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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Soziale Aufgaben der private" Lebensversicherung

Die Wirkung des Versicherungszwanges zeichnet sich allerdings dadurch aus,
daß der materielle Vorteil des "Versichertseins" bei allen Versicherungspflichtigen
sicher und lückenlos erreicht wird. Die Bedeutung der freiwilligen Versicherung
geht aber über diesen materiellen Erfolg weit hinaus, indem das "Sichversichern",
die auf freier Entschließung und eigener Durchführung beruhende Versicherung,
eine innere Befriedigung und Stärkung der sittlichen Kraft bedeutet, die kein
Zwang zu verleihen vermag.

Dazu kommt noch, daß jede Zwangsversicherung unvermeidlich die Massen
mehr oder minder nach Durchschnittssätzeu, also schablonenmäßig, behandeln wird,
während eine Anpassung an die individuelle Mannigfaltigkeit des Versicherungs¬
bedürfnisses nur bei freiwilliger Versicherung möglich ist.

Es ist wichtig und in hohem Grade erfreulich, daß gerade von Freunden
der Zwangsversicherung vor einer Überspannung des Gedankens des Versicherungs¬
zwanges gewarnt und darauf hingewiesen wird, daß die Sozialversicherung sich
nur zur Aufgabe setzen darf, ein im Interesse der Allgemeinheit notwendiges
Mindestmaß von Zukunftsfürsorge zu erzwingen, daß darüber hinaus zwar in
weitem Umfange für die Arbeiterwelt wie für die unbemittelteren Schichten des
Mittelstandes (Angestellte, Kleingewerbetreibende, Handwerker) ein dringendes
Bedürfnis zu ausgiebigerem Versicherungsschutz anzuerkennen ist, daß diese weiter¬
gehende Fürsorge aber am zweckmäßigsten durch freiwillige Versicherung zu
bewirken ist. von Staat und Gesellschaft wohl angeregt, erleichtert und gefördert,
nicht aber mit Zwangsvorschriften gefordert werden sollte.

Erwägt man nun, welche Mittel und Wege sich darbieten, um eine engere
Verbindung und ein gedeihliches Zusammenwirken zwischen öffentlicher und
privater Versicherung herbeizuführen derart, daß zugunsten der dem Versicherungs¬
zwang unterworfenen Bevölkerungsschichten eine Ergänzung der durch die öffent¬
liche Versicherung erzwungenen Mindestfürsorge durch hinzutretende, auf frei¬
williger Versicherung beruhende Leistungen privater Versicherungsunternehmungcn
möglichst gefördert und erleichtert wird, so kommt es praktisch vor allem darauf
an, die private Kapitalversicherung für diese soziale Aufgabe in möglichst weitem
Umfange nutzbar zu machen. Es soll nicht geleugnet werden, daß auch eine
Ergänzung der öffentlich-rechtlichen Krankenfürsorge erwünscht und durch sogenannte
Zuschußkassen tatsächlich erreicht wird, und daß vielfach auch eine Erhöhung der
Alters-, Invaliden^, Witwen- und Waisenrenten durch freiwillige Versicherung
erstrebenswert erscheint; aber unvergleichlich wichtiger ist es, auf eine Ergänzung
der öffentlich-rechtlichen Versicherungsleistungen durch eine den wirtschaftlichen
Verhältnissen der betreffenden Kreise angepaßte Kapitalversicherung hinzuwirken.
Hierauf weist das dringendste Bedürfnis und vor allem auch der Umstand hin,
daß auf diesen: Gebiete mit kleinen, aber regelmäßig fortgesetzten Prämien ein
für die Minderbemittelten immerhin außerordentlich segensreicher Versicherungs¬
schutz erreichbar ist, während jede Rentenversicherung mit den unvermeidlich
hohen Prämienzahlungen meist über die Kraft der hier in Betracht kommenden


Grenzboten I 1912 54
Soziale Aufgaben der private» Lebensversicherung

Die Wirkung des Versicherungszwanges zeichnet sich allerdings dadurch aus,
daß der materielle Vorteil des „Versichertseins" bei allen Versicherungspflichtigen
sicher und lückenlos erreicht wird. Die Bedeutung der freiwilligen Versicherung
geht aber über diesen materiellen Erfolg weit hinaus, indem das „Sichversichern",
die auf freier Entschließung und eigener Durchführung beruhende Versicherung,
eine innere Befriedigung und Stärkung der sittlichen Kraft bedeutet, die kein
Zwang zu verleihen vermag.

Dazu kommt noch, daß jede Zwangsversicherung unvermeidlich die Massen
mehr oder minder nach Durchschnittssätzeu, also schablonenmäßig, behandeln wird,
während eine Anpassung an die individuelle Mannigfaltigkeit des Versicherungs¬
bedürfnisses nur bei freiwilliger Versicherung möglich ist.

Es ist wichtig und in hohem Grade erfreulich, daß gerade von Freunden
der Zwangsversicherung vor einer Überspannung des Gedankens des Versicherungs¬
zwanges gewarnt und darauf hingewiesen wird, daß die Sozialversicherung sich
nur zur Aufgabe setzen darf, ein im Interesse der Allgemeinheit notwendiges
Mindestmaß von Zukunftsfürsorge zu erzwingen, daß darüber hinaus zwar in
weitem Umfange für die Arbeiterwelt wie für die unbemittelteren Schichten des
Mittelstandes (Angestellte, Kleingewerbetreibende, Handwerker) ein dringendes
Bedürfnis zu ausgiebigerem Versicherungsschutz anzuerkennen ist, daß diese weiter¬
gehende Fürsorge aber am zweckmäßigsten durch freiwillige Versicherung zu
bewirken ist. von Staat und Gesellschaft wohl angeregt, erleichtert und gefördert,
nicht aber mit Zwangsvorschriften gefordert werden sollte.

