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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die Bewegung des Pcmislamismus

Vertiefung der Kluft zwischen der mohammedanischen und russischen Bevölkerung
benutzt, und die russische Literatur wird künstlich von ihnen ferngehalten. Auf
Antrag eines stimmberechtigten Muselmanen strich der Kreistag von Malmysh
(Gouv. Wjatka) den Kredit für die Lieferung von russischen Lehrbüchern und
belletristischen Schriften an diese Art Schulen, da ihre Benutzung für die Musel¬
manen eine den Lehren des Schariat widersprechende Sünde sei.

Das entlegenste muselmanische Dorf hat eine oder mehrere Mektebs. Ihre
Eröffnung ist völlig unbeschränkt, denn bei jeder Moschee kann eine Schule ein¬
gerichtet werden. Die Erlaubnis zum Bau von Moscheen aber wird leicht erworben,
und zudem gibt es noch Privatmoscheen, die sich der offiziellen Feststellung zu
entziehen verstehen. Der Besuch eines Melech ist für die Kinder beiderlei Geschlechts
unerläßlich. Es sind konfessionelle Schulen mit ausgesprochen rationalistischer
Richtung, in denen die Jugend bis zum Fanatismus islamisiert und nicht nur in
völkischer, sondern auch in politischer Beziehung zu einer dem Staatsgedanken feind¬
lichen Sinnesart erzogen wird. Neben den mehr oder weniger berufenen Lehrern
wirkt eine große Anzahl muselmanischer Agitatoren, häufig türkischer Staats¬
angehörigkeit, als Wanderlehrer im Sinne der Förderung des Panislamismus
und Pantürkismus. Viele von ihnen sind "Hadschis"; diese vom "Lichte
Mohammeds erleuchteten Männer" erfreuen sich größten Ansehens bei Jung
und Alt, weil sie unter dem Schutze des Padischah, des Stellvertreters Mohammeds,
geweilt haben. Die muselmanische Presse bemüht sich, diese Zustände gesetzlich
festzulegen. Sie macht Stimmung dafür, daß die Ausbildung der Lehrer für
die Volksschule der Kontrolle der Aufsichtsbehörden völlig entzogen wird, und
daß nur solche Volksschullehrer angestellt werden, die in der Krnm oder in den
mittelasiatischen Glaubenszentren oder gar in der Türkei ausgebildet sind.

Man muß sich angesichts dieser Verhältnisse die Frage vorlegen, warum
der Staat das Erziehungs- und Bildungswesen nicht in festere Hand nimmt.
Eine Antwort, die an Offenheit nichts zu wünschen übrig läßt, gibt die Bemerkung
eines muselmanischen Schriftstellers: "Zum Glück für die muselmanische Schule
in Rußland zeichnen sich die überwachenden Zensoren nicht gerade durch Kenntnis
der einheimischen Sprachen aus".*) Aber es fehlt auch nicht an einsichtigen
Beamten, die die bestehenden Gefahren wohl erkennen. In dem Berichte des
Vorsitzenden der besonderen Kommission für die Fragen der Schulbildung bei
den Fremdvölkern heißt es: "In letzter Zeit haben sich den aus dem kon¬
fessionellen Charakter entstandenen Mängeln der Schulen noch Auswüchse des
tatarischen Nationalismus zugesellt, der sich zum Ziele gesetzt hat, alle moham-
Medanischen Völkerschaften Rußlands zu irgend welchen politischen Zwecken zu
wtarisieren."

Dieser Zweck ist möglicherweise die Aufrichtung eines autonomen Reiches
Turkistan in den Grenzen der Gouvernements Kasan, Ssimbirsk, Asa und Oren-
burg. Nach dem Organ der Missionsgesellschaft 9, 1909, wird das Gerücht



*) Musulmnmn 2ö, 1910.
Die Bewegung des Pcmislamismus

Vertiefung der Kluft zwischen der mohammedanischen und russischen Bevölkerung
benutzt, und die russische Literatur wird künstlich von ihnen ferngehalten. Auf
Antrag eines stimmberechtigten Muselmanen strich der Kreistag von Malmysh
(Gouv. Wjatka) den Kredit für die Lieferung von russischen Lehrbüchern und
belletristischen Schriften an diese Art Schulen, da ihre Benutzung für die Musel¬
manen eine den Lehren des Schariat widersprechende Sünde sei.

Das entlegenste muselmanische Dorf hat eine oder mehrere Mektebs. Ihre
Eröffnung ist völlig unbeschränkt, denn bei jeder Moschee kann eine Schule ein¬
gerichtet werden. Die Erlaubnis zum Bau von Moscheen aber wird leicht erworben,
und zudem gibt es noch Privatmoscheen, die sich der offiziellen Feststellung zu
entziehen verstehen. Der Besuch eines Melech ist für die Kinder beiderlei Geschlechts
unerläßlich. Es sind konfessionelle Schulen mit ausgesprochen rationalistischer
Richtung, in denen die Jugend bis zum Fanatismus islamisiert und nicht nur in
völkischer, sondern auch in politischer Beziehung zu einer dem Staatsgedanken feind¬
lichen Sinnesart erzogen wird. Neben den mehr oder weniger berufenen Lehrern
wirkt eine große Anzahl muselmanischer Agitatoren, häufig türkischer Staats¬
angehörigkeit, als Wanderlehrer im Sinne der Förderung des Panislamismus
und Pantürkismus. Viele von ihnen sind „Hadschis"; diese vom „Lichte
Mohammeds erleuchteten Männer" erfreuen sich größten Ansehens bei Jung
und Alt, weil sie unter dem Schutze des Padischah, des Stellvertreters Mohammeds,
geweilt haben. Die muselmanische Presse bemüht sich, diese Zustände gesetzlich
festzulegen. Sie macht Stimmung dafür, daß die Ausbildung der Lehrer für
die Volksschule der Kontrolle der Aufsichtsbehörden völlig entzogen wird, und
daß nur solche Volksschullehrer angestellt werden, die in der Krnm oder in den
mittelasiatischen Glaubenszentren oder gar in der Türkei ausgebildet sind.

