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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die Fremdenrechte in der Türkei

inneren Landesangelegenheiten genommen gewesen. Es scheint nicht unbedingt
sicher, ob nicht der Krieg in seinem weiteren Verlaufe eine Aufrollung der gesamten
ägyptischen Frage, beginnend gerade mit der der gemischten Gerichte, bringen wird.

Die größte Rolle hat das Kapitulationenrecht in der letzten Zeit in der
Türkei gespielt, da es von der Pforte nach Ausbruch des Krieges mit Italien
für die im Lande ansässigen Italiener sofort außer Kraft gesetzt wurde. In
den künftigen Friedensverhandlungen wird diese Frage sicherlich noch mehr hervor¬
treten; und da ihre Lösung für die anderen Mächte leicht unmittelbare Folgen
nach sich ziehen kann, darf sie besonderes Interesse beanspruchen, welches über
dasjenige eines Völkerrechtsgelehrten an ihren sonderbaren, dem modernen Staate
so fremdartigen Erscheinungsformen weit hinaus geht.

Eigentümlicherweise ist die Behandlung der Kapitulationenrechte durch
die Türkei in ihrer eigentlichen auswärtigen Politik ganz anderer Art als im
eigenen Lande. In Persien benutzt sie die ihr gegen Zusicherurig der Gegen¬
seitigkeit zugestandenen Kapitulationen zur gelegentlichen Entsendung von Kon¬
sulatswachen in die Gebiete, die sie bei einer Teilung Persiens für sich zu
gewinnen hofft. Im Lande selbst sieht sie dagegen die fremden Botschaftswachen
und Stationsschiffe als eine unauslöschliche Schmach an. Auch die Aufhebung
der Kapitulationen für Ägypten würde sie nur zum Teil gern sehen. Denn
wenn diese Tatsache ihr auch als Hinweis dienen könnte, daß in einem mohamme¬
danischen Staate die Abendländer auch ohne den besonderen Schutz der Kapitula¬
tionen leben können, so gilt doch anderseits der Grundsatz, daß die Kapitula¬
tionen ein dem Sultan unterstehendes Gebiet wie eine Grunddienstbarkeit belasten
und bei dem Eintritt einer zeitweiligen fremden Herrschaft lediglich ruhen.
So ist es heute in Cypern und Kreta, so war es bis 1908 in Bosnien-Herzego¬
wina. Die völlige Aufhebung der Kapitulationen in Ägypten würde daher nur
ein Hinweis mehr sein, daß dies Land dem Sultan auf immer verloren ist.
Dadurch aber würde dem Kalifat von Konstantinopel ein weiterer starker Stoß
versetzt, den er bei seiner schwierigen Lage den anderen bedrängten Staaten der
mohammedanischen Welt gegenüber um so schwerer empfinden müßte.

In ihrem Wesen sind die Kapitulationen Niederlassungs-, Handels- und
Schiffahrtsverträge, welche die christlichen Staaten des Abendlandes zunächst mit
den mohammedanischen Staaten des Orients abschlossen und die, nachdem ihre
Vorzüge durch Jahrhunderte erprobt waren, in geschickter Weise durch neue
Verträge auf Marokko, Sansibar, Siam und Ostasien ausgedehnt wurden. Als
ein Gebilde des Mittelalters stehen sie zweifellos in scharfem Gegensatze zum
Gedanken des modernen Staates, der sich auf dem Begriffe der völligen Gebiets¬
hoheit aufbaut. Von weltwirtschaftlich weitdenkenden türkischen Sultanen den
italienischen Städterepubliken als Trägern des Levantehandels zugestanden, um
deren kleinen Kolonien das Leben unter der fremdenfeindlichen Bevölkerung zu
ermöglichen, haben sie durch das Hinzutreten der Territorialmächte des Abend-
Landes, durch den Machtverfall der Türkei und einen seit Jahrhunderten dauernden


Die Fremdenrechte in der Türkei

inneren Landesangelegenheiten genommen gewesen. Es scheint nicht unbedingt
sicher, ob nicht der Krieg in seinem weiteren Verlaufe eine Aufrollung der gesamten
ägyptischen Frage, beginnend gerade mit der der gemischten Gerichte, bringen wird.

Die größte Rolle hat das Kapitulationenrecht in der letzten Zeit in der
Türkei gespielt, da es von der Pforte nach Ausbruch des Krieges mit Italien
für die im Lande ansässigen Italiener sofort außer Kraft gesetzt wurde. In
den künftigen Friedensverhandlungen wird diese Frage sicherlich noch mehr hervor¬
treten; und da ihre Lösung für die anderen Mächte leicht unmittelbare Folgen
nach sich ziehen kann, darf sie besonderes Interesse beanspruchen, welches über
dasjenige eines Völkerrechtsgelehrten an ihren sonderbaren, dem modernen Staate
so fremdartigen Erscheinungsformen weit hinaus geht.

Eigentümlicherweise ist die Behandlung der Kapitulationenrechte durch
die Türkei in ihrer eigentlichen auswärtigen Politik ganz anderer Art als im
eigenen Lande. In Persien benutzt sie die ihr gegen Zusicherurig der Gegen¬
seitigkeit zugestandenen Kapitulationen zur gelegentlichen Entsendung von Kon¬
sulatswachen in die Gebiete, die sie bei einer Teilung Persiens für sich zu
gewinnen hofft. Im Lande selbst sieht sie dagegen die fremden Botschaftswachen
und Stationsschiffe als eine unauslöschliche Schmach an. Auch die Aufhebung
der Kapitulationen für Ägypten würde sie nur zum Teil gern sehen. Denn
wenn diese Tatsache ihr auch als Hinweis dienen könnte, daß in einem mohamme¬
danischen Staate die Abendländer auch ohne den besonderen Schutz der Kapitula¬
tionen leben können, so gilt doch anderseits der Grundsatz, daß die Kapitula¬
tionen ein dem Sultan unterstehendes Gebiet wie eine Grunddienstbarkeit belasten
und bei dem Eintritt einer zeitweiligen fremden Herrschaft lediglich ruhen.
So ist es heute in Cypern und Kreta, so war es bis 1908 in Bosnien-Herzego¬
wina. Die völlige Aufhebung der Kapitulationen in Ägypten würde daher nur
ein Hinweis mehr sein, daß dies Land dem Sultan auf immer verloren ist.
Dadurch aber würde dem Kalifat von Konstantinopel ein weiterer starker Stoß
versetzt, den er bei seiner schwierigen Lage den anderen bedrängten Staaten der
mohammedanischen Welt gegenüber um so schwerer empfinden müßte.

