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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die Fremdenrechte in der Türkei
Von S, Unzer

MIMs kann als ein eigentümliches Zusammentreffen angesehen werden,
daß überall dort, wohin sich im Augenblick weltgeschichtliches
I Interesse richtet, die Frage der Fremdenvorrechte, der Kapitula¬
tionen, eine mehr oder minder bedeutsame Rolle spielt.

In den Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich
über Marokko nahm die Regelung der Konsulargerichtsbarkeit und des Schutz¬
genossenverhältnisses, die ja beide auf dem Kapitulationenrechte beruhen, einen
großen Platz ein. Entgegen dem hastigen Ansturm von französischer Seite gelang
es dem deutschen Unterhändler, die Aufrechterhaltung beider durchzusetzen.
Die Bestimmung, daß sie nach Einrichtung einer nach europäischen Begriffen
ausreichenden Landesjustiz in Fortfall kommen sollen, gibt ohne Aufgabe des
bisherigen Zustandes in geschickter Weise den Franzosen den Anreiz, bald für
Justizreformen im scherifischen Reiche zu sorgen. -- In China scheinen sich die
Aufständischen, um eine internationale Intervention zu vermeiden, abgesehen
von einzelnen Pöbelexzessen, noch nicht an die im Volke so unbeliebten Fremden¬
vorrechte herangewagt zu haben. Aber die neuen Verhältnisse werden sicherlich eine
Entwicklung des chinesischen Staates mehr nach europäischem Vorbilde und damit
naturgemäß eine baldige Abschwächung der Fremdenvorrechte, die hier einen so
großen Umfang gewonnen haben, herbeiführen. -- In Persien nahmen die letzten
von Nußland unternommenen Schritte angebliche Verletzungen der dem fremden
Konsularbeamtm durch die Kapitulationen zustehenden Vorrechte zum Vorwande. --
Im Zusammenhange mit dem italienisch-türkischen Kriege standen die Gerüchte,
daß England sein Protektorat über Ägypten auch formell verkünden wolle und
diesen Schritt durch Beseitigung der in einer Weiterentwicklung des Kapitulationen¬
rechtes entstandenen internationalen Gerichte einzuleiten beabsichtige. Damit
wäre dann den anderen Mächten das letzte Recht zur Einmischung in die ägyptischen


Grenzboten I 1912 27


Die Fremdenrechte in der Türkei
Von S, Unzer

MIMs kann als ein eigentümliches Zusammentreffen angesehen werden,
daß überall dort, wohin sich im Augenblick weltgeschichtliches
I Interesse richtet, die Frage der Fremdenvorrechte, der Kapitula¬
tionen, eine mehr oder minder bedeutsame Rolle spielt.

In den Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich
über Marokko nahm die Regelung der Konsulargerichtsbarkeit und des Schutz¬
genossenverhältnisses, die ja beide auf dem Kapitulationenrechte beruhen, einen
großen Platz ein. Entgegen dem hastigen Ansturm von französischer Seite gelang
es dem deutschen Unterhändler, die Aufrechterhaltung beider durchzusetzen.
Die Bestimmung, daß sie nach Einrichtung einer nach europäischen Begriffen
ausreichenden Landesjustiz in Fortfall kommen sollen, gibt ohne Aufgabe des
bisherigen Zustandes in geschickter Weise den Franzosen den Anreiz, bald für
Justizreformen im scherifischen Reiche zu sorgen. — In China scheinen sich die
Aufständischen, um eine internationale Intervention zu vermeiden, abgesehen
von einzelnen Pöbelexzessen, noch nicht an die im Volke so unbeliebten Fremden¬
vorrechte herangewagt zu haben. Aber die neuen Verhältnisse werden sicherlich eine
Entwicklung des chinesischen Staates mehr nach europäischem Vorbilde und damit
naturgemäß eine baldige Abschwächung der Fremdenvorrechte, die hier einen so
großen Umfang gewonnen haben, herbeiführen. — In Persien nahmen die letzten
von Nußland unternommenen Schritte angebliche Verletzungen der dem fremden
Konsularbeamtm durch die Kapitulationen zustehenden Vorrechte zum Vorwande. —
Im Zusammenhange mit dem italienisch-türkischen Kriege standen die Gerüchte,
daß England sein Protektorat über Ägypten auch formell verkünden wolle und
diesen Schritt durch Beseitigung der in einer Weiterentwicklung des Kapitulationen¬
rechtes entstandenen internationalen Gerichte einzuleiten beabsichtige. Damit
wäre dann den anderen Mächten das letzte Recht zur Einmischung in die ägyptischen


Grenzboten I 1912 27
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[0217] [Abbildung] Die Fremdenrechte in der Türkei Von S, Unzer MIMs kann als ein eigentümliches Zusammentreffen angesehen werden, daß überall dort, wohin sich im Augenblick weltgeschichtliches I Interesse richtet, die Frage der Fremdenvorrechte, der Kapitula¬ tionen, eine mehr oder minder bedeutsame Rolle spielt. In den Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich über Marokko nahm die Regelung der Konsulargerichtsbarkeit und des Schutz¬ genossenverhältnisses, die ja beide auf dem Kapitulationenrechte beruhen, einen großen Platz ein. Entgegen dem hastigen Ansturm von französischer Seite gelang es dem deutschen Unterhändler, die Aufrechterhaltung beider durchzusetzen. Die Bestimmung, daß sie nach Einrichtung einer nach europäischen Begriffen ausreichenden Landesjustiz in Fortfall kommen sollen, gibt ohne Aufgabe des bisherigen Zustandes in geschickter Weise den Franzosen den Anreiz, bald für Justizreformen im scherifischen Reiche zu sorgen. — In China scheinen sich die Aufständischen, um eine internationale Intervention zu vermeiden, abgesehen von einzelnen Pöbelexzessen, noch nicht an die im Volke so unbeliebten Fremden¬ vorrechte herangewagt zu haben. Aber die neuen Verhältnisse werden sicherlich eine Entwicklung des chinesischen Staates mehr nach europäischem Vorbilde und damit naturgemäß eine baldige Abschwächung der Fremdenvorrechte, die hier einen so großen Umfang gewonnen haben, herbeiführen. — In Persien nahmen die letzten von Nußland unternommenen Schritte angebliche Verletzungen der dem fremden Konsularbeamtm durch die Kapitulationen zustehenden Vorrechte zum Vorwande. — Im Zusammenhange mit dem italienisch-türkischen Kriege standen die Gerüchte, daß England sein Protektorat über Ägypten auch formell verkünden wolle und diesen Schritt durch Beseitigung der in einer Weiterentwicklung des Kapitulationen¬ rechtes entstandenen internationalen Gerichte einzuleiten beabsichtige. Damit wäre dann den anderen Mächten das letzte Recht zur Einmischung in die ägyptischen Grenzboten I 1912 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/217>, abgerufen am 27.09.2024.