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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die Bewegung des Panislamismus

Asa, Taschkend, Ssamarkand und Jembajewskija jurty (Gouvernement Tobolsk).
Hier sind die muselmanischen Bücher- und Zeitungsverläge, in Kasan auch
Bücherverläge vereinigt: hier werden die in arabischer und türkischer Sprache
im Auslande erscheinenden, hauptsächlich aus Konstantinopel, Kairo und Kabul
stammenden Zeitungen und Schriften vertrieben und findet der in Paris in
russischer Sprache gedruckte Musulmanin, den man stark antimilitaristischer Ten¬
denzen beschuldigt, seine Hauptabnehmer.

Gegen die rechtgläubige Kirche verhalten sich die Tataren, was bei der
durch den Staat gestützten Macht und Autorität dieser Kirche nicht wunderbar
ist, durchaus feindlich. Mitunter äußert sich ihr Haß in Scheußlichkeiten gegen
russische Lehrer und Beamte, die unglückliche Opfer religiöser Unduldsamkeit werden.
Neben der Abneigung gegen die Kirche geht Widerwillen gegen alles Russische,
gegen das gesprochene und geschriebene russische Wort einher. Es kommt vor,
daß vortrefflich russisch sprechende, im Ausland gebildete Tataren in öffentlicher
Versammlung erklären, der "moskowitischen Sprache" nicht mächtig zu sein, und
französisch reden"). Dieser Widerwille geht sogar so weit, daß bei vielen
russischen Tataren als Glaubensabtrünniger gilt, wer seine Kinder Russisch
lehren und -- russische Stiefel tragen läßt""). Es wird auch öffentlich
erklärt, daß die Erlernung des russischen ABC dem mohammedanischen Kult
nachteilig sei.

Selbst der Verkehr mit Russen wird als Sünde erklärt. In Zaritzyn wurde
im Jahre 1902 von der Stadtverwaltung die Zuweisung von Land für acht
Häuserviertel verlangt, um sie für Bewohner christlicher Konfesstonen, natürlich
für Russen, zu sperren. Eine Versammlung von mohammedanischen Angehörigen
von zweiundzwanzig Gemeindebezirken (Wolosti) brachte es im Jahre 1906
fertig, zu verlangen, daß die Gemeindebezirke muselmanische Namen erhalten
und Ortschaften mit muselmanischer Bevölkerung nicht an russische Gemeinde¬
bezirke angeschlossen werden sollten, da die Interessen und Lebensbedingungen
beider Bevölkerungsgruppeu völlig von einander verschieden seien.

Besonders auffällig ist das ablehnende Verhalten der tatarischen Intelligenz
gegen die vom Staate gebotenen Bildungsmittel der höheren Bildungsanstalten.
Die Zahl der muselmanischen Studenten ist stets verschwindend gering, selbst in
Kasan, einem der Zentren des Tatarentums. In den letzten fünfzehn Jahren
hat nicht ein Student der dortigen Universität Vorlesungen über Geschichte und
Literatur des Orients besucht, obgleich gerade diese Universität die einzige ist,
auf der über diese Gegenstände gelesen wird. Höhere Bildung in europäischem
Sinne wird vornehmlich in Paris und Holland gesucht. Aber auch die niederen
russischen Schulen werden von den Tataren gemieden; dafür werden offene und
geheime Mektebs und Medressen""") besucht. Diese Schulen werden geradezu zur





") Okrainy Rossii 43/1S11.
Rechtgläubiger Heilsbote 14/1908.
Melech -- Elementarschule, Medresse -- Gelehrtenschule.
Die Bewegung des Panislamismus

Asa, Taschkend, Ssamarkand und Jembajewskija jurty (Gouvernement Tobolsk).
Hier sind die muselmanischen Bücher- und Zeitungsverläge, in Kasan auch
Bücherverläge vereinigt: hier werden die in arabischer und türkischer Sprache
im Auslande erscheinenden, hauptsächlich aus Konstantinopel, Kairo und Kabul
stammenden Zeitungen und Schriften vertrieben und findet der in Paris in
russischer Sprache gedruckte Musulmanin, den man stark antimilitaristischer Ten¬
denzen beschuldigt, seine Hauptabnehmer.

Gegen die rechtgläubige Kirche verhalten sich die Tataren, was bei der
durch den Staat gestützten Macht und Autorität dieser Kirche nicht wunderbar
ist, durchaus feindlich. Mitunter äußert sich ihr Haß in Scheußlichkeiten gegen
russische Lehrer und Beamte, die unglückliche Opfer religiöser Unduldsamkeit werden.
Neben der Abneigung gegen die Kirche geht Widerwillen gegen alles Russische,
gegen das gesprochene und geschriebene russische Wort einher. Es kommt vor,
daß vortrefflich russisch sprechende, im Ausland gebildete Tataren in öffentlicher
Versammlung erklären, der „moskowitischen Sprache" nicht mächtig zu sein, und
französisch reden"). Dieser Widerwille geht sogar so weit, daß bei vielen
russischen Tataren als Glaubensabtrünniger gilt, wer seine Kinder Russisch
lehren und — russische Stiefel tragen läßt""). Es wird auch öffentlich
erklärt, daß die Erlernung des russischen ABC dem mohammedanischen Kult
nachteilig sei.