In ihrem Wesen sind die Kapitulationen Niederlassungs-, Handels- und
Schiffahrtsverträge, welche die christlichen Staaten des Abendlandes zunächst mit
den mohammedanischen Staaten des Orients abschlossen und die, nachdem ihre
Vorzüge durch Jahrhunderte erprobt waren, in geschickter Weise durch neue
Verträge auf Marokko, Sansibar, Siam und Ostasien ausgedehnt wurden. Als
ein Gebilde des Mittelalters stehen sie zweifellos in scharfem Gegensatze zum
Gedanken des modernen Staates, der sich auf dem Begriffe der völligen Gebiets¬
hoheit aufbaut. Von weltwirtschaftlich weitdenkenden türkischen Sultanen den
italienischen Städterepubliken als Trägern des Levantehandels zugestanden, um
deren kleinen Kolonien das Leben unter der fremdenfeindlichen Bevölkerung zu
ermöglichen, haben sie durch das Hinzutreten der Territorialmächte des Abend-
Landes, durch den Machtverfall der Türkei und einen seit Jahrhunderten dauernden


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[0218] Die Fremdenrechte in der Türkei inneren Landesangelegenheiten genommen gewesen. Es scheint nicht unbedingt sicher, ob nicht der Krieg in seinem weiteren Verlaufe eine Aufrollung der gesamten ägyptischen Frage, beginnend gerade mit der der gemischten Gerichte, bringen wird. Die größte Rolle hat das Kapitulationenrecht in der letzten Zeit in der Türkei gespielt, da es von der Pforte nach Ausbruch des Krieges mit Italien für die im Lande ansässigen Italiener sofort außer Kraft gesetzt wurde. In den künftigen Friedensverhandlungen wird diese Frage sicherlich noch mehr hervor¬ treten; und da ihre Lösung für die anderen Mächte leicht unmittelbare Folgen nach sich ziehen kann, darf sie besonderes Interesse beanspruchen, welches über dasjenige eines Völkerrechtsgelehrten an ihren sonderbaren, dem modernen Staate so fremdartigen Erscheinungsformen weit hinaus geht. Eigentümlicherweise ist die Behandlung der Kapitulationenrechte durch die Türkei in ihrer eigentlichen auswärtigen Politik ganz anderer Art als im eigenen Lande. In Persien benutzt sie die ihr gegen Zusicherurig der Gegen¬ seitigkeit zugestandenen Kapitulationen zur gelegentlichen Entsendung von Kon¬ sulatswachen in die Gebiete, die sie bei einer Teilung Persiens für sich zu gewinnen hofft. Im Lande selbst sieht sie dagegen die fremden Botschaftswachen und Stationsschiffe als eine unauslöschliche Schmach an. Auch die Aufhebung der Kapitulationen für Ägypten würde sie nur zum Teil gern sehen. Denn wenn diese Tatsache ihr auch als Hinweis dienen könnte, daß in einem mohamme¬ danischen Staate die Abendländer auch ohne den besonderen Schutz der Kapitula¬ tionen leben können, so gilt doch anderseits der Grundsatz, daß die Kapitula¬ tionen ein dem Sultan unterstehendes Gebiet wie eine Grunddienstbarkeit belasten und bei dem Eintritt einer zeitweiligen fremden Herrschaft lediglich ruhen. So ist es heute in Cypern und Kreta, so war es bis 1908 in Bosnien-Herzego¬ wina. Die völlige Aufhebung der Kapitulationen in Ägypten würde daher nur ein Hinweis mehr sein, daß dies Land dem Sultan auf immer verloren ist. Dadurch aber würde dem Kalifat von Konstantinopel ein weiterer starker Stoß versetzt, den er bei seiner schwierigen Lage den anderen bedrängten Staaten der mohammedanischen Welt gegenüber um so schwerer empfinden müßte. In ihrem Wesen sind die Kapitulationen Niederlassungs-, Handels- und Schiffahrtsverträge, welche die christlichen Staaten des Abendlandes zunächst mit den mohammedanischen Staaten des Orients abschlossen und die, nachdem ihre Vorzüge durch Jahrhunderte erprobt waren, in geschickter Weise durch neue Verträge auf Marokko, Sansibar, Siam und Ostasien ausgedehnt wurden. Als ein Gebilde des Mittelalters stehen sie zweifellos in scharfem Gegensatze zum Gedanken des modernen Staates, der sich auf dem Begriffe der völligen Gebiets¬ hoheit aufbaut. Von weltwirtschaftlich weitdenkenden türkischen Sultanen den italienischen Städterepubliken als Trägern des Levantehandels zugestanden, um deren kleinen Kolonien das Leben unter der fremdenfeindlichen Bevölkerung zu ermöglichen, haben sie durch das Hinzutreten der Territorialmächte des Abend- Landes, durch den Machtverfall der Türkei und einen seit Jahrhunderten dauernden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/218>, abgerufen am 29.12.2024.