Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] Schöne Literatur Es gibt im Bereich unserer neuhoch¬ Karl Stieler ( 1842 bis 1886), der "har- lich gern den Grenzstrich zwischen Poesie und Stielers Aufsätze, bisher in verschiedenen Das Stoffgebiet der Stielerschen Schriften Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] Schöne Literatur Es gibt im Bereich unserer neuhoch¬ Karl Stieler ( 1842 bis 1886), der „har- lich gern den Grenzstrich zwischen Poesie und Stielers Aufsätze, bisher in verschiedenen Das Stoffgebiet der Stielerschen Schriften <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0545" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320962"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341895_320416/figures/grenzboten_341895_320416_320962_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/> <cb type="start"/> <div n="2"> <head> Schöne Literatur</head> <p xml:id="ID_2436"> Es gibt im Bereich unserer neuhoch¬<lb/> deutschen Literatur wenig ältere und noch<lb/> weniger neuere Denkmäler in wirklicher Prosa.<lb/> Romane und Erzählungen, Geschichten, selbst<lb/> Berichte, schildernde und beschreibende so gut<lb/> wie chronikenhafte, sind nach Stil und Aus¬<lb/> druck der Poesie anheimgefallen, der sie zum<lb/> Teil durch ihren Stoff schon angehören. Der<lb/> isländischen Saga haben wir, wie jede andere<lb/> Kultursprache, nichts gleichwertiges, ja ähn¬<lb/> liches an die Seite zu setzen. Auch die reine<lb/> Prosa, die biographische und gelehrte, die<lb/> moralische und geistliche, selbst die Politische,<lb/> kurz jede sachliche Darstellung in deutscher<lb/> Sprache rechnet sichs heute zur Zier, nicht<lb/> als Recht, vielmehr als Pflicht an, der<lb/> poetischen Technik sich zu nähern, sei es im<lb/> Gebrauch besonderer Wörter und Wort¬<lb/> gebäude, künstlicher Wortfolge und Satzfügung<lb/> oder allgemein gehobener Diktion, sei es<lb/> durch eingestreute Bilder, Vergleiche, oder<lb/> durch den alles verhüllenden Schleier poetischer<lb/> Stimmung. Man fürchtet ins Trockene zu<lb/> fallen, ins Platte, wenn die klare Disposition<lb/> der Sache nicht mit dem entlehnten Schmuck<lb/> beklebt oder verkleidet wird. Rein sachliche<lb/> Darstellung ist unbeliebt, am ehesten vielleicht<lb/> (wir denken an Bismarcks Reden) in der<lb/> Politischen Rhetorik geübt, viel weniger schon<lb/> in der gerichtlichen oder gar der kirchlichen<lb/> Beredsamkeit. Ist uus auch dies als ein Erb¬<lb/> teil der Antike geblieben?</p> <div n="3"> <head> Karl Stieler (</head> <p xml:id="ID_2437" next="#ID_2438"> 1842 bis 1886), der „har-<lb/> »ionische Mensch im hellenischen Sinne", der<lb/> zartsinnige Lyriker und urwüchsige Dialekt-<lb/> dichter, besteht nicht minder rühmlich als<lb/> deutscher Prosaist. Auch er vermischt gelegent¬</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_2438" prev="#ID_2437"> lich gern den Grenzstrich zwischen Poesie und<lb/> Prosa, aber die Mittel der Poetischen Technik,<lb/> die ihm reichlich zu Gebote stehen, stellt er<lb/> stets in den Dienst eines poetischen Stoffes.<lb/> Und mit Vorliebe verschwistert er die beiden<lb/> Formen, wenn er Proben seiner Dialektpoesie<lb/> reichlich genug in seine Aufsätze stellt, wo er<lb/> den scharf zugespitzten Ausdruck seiner Verse<lb/> in der Prosa nicht unischreiben mag.</p> <p xml:id="ID_2439"> Stielers Aufsätze, bisher in verschiedenen<lb/> Büchern verstreut, sind nicht leicht erreichbar.<lb/> Neuerdings haben wir eine Auswahl seiner<lb/> Schriften in einem schmucken Bande erhalten,<lb/> den der um Stieler verdiente Biograph<lb/> A. Dreyer besorgt und mit Vorwort und<lb/> Anmerkungen versehen hat: „Bilder aus<lb/> Bayern", im Verlage von Adolf Bonz u. Co.<lb/> in Stuttgart erschienen. Der Titel gibt zu¬<lb/> gleich den Gesichtspunkt, uach dem die Aus¬<lb/> wahl erfolgte. Nur die „Kulturbilder aus<lb/> Bayern" (1886) find vollständig aufgenommen,<lb/> die anderen Sammlungen durch mehr oder<lb/> weniger reichliche Proben vertreten.</p> <p xml:id="ID_2440" next="#ID_2441"> Das Stoffgebiet der Stielerschen Schriften<lb/> engt sich dadurch etwas ein; das Volk und<lb/> das Volksleben dos bayerischen Hochlandes<lb/> steht im Mittelpunkte: Sitte und Brauch,<lb/> Feste, Kirchweih und Jahrmarkt, Verkehr,<lb/> Mundart, Politik, die innere (Wahlen) und<lb/> die äußere (1870/71) mit ihren Rückwirkungen,<lb/> Anekdotisches, Landschafts- und Stimmungs¬<lb/> bilder — alles wertvolle Beiträge für dieKunde<lb/> des bayerischen Volks. Plastische Szenen sind<lb/> mit klappen Strichen gezeichnet, manche<lb/> Betrachtung stimmt zu nachdenklichen Sinnen,<lb/> wie der schöne Aufsatz vom Zeitgeist auf dem<lb/> Lande. Wie Stieler seine Prosa meistert,<lb/> hätte nicht deutlicher gezeigt werden können</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0545]
[Abbildung]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Schöne Literatur Es gibt im Bereich unserer neuhoch¬
deutschen Literatur wenig ältere und noch
weniger neuere Denkmäler in wirklicher Prosa.