Erwägt man nun, welche Mittel und Wege sich darbieten, um eine engere
Verbindung und ein gedeihliches Zusammenwirken zwischen öffentlicher und
privater Versicherung herbeizuführen derart, daß zugunsten der dem Versicherungs¬
zwang unterworfenen Bevölkerungsschichten eine Ergänzung der durch die öffent¬
liche Versicherung erzwungenen Mindestfürsorge durch hinzutretende, auf frei¬
williger Versicherung beruhende Leistungen privater Versicherungsunternehmungcn
möglichst gefördert und erleichtert wird, so kommt es praktisch vor allem darauf
an, die private Kapitalversicherung für diese soziale Aufgabe in möglichst weitem
Umfange nutzbar zu machen. Es soll nicht geleugnet werden, daß auch eine
Ergänzung der öffentlich-rechtlichen Krankenfürsorge erwünscht und durch sogenannte
Zuschußkassen tatsächlich erreicht wird, und daß vielfach auch eine Erhöhung der
Alters-, Invaliden^, Witwen- und Waisenrenten durch freiwillige Versicherung
erstrebenswert erscheint; aber unvergleichlich wichtiger ist es, auf eine Ergänzung
der öffentlich-rechtlichen Versicherungsleistungen durch eine den wirtschaftlichen
Verhältnissen der betreffenden Kreise angepaßte Kapitalversicherung hinzuwirken.
Hierauf weist das dringendste Bedürfnis und vor allem auch der Umstand hin,
daß auf diesen: Gebiete mit kleinen, aber regelmäßig fortgesetzten Prämien ein
für die Minderbemittelten immerhin außerordentlich segensreicher Versicherungs¬
schutz erreichbar ist, während jede Rentenversicherung mit den unvermeidlich
hohen Prämienzahlungen meist über die Kraft der hier in Betracht kommenden


Grenzboten I 1912 54
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[0429] Soziale Aufgaben der private» Lebensversicherung Die Wirkung des Versicherungszwanges zeichnet sich allerdings dadurch aus, daß der materielle Vorteil des „Versichertseins" bei allen Versicherungspflichtigen sicher und lückenlos erreicht wird. Die Bedeutung der freiwilligen Versicherung geht aber über diesen materiellen Erfolg weit hinaus, indem das „Sichversichern", die auf freier Entschließung und eigener Durchführung beruhende Versicherung, eine innere Befriedigung und Stärkung der sittlichen Kraft bedeutet, die kein Zwang zu verleihen vermag. Dazu kommt noch, daß jede Zwangsversicherung unvermeidlich die Massen mehr oder minder nach Durchschnittssätzeu, also schablonenmäßig, behandeln wird, während eine Anpassung an die individuelle Mannigfaltigkeit des Versicherungs¬ bedürfnisses nur bei freiwilliger Versicherung möglich ist. Es ist wichtig und in hohem Grade erfreulich, daß gerade von Freunden der Zwangsversicherung vor einer Überspannung des Gedankens des Versicherungs¬ zwanges gewarnt und darauf hingewiesen wird, daß die Sozialversicherung sich nur zur Aufgabe setzen darf, ein im Interesse der Allgemeinheit notwendiges Mindestmaß von Zukunftsfürsorge zu erzwingen, daß darüber hinaus zwar in weitem Umfange für die Arbeiterwelt wie für die unbemittelteren Schichten des Mittelstandes (Angestellte, Kleingewerbetreibende, Handwerker) ein dringendes Bedürfnis zu ausgiebigerem Versicherungsschutz anzuerkennen ist, daß diese weiter¬ gehende Fürsorge aber am zweckmäßigsten durch freiwillige Versicherung zu bewirken ist. von Staat und Gesellschaft wohl angeregt, erleichtert und gefördert, nicht aber mit Zwangsvorschriften gefordert werden sollte. Erwägt man nun, welche Mittel und Wege sich darbieten, um eine engere Verbindung und ein gedeihliches Zusammenwirken zwischen öffentlicher und privater Versicherung herbeizuführen derart, daß zugunsten der dem Versicherungs¬ zwang unterworfenen Bevölkerungsschichten eine Ergänzung der durch die öffent¬ liche Versicherung erzwungenen Mindestfürsorge durch hinzutretende, auf frei¬ williger Versicherung beruhende Leistungen privater Versicherungsunternehmungcn möglichst gefördert und erleichtert wird, so kommt es praktisch vor allem darauf an, die private Kapitalversicherung für diese soziale Aufgabe in möglichst weitem Umfange nutzbar zu machen. Es soll nicht geleugnet werden, daß auch eine Ergänzung der öffentlich-rechtlichen Krankenfürsorge erwünscht und durch sogenannte Zuschußkassen tatsächlich erreicht wird, und daß vielfach auch eine Erhöhung der Alters-, Invaliden^, Witwen- und Waisenrenten durch freiwillige Versicherung erstrebenswert erscheint; aber unvergleichlich wichtiger ist es, auf eine Ergänzung der öffentlich-rechtlichen Versicherungsleistungen durch eine den wirtschaftlichen Verhältnissen der betreffenden Kreise angepaßte Kapitalversicherung hinzuwirken. Hierauf weist das dringendste Bedürfnis und vor allem auch der Umstand hin, daß auf diesen: Gebiete mit kleinen, aber regelmäßig fortgesetzten Prämien ein für die Minderbemittelten immerhin außerordentlich segensreicher Versicherungs¬ schutz erreichbar ist, während jede Rentenversicherung mit den unvermeidlich hohen Prämienzahlungen meist über die Kraft der hier in Betracht kommenden Grenzboten I 1912 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/429>, abgerufen am 27.09.2024.