Selbst der Verkehr mit Russen wird als Sünde erklärt. In Zaritzyn wurde
im Jahre 1902 von der Stadtverwaltung die Zuweisung von Land für acht
Häuserviertel verlangt, um sie für Bewohner christlicher Konfesstonen, natürlich
für Russen, zu sperren. Eine Versammlung von mohammedanischen Angehörigen
von zweiundzwanzig Gemeindebezirken (Wolosti) brachte es im Jahre 1906
fertig, zu verlangen, daß die Gemeindebezirke muselmanische Namen erhalten
und Ortschaften mit muselmanischer Bevölkerung nicht an russische Gemeinde¬
bezirke angeschlossen werden sollten, da die Interessen und Lebensbedingungen
beider Bevölkerungsgruppeu völlig von einander verschieden seien.

Besonders auffällig ist das ablehnende Verhalten der tatarischen Intelligenz
gegen die vom Staate gebotenen Bildungsmittel der höheren Bildungsanstalten.
Die Zahl der muselmanischen Studenten ist stets verschwindend gering, selbst in
Kasan, einem der Zentren des Tatarentums. In den letzten fünfzehn Jahren
hat nicht ein Student der dortigen Universität Vorlesungen über Geschichte und
Literatur des Orients besucht, obgleich gerade diese Universität die einzige ist,
auf der über diese Gegenstände gelesen wird. Höhere Bildung in europäischem
Sinne wird vornehmlich in Paris und Holland gesucht. Aber auch die niederen
russischen Schulen werden von den Tataren gemieden; dafür werden offene und
geheime Mektebs und Medressen""") besucht. Diese Schulen werden geradezu zur





") Okrainy Rossii 43/1S11.
Rechtgläubiger Heilsbote 14/1908.
Melech — Elementarschule, Medresse — Gelehrtenschule.
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[0464] Die Bewegung des Panislamismus Asa, Taschkend, Ssamarkand und Jembajewskija jurty (Gouvernement Tobolsk). Hier sind die muselmanischen Bücher- und Zeitungsverläge, in Kasan auch Bücherverläge vereinigt: hier werden die in arabischer und türkischer Sprache im Auslande erscheinenden, hauptsächlich aus Konstantinopel, Kairo und Kabul stammenden Zeitungen und Schriften vertrieben und findet der in Paris in russischer Sprache gedruckte Musulmanin, den man stark antimilitaristischer Ten¬ denzen beschuldigt, seine Hauptabnehmer. Gegen die rechtgläubige Kirche verhalten sich die Tataren, was bei der durch den Staat gestützten Macht und Autorität dieser Kirche nicht wunderbar ist, durchaus feindlich. Mitunter äußert sich ihr Haß in Scheußlichkeiten gegen russische Lehrer und Beamte, die unglückliche Opfer religiöser Unduldsamkeit werden. Neben der Abneigung gegen die Kirche geht Widerwillen gegen alles Russische, gegen das gesprochene und geschriebene russische Wort einher. Es kommt vor, daß vortrefflich russisch sprechende, im Ausland gebildete Tataren in öffentlicher Versammlung erklären, der „moskowitischen Sprache" nicht mächtig zu sein, und französisch reden"). Dieser Widerwille geht sogar so weit, daß bei vielen russischen Tataren als Glaubensabtrünniger gilt, wer seine Kinder Russisch lehren und — russische Stiefel tragen läßt""). Es wird auch öffentlich erklärt, daß die Erlernung des russischen ABC dem mohammedanischen Kult nachteilig sei. Selbst der Verkehr mit Russen wird als Sünde erklärt. In Zaritzyn wurde im Jahre 1902 von der Stadtverwaltung die Zuweisung von Land für acht Häuserviertel verlangt, um sie für Bewohner christlicher Konfesstonen, natürlich für Russen, zu sperren. Eine Versammlung von mohammedanischen Angehörigen von zweiundzwanzig Gemeindebezirken (Wolosti) brachte es im Jahre 1906 fertig, zu verlangen, daß die Gemeindebezirke muselmanische Namen erhalten und Ortschaften mit muselmanischer Bevölkerung nicht an russische Gemeinde¬ bezirke angeschlossen werden sollten, da die Interessen und Lebensbedingungen beider Bevölkerungsgruppeu völlig von einander verschieden seien. Besonders auffällig ist das ablehnende Verhalten der tatarischen Intelligenz gegen die vom Staate gebotenen Bildungsmittel der höheren Bildungsanstalten. Die Zahl der muselmanischen Studenten ist stets verschwindend gering, selbst in Kasan, einem der Zentren des Tatarentums. In den letzten fünfzehn Jahren hat nicht ein Student der dortigen Universität Vorlesungen über Geschichte und Literatur des Orients besucht, obgleich gerade diese Universität die einzige ist, auf der über diese Gegenstände gelesen wird. Höhere Bildung in europäischem Sinne wird vornehmlich in Paris und Holland gesucht. Aber auch die niederen russischen Schulen werden von den Tataren gemieden; dafür werden offene und geheime Mektebs und Medressen""") besucht. Diese Schulen werden geradezu zur ") Okrainy Rossii 43/1S11. Rechtgläubiger Heilsbote 14/1908. Melech — Elementarschule, Medresse — Gelehrtenschule.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/464>, abgerufen am 27.09.2024.