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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

nicht nur zum Schaden der Rechtsparteien, sondern auch zum Schaden der
Liberalen. Die konservativen Gruppen mit Zentrum und Polen haben allein 47,
die Liberalen allein 10 Mandate zugunsten der Sozialdemokraten verloren.
Alle anderen Parolen haben nicht gezogen, wenn sie nicht zugleich "Front gegen
rechts" bedeuteten. Herrn v. Heydebrands Hervorholen der nationalen Flagge
ist nur den Gegnern der Konservativen zugute gekommen, weil das Auftreten
des Agrariers zu deutlich den Stempel der Wahlmache zeigte. Die Konservativen,
deren Presse während des Sommers eine höchst würdige und verständnisvolle
Haltung in der Marokkofrage eingenommen hatte, waren durch den neuerlichen
Sieg der Heydebrandschen Richtung gezwungen, mit falscher Front zu fechten,
wie seinerzeit bei der Reichsfinanzreform. Darum deckten sie auch so viel
Angriffspunkte auf und erschwerten Freunden die Sammlung. Auch ihre
Taktik, sich mit dem angeblichen Erfolge der Neichsfinanzreform zu brüsten,
konnte und mußte gegen sie ausgenutzt werden. Streichholz- und Stempel¬
steuer waren trotz ihrer finanziellen Geringfügigkeit willkommene Agi¬
tationsmittel bei den Bauern gegen die Konservativen. Schließlich konnte
gegen die Konservativen auch ihre Freundschaft mit der bestgehaßten Partei,
mit dem Zentrum, ins Feld geführt werden. Man beginnt doch mehr und mehr
einzusehen, daß die ultramontane Gefahr für die Entwicklung des Deutschtums,
wenn nicht größer, so doch mindestens ebenso groß ist wie die sozialdemokratische,
und jede Partei, die dieser Erkenmnis nicht Rechnung trägt, muß dafür büßen.
Im abgelaufenen Wahlkamvfe haben die Konservativen noch eine Schuld auf ihr
Konto geladen: Die Vermehrung der Weisen, also gleichfalls einer Gruppe,
deren politische Hoffnungen außerhalb Deutschlands liegen. Die konservative
Partei wird sich sehr sorgfältig auf die Grundlagen konservativen Denkens
besinnen müssen, wenn sie bis zu den nächsten Wahlen ihre alte Bedeutung
wieder gewinnen will. Mit Herrn v. Heydebrand als Führer dürfte sie indessen
ohne fremde Hilfe zu diesem Ziele nicht gelangen.

Die Liberalen konnten ihre Kräfte und Organisationen nicht in dem Maße
entfalten, wie es unter anderen Nebenumständen denkbar gewesen wäre. Auch
sie waren von Anfang an falsch angesetzt. Sie mußten hoffen, von der
Regierung gestützt zu werden durch eine den Konservativen nicht gerade
willkommene Sammelparole. Darin sahen sie sich getäuscht und so trat
gerade bei den Liberalen eine Zersplitterung ein, wie sie nie zuvor zu
beobachten war. In einem oberschlesischen Wahlkreise gab es sogar zwei
nationalliberale Kandidaten!

Alle diese Umstände und der Haß gegen das Zentrum mußten der Partei
zugute kommen, die keinerlei Rücksicht zu nehmen brauchte und darum ihr Ziel:
"Kampf gegen die verrottete bürgerliche Gesellschaft" unbeirrt durchführen konnte,
der Soziaioemokratie. Die Sozialdemokratie hat nicht nur Mandate, sondern
auch Stimmen in einer Weise gewonnen, die es den führenden Männern im
Reiche doch nahe legen sollte, sich die Frage vorzulegen, ob daran allein die


Reichsspiegel

nicht nur zum Schaden der Rechtsparteien, sondern auch zum Schaden der
Liberalen. Die konservativen Gruppen mit Zentrum und Polen haben allein 47,
die Liberalen allein 10 Mandate zugunsten der Sozialdemokraten verloren.
Alle anderen Parolen haben nicht gezogen, wenn sie nicht zugleich „Front gegen
rechts" bedeuteten. Herrn v. Heydebrands Hervorholen der nationalen Flagge
ist nur den Gegnern der Konservativen zugute gekommen, weil das Auftreten
des Agrariers zu deutlich den Stempel der Wahlmache zeigte. Die Konservativen,
deren Presse während des Sommers eine höchst würdige und verständnisvolle
Haltung in der Marokkofrage eingenommen hatte, waren durch den neuerlichen
Sieg der Heydebrandschen Richtung gezwungen, mit falscher Front zu fechten,
wie seinerzeit bei der Reichsfinanzreform. Darum deckten sie auch so viel
Angriffspunkte auf und erschwerten Freunden die Sammlung. Auch ihre
Taktik, sich mit dem angeblichen Erfolge der Neichsfinanzreform zu brüsten,
konnte und mußte gegen sie ausgenutzt werden. Streichholz- und Stempel¬
steuer waren trotz ihrer finanziellen Geringfügigkeit willkommene Agi¬
tationsmittel bei den Bauern gegen die Konservativen. Schließlich konnte
gegen die Konservativen auch ihre Freundschaft mit der bestgehaßten Partei,
mit dem Zentrum, ins Feld geführt werden. Man beginnt doch mehr und mehr
einzusehen, daß die ultramontane Gefahr für die Entwicklung des Deutschtums,
wenn nicht größer, so doch mindestens ebenso groß ist wie die sozialdemokratische,
und jede Partei, die dieser Erkenmnis nicht Rechnung trägt, muß dafür büßen.
Im abgelaufenen Wahlkamvfe haben die Konservativen noch eine Schuld auf ihr
Konto geladen: Die Vermehrung der Weisen, also gleichfalls einer Gruppe,
deren politische Hoffnungen außerhalb Deutschlands liegen. Die konservative
Partei wird sich sehr sorgfältig auf die Grundlagen konservativen Denkens
besinnen müssen, wenn sie bis zu den nächsten Wahlen ihre alte Bedeutung
wieder gewinnen will. Mit Herrn v. Heydebrand als Führer dürfte sie indessen
ohne fremde Hilfe zu diesem Ziele nicht gelangen.

