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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

bleiben, wenn Herr Scheidemann von seinem Posten als Vizepräsident wiche
und wenn an seine Stelle eine Persönlichkeit aus der sozialdemokratischen Partei
träte, die sich speziell dem Monarchen gegenüber noch nicht in dem Maße
kompromittierte, wie Herr Scheidemann es getan. Um diesen Preis könnte die
nationalliberale Fraktion der Linken um so mehr erhalten bleiben, weil die
Sozialdemokraten durch ihr Nachgeben klipp und klar zum Ausdruck brächten,
daß sie ernsthaft auf den Weg geordneter staatsbürgerlicher Mitarbeit einlenken
und somit die Kladderadatschtheorie fallen lassen. Gehen die Sozialdemokraten
auf diesen Vorschlag nicht ein, und dieser Ausgang scheint mir fast der wahr¬
scheinlichere, so wird die Stellung der nationalliberalen Fraktion erheblich
erschwert, und niemand dürfte dem einzelnen einen Vorwurf daraus machen,
wenn er unter solchen Umständen auf ein Zusammenarbeiten mit den Sozial¬
demokraten verzichtete. Damit würde freilich das erreicht, was die Rechte an¬
strebt: aus einem reformfreudigen Reichstage würde ein sogenannter "arbeits¬
fähiger", der die politische Spannung der Beziehungen zwischen Negierung und
Parteien und den Parteien unter sich nur noch verstärkte. Aber die Sozial¬
demokratie wäre so sehr auf den Standpunkt der reinen Negation zurückgesunken,
daß sie sich als untauglich zu gewissenhafter Reformarbeit erwies.




Es ist selbstverständlich, daß die durch die Schaffung eines Präsidiums der
Linken in ihrer Bedeutung zurückgedrängten Rechtsparteien mit Vorwürfen und
Verdächtigungen nicht sparen werden, wenn die Nationalliberalen sich die Sozial¬
demokraten zu Weggenossen erwählen. Die Liberalen sollten die Schmähungen
nicht tragisch nehmen. Höheres steht auf dem Spiel als die Gunst der Rechten
und wenn diese auch grollt, so würde sie in analogen Fällen nicht zögern für
die Sozialdemokraten zu optieren, sofern solches dem Interesse des Vaterlandes,
wie sie es im Augenblick auffassen, entspräche. Erst die Wahlen haben gezeigt,
daß die Konservativen sich von Sentimentalitäten zu befreien wissen. Ich habe
mir die Mühe gemacht, die Wahlkreise festzustellen, in denen die bürgerlichen
Parteien -- von der Zentrumspartei wird dabei abgesehen -- den Sozialdemokraten
die Mandate "geschenkt" haben, d. h. wo es in der Hand des Bürgertums lag
den Sieg der Roten zu verhindern. Es sind dies nicht weniger als dreiunddreißig!
Von diesen dreiunddreißig Mandaten verdanken die Sozialdemokraten allein sieben
den Konservativen!

Es muß diese Tatsache an dieser Stelle hervorgehoben werden, nicht um
die Konservativen dafür zu tadeln, sondern um die beweglichen Klagen derer
unter ihnen in das richtige Licht zu setzen, die das Verhalten der Liberalen
wegen genau desselben "Vergehens" als Verrat an der Sache der Monarchie
und des Bürgertums brandmarken und die den Liberalen anläßlich der Präsi¬
dentenwahl wegen ihrer Abstimmung zugunsten des Sozialdemokraten einen
Strick drehen wollen. Wer von national gesinnten Männern konservativer oder


Reichsspiegel

bleiben, wenn Herr Scheidemann von seinem Posten als Vizepräsident wiche
und wenn an seine Stelle eine Persönlichkeit aus der sozialdemokratischen Partei
träte, die sich speziell dem Monarchen gegenüber noch nicht in dem Maße
kompromittierte, wie Herr Scheidemann es getan. Um diesen Preis könnte die
nationalliberale Fraktion der Linken um so mehr erhalten bleiben, weil die
Sozialdemokraten durch ihr Nachgeben klipp und klar zum Ausdruck brächten,
daß sie ernsthaft auf den Weg geordneter staatsbürgerlicher Mitarbeit einlenken
und somit die Kladderadatschtheorie fallen lassen. Gehen die Sozialdemokraten
auf diesen Vorschlag nicht ein, und dieser Ausgang scheint mir fast der wahr¬
scheinlichere, so wird die Stellung der nationalliberalen Fraktion erheblich
erschwert, und niemand dürfte dem einzelnen einen Vorwurf daraus machen,
wenn er unter solchen Umständen auf ein Zusammenarbeiten mit den Sozial¬
demokraten verzichtete. Damit würde freilich das erreicht, was die Rechte an¬
strebt: aus einem reformfreudigen Reichstage würde ein sogenannter „arbeits¬
fähiger", der die politische Spannung der Beziehungen zwischen Negierung und
Parteien und den Parteien unter sich nur noch verstärkte. Aber die Sozial¬
demokratie wäre so sehr auf den Standpunkt der reinen Negation zurückgesunken,
daß sie sich als untauglich zu gewissenhafter Reformarbeit erwies.




Es ist selbstverständlich, daß die durch die Schaffung eines Präsidiums der
Linken in ihrer Bedeutung zurückgedrängten Rechtsparteien mit Vorwürfen und
Verdächtigungen nicht sparen werden, wenn die Nationalliberalen sich die Sozial¬
demokraten zu Weggenossen erwählen. Die Liberalen sollten die Schmähungen
nicht tragisch nehmen. Höheres steht auf dem Spiel als die Gunst der Rechten
und wenn diese auch grollt, so würde sie in analogen Fällen nicht zögern für
die Sozialdemokraten zu optieren, sofern solches dem Interesse des Vaterlandes,
wie sie es im Augenblick auffassen, entspräche. Erst die Wahlen haben gezeigt,
daß die Konservativen sich von Sentimentalitäten zu befreien wissen. Ich habe
mir die Mühe gemacht, die Wahlkreise festzustellen, in denen die bürgerlichen
Parteien — von der Zentrumspartei wird dabei abgesehen — den Sozialdemokraten
die Mandate „geschenkt" haben, d. h. wo es in der Hand des Bürgertums lag
den Sieg der Roten zu verhindern. Es sind dies nicht weniger als dreiunddreißig!
Von diesen dreiunddreißig Mandaten verdanken die Sozialdemokraten allein sieben
den Konservativen!

Es muß diese Tatsache an dieser Stelle hervorgehoben werden, nicht um
die Konservativen dafür zu tadeln, sondern um die beweglichen Klagen derer
unter ihnen in das richtige Licht zu setzen, die das Verhalten der Liberalen
wegen genau desselben „Vergehens" als Verrat an der Sache der Monarchie
und des Bürgertums brandmarken und die den Liberalen anläßlich der Präsi¬
dentenwahl wegen ihrer Abstimmung zugunsten des Sozialdemokraten einen
Strick drehen wollen. Wer von national gesinnten Männern konservativer oder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/360>, abgerufen am 27.09.2024.