Romane und Erzählungen, Geschichten, selbst
Berichte, schildernde und beschreibende so gut
wie chronikenhafte, sind nach Stil und Aus¬
druck der Poesie anheimgefallen, der sie zum
Teil durch ihren Stoff schon angehören. Der
isländischen Saga haben wir, wie jede andere
Kultursprache, nichts gleichwertiges, ja ähn¬
liches an die Seite zu setzen. Auch die reine
Prosa, die biographische und gelehrte, die
moralische und geistliche, selbst die Politische,
kurz jede sachliche Darstellung in deutscher
Sprache rechnet sichs heute zur Zier, nicht
als Recht, vielmehr als Pflicht an, der
poetischen Technik sich zu nähern, sei es im
Gebrauch besonderer Wörter und Wort¬
gebäude, künstlicher Wortfolge und Satzfügung
oder allgemein gehobener Diktion, sei es
durch eingestreute Bilder, Vergleiche, oder
durch den alles verhüllenden Schleier poetischer
Stimmung. Man fürchtet ins Trockene zu
fallen, ins Platte, wenn die klare Disposition
der Sache nicht mit dem entlehnten Schmuck
beklebt oder verkleidet wird. Rein sachliche
Darstellung ist unbeliebt, am ehesten vielleicht
(wir denken an Bismarcks Reden) in der
Politischen Rhetorik geübt, viel weniger schon
in der gerichtlichen oder gar der kirchlichen
Beredsamkeit. Ist uus auch dies als ein Erb¬
teil der Antike geblieben?
Karl Stieler ( 1842 bis 1886), der „har-
»ionische Mensch im hellenischen Sinne", der
zartsinnige Lyriker und urwüchsige Dialekt-
dichter, besteht nicht minder rühmlich als
deutscher Prosaist. Auch er vermischt gelegent¬
lich gern den Grenzstrich zwischen Poesie und
Prosa, aber die Mittel der Poetischen Technik,
die ihm reichlich zu Gebote stehen, stellt er
stets in den Dienst eines poetischen Stoffes.
Und mit Vorliebe verschwistert er die beiden
Formen, wenn er Proben seiner Dialektpoesie
reichlich genug in seine Aufsätze stellt, wo er
den scharf zugespitzten Ausdruck seiner Verse
in der Prosa nicht unischreiben mag.
Stielers Aufsätze, bisher in verschiedenen
Büchern verstreut, sind nicht leicht erreichbar.
Neuerdings haben wir eine Auswahl seiner
Schriften in einem schmucken Bande erhalten,
den der um Stieler verdiente Biograph
A. Dreyer besorgt und mit Vorwort und
Anmerkungen versehen hat: „Bilder aus
Bayern", im Verlage von Adolf Bonz u. Co.
in Stuttgart erschienen. Der Titel gibt zu¬
gleich den Gesichtspunkt, uach dem die Aus¬
wahl erfolgte. Nur die „Kulturbilder aus
Bayern" (1886) find vollständig aufgenommen,
die anderen Sammlungen durch mehr oder
weniger reichliche Proben vertreten.
Das Stoffgebiet der Stielerschen Schriften
engt sich dadurch etwas ein; das Volk und
das Volksleben dos bayerischen Hochlandes
steht im Mittelpunkte: Sitte und Brauch,
Feste, Kirchweih und Jahrmarkt, Verkehr,
Mundart, Politik, die innere (Wahlen) und
die äußere (1870/71) mit ihren Rückwirkungen,
Anekdotisches, Landschafts- und Stimmungs¬
bilder — alles wertvolle Beiträge für dieKunde
des bayerischen Volks. Plastische Szenen sind
mit klappen Strichen gezeichnet, manche
Betrachtung stimmt zu nachdenklichen Sinnen,
wie der schöne Aufsatz vom Zeitgeist auf dem
Lande. Wie Stieler seine Prosa meistert,
hätte nicht deutlicher gezeigt werden können
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