln". — „lXotre plus Zrsnä mal est clans l'esprit". Und in einer Greisin, Madame dn Deffaud, schafft sich die Sehnsucht nach dem Gefühl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/54>, abgerufen am 27.09.2024.