Die Liberalen konnten ihre Kräfte und Organisationen nicht in dem Maße
entfalten, wie es unter anderen Nebenumständen denkbar gewesen wäre. Auch
sie waren von Anfang an falsch angesetzt. Sie mußten hoffen, von der
Regierung gestützt zu werden durch eine den Konservativen nicht gerade
willkommene Sammelparole. Darin sahen sie sich getäuscht und so trat
gerade bei den Liberalen eine Zersplitterung ein, wie sie nie zuvor zu
beobachten war. In einem oberschlesischen Wahlkreise gab es sogar zwei
nationalliberale Kandidaten!

Alle diese Umstände und der Haß gegen das Zentrum mußten der Partei
zugute kommen, die keinerlei Rücksicht zu nehmen brauchte und darum ihr Ziel:
„Kampf gegen die verrottete bürgerliche Gesellschaft" unbeirrt durchführen konnte,
der Soziaioemokratie. Die Sozialdemokratie hat nicht nur Mandate, sondern
auch Stimmen in einer Weise gewonnen, die es den führenden Männern im
Reiche doch nahe legen sollte, sich die Frage vorzulegen, ob daran allein die


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[0263] Reichsspiegel nicht nur zum Schaden der Rechtsparteien, sondern auch zum Schaden der Liberalen. Die konservativen Gruppen mit Zentrum und Polen haben allein 47, die Liberalen allein 10 Mandate zugunsten der Sozialdemokraten verloren. Alle anderen Parolen haben nicht gezogen, wenn sie nicht zugleich „Front gegen rechts" bedeuteten. Herrn v. Heydebrands Hervorholen der nationalen Flagge ist nur den Gegnern der Konservativen zugute gekommen, weil das Auftreten des Agrariers zu deutlich den Stempel der Wahlmache zeigte. Die Konservativen, deren Presse während des Sommers eine höchst würdige und verständnisvolle Haltung in der Marokkofrage eingenommen hatte, waren durch den neuerlichen Sieg der Heydebrandschen Richtung gezwungen, mit falscher Front zu fechten, wie seinerzeit bei der Reichsfinanzreform. Darum deckten sie auch so viel Angriffspunkte auf und erschwerten Freunden die Sammlung. Auch ihre Taktik, sich mit dem angeblichen Erfolge der Neichsfinanzreform zu brüsten, konnte und mußte gegen sie ausgenutzt werden. Streichholz- und Stempel¬ steuer waren trotz ihrer finanziellen Geringfügigkeit willkommene Agi¬ tationsmittel bei den Bauern gegen die Konservativen. Schließlich konnte gegen die Konservativen auch ihre Freundschaft mit der bestgehaßten Partei, mit dem Zentrum, ins Feld geführt werden. Man beginnt doch mehr und mehr einzusehen, daß die ultramontane Gefahr für die Entwicklung des Deutschtums, wenn nicht größer, so doch mindestens ebenso groß ist wie die sozialdemokratische, und jede Partei, die dieser Erkenmnis nicht Rechnung trägt, muß dafür büßen. Im abgelaufenen Wahlkamvfe haben die Konservativen noch eine Schuld auf ihr Konto geladen: Die Vermehrung der Weisen, also gleichfalls einer Gruppe, deren politische Hoffnungen außerhalb Deutschlands liegen. Die konservative Partei wird sich sehr sorgfältig auf die Grundlagen konservativen Denkens besinnen müssen, wenn sie bis zu den nächsten Wahlen ihre alte Bedeutung wieder gewinnen will. Mit Herrn v. Heydebrand als Führer dürfte sie indessen ohne fremde Hilfe zu diesem Ziele nicht gelangen. Die Liberalen konnten ihre Kräfte und Organisationen nicht in dem Maße entfalten, wie es unter anderen Nebenumständen denkbar gewesen wäre. Auch sie waren von Anfang an falsch angesetzt. Sie mußten hoffen, von der Regierung gestützt zu werden durch eine den Konservativen nicht gerade willkommene Sammelparole. Darin sahen sie sich getäuscht und so trat gerade bei den Liberalen eine Zersplitterung ein, wie sie nie zuvor zu beobachten war. In einem oberschlesischen Wahlkreise gab es sogar zwei nationalliberale Kandidaten! Alle diese Umstände und der Haß gegen das Zentrum mußten der Partei zugute kommen, die keinerlei Rücksicht zu nehmen brauchte und darum ihr Ziel: „Kampf gegen die verrottete bürgerliche Gesellschaft" unbeirrt durchführen konnte, der Soziaioemokratie. Die Sozialdemokratie hat nicht nur Mandate, sondern auch Stimmen in einer Weise gewonnen, die es den führenden Männern im Reiche doch nahe legen sollte, sich die Frage vorzulegen, ob daran allein die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/263>, abgerufen am 29.12.2024.