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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Raimund und Nestroy

Art Meisterstück geliefert: neben Hebbels "Judith" wird die Travestie "Judith
und Holofernes" dauernden Kuriositätswert besitzen. Wie sich fallender Schnee
gleichmäßig auf jedes in seinem Bereich befindliche Dach legt, einerlei, ob es
eine Hütte oder ein Schloß deckt, ganz so gleichmäßig und gefühllos für die
in Betracht kommenden Werte breitet sich Nestroys glitzernder Witz über
alle Höhen und Tiefen des Hebbelschen Dramas. Der Dichter schildert die
kriegerische Verzweiflung der Hebräer, der Parodist malt eine unkriegerische,
undisziplinierte Rotte. Assad kommandiert: "Links g'schaut!" und Hosea erwidert:
"Warum? Links is garnix, warum sollen wir schauen links? Was ist da zu
sehen?" Der Dichter läßt den Stummen gottbegeisterte Sprache gewinnen, bei
Nestroy wird Daniel der Rede mächtig, um zur Steinigung seines Schneiders
und Gläubigers aufzufordern. Hebbels Holofernes ist ein genialischer Gigant,
Nestroys im Grunde genommen genau dasselbe, aber so beleuchtet, daß sein
Übermaß zum komisch täppischen Wesen wird. Er ersticht ein paar Leute, über die
er sich ärgert, und befiehlt, bevor Judith hereingeführt wird: "Laßt aber erst 's
Zelt ordentlich zusammenräumen, überall lieg'n Erstochene herum . . . nur keine
Schlamperei." Hebbels Judith wird in ein seltsam mystisches Licht gesetzt durch
die Erzählung von ihrem unberührten Frauentum, und es geht von dieser Szene
so sehr der Schauer des Übernatürlichen ans, daß kein unreines Gefühl aus¬
zukommen vermag. Nestroy vollbringt seinen bedeutendsten Streich, indem er
diese Erzählung stellenweise wortwörtlich beibehält und sie dennoch mit einem
schamlos vergnügten Lächeln auf das Gebiet erotischer Enttäuschung und so der
Zote hinüberspielt.

Doch nur, wo er sich eben an gegebene Kunstformen klammern kann, nur
in der Travestie also, bringt Nestroy etwas Bedeutendes zustande, oder viel¬
mehr er selber bringt es nicht zustande, sondern er hat eben den Vorteil eines
künstlerischen Ablagerungsplatzes für seinen Witz. Wo er ins Leben selber greift
(und nur hier kann er doch das Mehr-als-Kuriose schaffen), da vermag er nie¬
mals unter die Oberfläche zu dringen, die seelischen Greiforgane dazu fehlen
ihm. Zwar sein Biograph Moritz Necker nennt eine Reihe von Stücken, in
denen Nestroy auch tiefere "Fragen" behandelt habe; aber gerade in solchen
Possen zeigt sich die ganze Kläglichkeit der Nestroyschen Kunst, und gerade hier
bewahrheitet sich zumeist N. M. Meyers bitterböses Wort von den "Hauben¬
stöcken", auf denen Nestroys Witze hingen. Denn immer werden die tieferen
Themen ebenso plump wie flüchtig angeschlagen, immer geht es sofort wieder
an das übliche Spaßmacher, und wenn ein Hanswurst mit banalen oder frechen
Scherzen an sich eine Weile zu unterhalten vermag, so verstimmt er um so
ernstlicher, sobald er behauptet, mit seinen Scherzen einer ernsthafterer Sache


Grenzboten I 1912 66
Raimund und Nestroy

Art Meisterstück geliefert: neben Hebbels „Judith" wird die Travestie „Judith
und Holofernes" dauernden Kuriositätswert besitzen. Wie sich fallender Schnee
gleichmäßig auf jedes in seinem Bereich befindliche Dach legt, einerlei, ob es
eine Hütte oder ein Schloß deckt, ganz so gleichmäßig und gefühllos für die
in Betracht kommenden Werte breitet sich Nestroys glitzernder Witz über
alle Höhen und Tiefen des Hebbelschen Dramas. Der Dichter schildert die
kriegerische Verzweiflung der Hebräer, der Parodist malt eine unkriegerische,
undisziplinierte Rotte. Assad kommandiert: „Links g'schaut!" und Hosea erwidert:
„Warum? Links is garnix, warum sollen wir schauen links? Was ist da zu
sehen?" Der Dichter läßt den Stummen gottbegeisterte Sprache gewinnen, bei
Nestroy wird Daniel der Rede mächtig, um zur Steinigung seines Schneiders
und Gläubigers aufzufordern. Hebbels Holofernes ist ein genialischer Gigant,
Nestroys im Grunde genommen genau dasselbe, aber so beleuchtet, daß sein
Übermaß zum komisch täppischen Wesen wird. Er ersticht ein paar Leute, über die
er sich ärgert, und befiehlt, bevor Judith hereingeführt wird: „Laßt aber erst 's
Zelt ordentlich zusammenräumen, überall lieg'n Erstochene herum . . . nur keine
Schlamperei." Hebbels Judith wird in ein seltsam mystisches Licht gesetzt durch
die Erzählung von ihrem unberührten Frauentum, und es geht von dieser Szene
so sehr der Schauer des Übernatürlichen ans, daß kein unreines Gefühl aus¬
zukommen vermag. Nestroy vollbringt seinen bedeutendsten Streich, indem er
diese Erzählung stellenweise wortwörtlich beibehält und sie dennoch mit einem
schamlos vergnügten Lächeln auf das Gebiet erotischer Enttäuschung und so der
Zote hinüberspielt.