Man muß sich angesichts dieser Verhältnisse die Frage vorlegen, warum
der Staat das Erziehungs- und Bildungswesen nicht in festere Hand nimmt.
Eine Antwort, die an Offenheit nichts zu wünschen übrig läßt, gibt die Bemerkung
eines muselmanischen Schriftstellers: „Zum Glück für die muselmanische Schule
in Rußland zeichnen sich die überwachenden Zensoren nicht gerade durch Kenntnis
der einheimischen Sprachen aus".*) Aber es fehlt auch nicht an einsichtigen
Beamten, die die bestehenden Gefahren wohl erkennen. In dem Berichte des
Vorsitzenden der besonderen Kommission für die Fragen der Schulbildung bei
den Fremdvölkern heißt es: „In letzter Zeit haben sich den aus dem kon¬
fessionellen Charakter entstandenen Mängeln der Schulen noch Auswüchse des
tatarischen Nationalismus zugesellt, der sich zum Ziele gesetzt hat, alle moham-
Medanischen Völkerschaften Rußlands zu irgend welchen politischen Zwecken zu
wtarisieren."

Dieser Zweck ist möglicherweise die Aufrichtung eines autonomen Reiches
Turkistan in den Grenzen der Gouvernements Kasan, Ssimbirsk, Asa und Oren-
burg. Nach dem Organ der Missionsgesellschaft 9, 1909, wird das Gerücht



*) Musulmnmn 2ö, 1910.
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[0465] Die Bewegung des Pcmislamismus Vertiefung der Kluft zwischen der mohammedanischen und russischen Bevölkerung benutzt, und die russische Literatur wird künstlich von ihnen ferngehalten. Auf Antrag eines stimmberechtigten Muselmanen strich der Kreistag von Malmysh (Gouv. Wjatka) den Kredit für die Lieferung von russischen Lehrbüchern und belletristischen Schriften an diese Art Schulen, da ihre Benutzung für die Musel¬ manen eine den Lehren des Schariat widersprechende Sünde sei. Das entlegenste muselmanische Dorf hat eine oder mehrere Mektebs. Ihre Eröffnung ist völlig unbeschränkt, denn bei jeder Moschee kann eine Schule ein¬ gerichtet werden. Die Erlaubnis zum Bau von Moscheen aber wird leicht erworben, und zudem gibt es noch Privatmoscheen, die sich der offiziellen Feststellung zu entziehen verstehen. Der Besuch eines Melech ist für die Kinder beiderlei Geschlechts unerläßlich. Es sind konfessionelle Schulen mit ausgesprochen rationalistischer Richtung, in denen die Jugend bis zum Fanatismus islamisiert und nicht nur in völkischer, sondern auch in politischer Beziehung zu einer dem Staatsgedanken feind¬ lichen Sinnesart erzogen wird. Neben den mehr oder weniger berufenen Lehrern wirkt eine große Anzahl muselmanischer Agitatoren, häufig türkischer Staats¬ angehörigkeit, als Wanderlehrer im Sinne der Förderung des Panislamismus und Pantürkismus. Viele von ihnen sind „Hadschis"; diese vom „Lichte Mohammeds erleuchteten Männer" erfreuen sich größten Ansehens bei Jung und Alt, weil sie unter dem Schutze des Padischah, des Stellvertreters Mohammeds, geweilt haben. Die muselmanische Presse bemüht sich, diese Zustände gesetzlich festzulegen. Sie macht Stimmung dafür, daß die Ausbildung der Lehrer für die Volksschule der Kontrolle der Aufsichtsbehörden völlig entzogen wird, und daß nur solche Volksschullehrer angestellt werden, die in der Krnm oder in den mittelasiatischen Glaubenszentren oder gar in der Türkei ausgebildet sind. Man muß sich angesichts dieser Verhältnisse die Frage vorlegen, warum der Staat das Erziehungs- und Bildungswesen nicht in festere Hand nimmt. Eine Antwort, die an Offenheit nichts zu wünschen übrig läßt, gibt die Bemerkung eines muselmanischen Schriftstellers: „Zum Glück für die muselmanische Schule in Rußland zeichnen sich die überwachenden Zensoren nicht gerade durch Kenntnis der einheimischen Sprachen aus".*) Aber es fehlt auch nicht an einsichtigen Beamten, die die bestehenden Gefahren wohl erkennen. In dem Berichte des Vorsitzenden der besonderen Kommission für die Fragen der Schulbildung bei den Fremdvölkern heißt es: „In letzter Zeit haben sich den aus dem kon¬ fessionellen Charakter entstandenen Mängeln der Schulen noch Auswüchse des tatarischen Nationalismus zugesellt, der sich zum Ziele gesetzt hat, alle moham- Medanischen Völkerschaften Rußlands zu irgend welchen politischen Zwecken zu wtarisieren." Dieser Zweck ist möglicherweise die Aufrichtung eines autonomen Reiches Turkistan in den Grenzen der Gouvernements Kasan, Ssimbirsk, Asa und Oren- burg. Nach dem Organ der Missionsgesellschaft 9, 1909, wird das Gerücht *) Musulmnmn 2ö, 1910.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/465>, abgerufen am 27.09.2024.