Doch nur, wo er sich eben an gegebene Kunstformen klammern kann, nur
in der Travestie also, bringt Nestroy etwas Bedeutendes zustande, oder viel¬
mehr er selber bringt es nicht zustande, sondern er hat eben den Vorteil eines
künstlerischen Ablagerungsplatzes für seinen Witz. Wo er ins Leben selber greift
(und nur hier kann er doch das Mehr-als-Kuriose schaffen), da vermag er nie¬
mals unter die Oberfläche zu dringen, die seelischen Greiforgane dazu fehlen
ihm. Zwar sein Biograph Moritz Necker nennt eine Reihe von Stücken, in
denen Nestroy auch tiefere „Fragen" behandelt habe; aber gerade in solchen
Possen zeigt sich die ganze Kläglichkeit der Nestroyschen Kunst, und gerade hier
bewahrheitet sich zumeist N. M. Meyers bitterböses Wort von den „Hauben¬
stöcken", auf denen Nestroys Witze hingen. Denn immer werden die tieferen
Themen ebenso plump wie flüchtig angeschlagen, immer geht es sofort wieder
an das übliche Spaßmacher, und wenn ein Hanswurst mit banalen oder frechen
Scherzen an sich eine Weile zu unterhalten vermag, so verstimmt er um so
ernstlicher, sobald er behauptet, mit seinen Scherzen einer ernsthafterer Sache


Grenzboten I 1912 66
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[0445] Raimund und Nestroy Art Meisterstück geliefert: neben Hebbels „Judith" wird die Travestie „Judith und Holofernes" dauernden Kuriositätswert besitzen. Wie sich fallender Schnee gleichmäßig auf jedes in seinem Bereich befindliche Dach legt, einerlei, ob es eine Hütte oder ein Schloß deckt, ganz so gleichmäßig und gefühllos für die in Betracht kommenden Werte breitet sich Nestroys glitzernder Witz über alle Höhen und Tiefen des Hebbelschen Dramas. Der Dichter schildert die kriegerische Verzweiflung der Hebräer, der Parodist malt eine unkriegerische, undisziplinierte Rotte. Assad kommandiert: „Links g'schaut!" und Hosea erwidert: „Warum? Links is garnix, warum sollen wir schauen links? Was ist da zu sehen?" Der Dichter läßt den Stummen gottbegeisterte Sprache gewinnen, bei Nestroy wird Daniel der Rede mächtig, um zur Steinigung seines Schneiders und Gläubigers aufzufordern. Hebbels Holofernes ist ein genialischer Gigant, Nestroys im Grunde genommen genau dasselbe, aber so beleuchtet, daß sein Übermaß zum komisch täppischen Wesen wird. Er ersticht ein paar Leute, über die er sich ärgert, und befiehlt, bevor Judith hereingeführt wird: „Laßt aber erst 's Zelt ordentlich zusammenräumen, überall lieg'n Erstochene herum . . . nur keine Schlamperei." Hebbels Judith wird in ein seltsam mystisches Licht gesetzt durch die Erzählung von ihrem unberührten Frauentum, und es geht von dieser Szene so sehr der Schauer des Übernatürlichen ans, daß kein unreines Gefühl aus¬ zukommen vermag. Nestroy vollbringt seinen bedeutendsten Streich, indem er diese Erzählung stellenweise wortwörtlich beibehält und sie dennoch mit einem schamlos vergnügten Lächeln auf das Gebiet erotischer Enttäuschung und so der Zote hinüberspielt. Doch nur, wo er sich eben an gegebene Kunstformen klammern kann, nur in der Travestie also, bringt Nestroy etwas Bedeutendes zustande, oder viel¬ mehr er selber bringt es nicht zustande, sondern er hat eben den Vorteil eines künstlerischen Ablagerungsplatzes für seinen Witz. Wo er ins Leben selber greift (und nur hier kann er doch das Mehr-als-Kuriose schaffen), da vermag er nie¬ mals unter die Oberfläche zu dringen, die seelischen Greiforgane dazu fehlen ihm. Zwar sein Biograph Moritz Necker nennt eine Reihe von Stücken, in denen Nestroy auch tiefere „Fragen" behandelt habe; aber gerade in solchen Possen zeigt sich die ganze Kläglichkeit der Nestroyschen Kunst, und gerade hier bewahrheitet sich zumeist N. M. Meyers bitterböses Wort von den „Hauben¬ stöcken", auf denen Nestroys Witze hingen. Denn immer werden die tieferen Themen ebenso plump wie flüchtig angeschlagen, immer geht es sofort wieder an das übliche Spaßmacher, und wenn ein Hanswurst mit banalen oder frechen Scherzen an sich eine Weile zu unterhalten vermag, so verstimmt er um so ernstlicher, sobald er behauptet, mit seinen Scherzen einer ernsthafterer Sache Grenzboten I 1912 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/445>, abgerufen am 27.09.2024.