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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Persien

seiner politischen Ohnmacht jahrzehntelang von größeren Katastrophen be¬
wahrt blieb.

Für die Russen waren diese Begleiterscheinungen der Entente mit England
keineswegs angenehm. Die Gefahr lag vor, daß eine rnssophile Negierung,
die -- so schlecht sie auch sein mochte -- immerhin noch eine Regierung genannt
weroen konnte, von einer stark russenfeindlichen Anarchie verdrängt wurde.
Auch der Schah war sich klar darüber, daß er sich zu einem energischen Schritt
aufraffen mußte, wollte er sich und seine Dynastie vor einer Katastrophe
bewahren. Alles drängte aber auf eine gewaltsame Entladung der vorhandenen
Spannung. Aus der Gegenpartei war man sich über die drohende Gefahr
ebenfalls nicht im Zweifel. Man wußte, daß das Parlament dem Schah
verhaßt war, und daß dieser vor allem, nachdem ein verunglücktes Bomben¬
attentat auf ihn unternommen worden war, nur auf eine Gelegenheit zu einem
Staatsstreich wartete. Um so kläglicher benahmen sich die Freiheitshelden indessen,
als das lange erwartete Ereignis am 23. November 1908 wirklich eintraf.

Ein paar Kanonen- und Gewehrschüsse der Kosakenbrigade unter Führung
des russischen Obersten Liako zersprengten das ganze Parlament und die laufende
von Bewaffneten, die geschworen hatten, bis zum letzten Blutstropfen für die
Verfassung zu kämpfen, in alle vier Winde und machten den Schah zum Herrn
der Situation. Das Parlament hatte seinen politischen Kredit selbst dermaßen
untergraben, daß ihm fast niemand nachtrauerte und der Schah mit ein wenig
Geschick und Klugheit ruhig als absoluter Herrscher hätte weiter regieren können.
Statt dessen begann aber dieser einen Nachefeldzug gegen alles, was einer
konstitutionellen Gesinnung verdächtig war. Sein Vetter Ain-e-Dcchleh mußte
die Hochburg der Verfassungspartei -- Tübris -- belagern und trieb es durch
verfehlte und hinterlistige Machenschaften so weit, daß schließlich russische Truppen
erschienen und die Stadt besetzten. "Der Boden Irans durch russische Truppen
entweiht," das war zuviel für die persischen Patrioten. Das Prestige des Schah
sank wieder auf den Nullpunkt, und als im Mai 1909 armenische Revolutionäre,
denen im Kaukasus der Boden zu heiß geworden war, über das Kaspische Meer
kamen und in Rescht den Gouverneur ermordeten, ging die ganze Provinz
Mazanderan offen zu den Revolutionären über. Diese -- verstärkt durch Haufen
von Abenteurern aus aller Herren Länder -- lebten zunächst in Rescht eine
Weile herrlich und in Freuden und erpreßten im Namen der Freiheit und Ver¬
fassung soviel Geld wie möglich. Als es dort nichts mehr zu holen gab,
setzten sie sich langsam auf Teheran in Bewegung. Ihr Führer war der später
als Ministerpräsident bekannte Sipedar. Dieser war vom Schah beauftragt
worden, an Stelle des ermordeten Gouverneurs die Ruhe in Rescht wieder
herzustellen. Aber es ging ihm wie seinerzeit Götz von Berlichingen mit den
aufständischen Bauern. Die Revolutionäre stellten ihn an ihre Spitze und
zwangen ihn, sie auf Teheran zu führen. Während des ganzen Vormarsches
schickte der Sipedar ein Ecgebenheitstelegramm nach dem anderen an den Schah;


Briefe aus Persien

seiner politischen Ohnmacht jahrzehntelang von größeren Katastrophen be¬
wahrt blieb.

Für die Russen waren diese Begleiterscheinungen der Entente mit England
keineswegs angenehm. Die Gefahr lag vor, daß eine rnssophile Negierung,
die — so schlecht sie auch sein mochte — immerhin noch eine Regierung genannt
weroen konnte, von einer stark russenfeindlichen Anarchie verdrängt wurde.
Auch der Schah war sich klar darüber, daß er sich zu einem energischen Schritt
aufraffen mußte, wollte er sich und seine Dynastie vor einer Katastrophe
bewahren. Alles drängte aber auf eine gewaltsame Entladung der vorhandenen
Spannung. Aus der Gegenpartei war man sich über die drohende Gefahr
ebenfalls nicht im Zweifel. Man wußte, daß das Parlament dem Schah
verhaßt war, und daß dieser vor allem, nachdem ein verunglücktes Bomben¬
attentat auf ihn unternommen worden war, nur auf eine Gelegenheit zu einem
Staatsstreich wartete. Um so kläglicher benahmen sich die Freiheitshelden indessen,
als das lange erwartete Ereignis am 23. November 1908 wirklich eintraf.

Ein paar Kanonen- und Gewehrschüsse der Kosakenbrigade unter Führung
des russischen Obersten Liako zersprengten das ganze Parlament und die laufende
von Bewaffneten, die geschworen hatten, bis zum letzten Blutstropfen für die
Verfassung zu kämpfen, in alle vier Winde und machten den Schah zum Herrn
der Situation. Das Parlament hatte seinen politischen Kredit selbst dermaßen
untergraben, daß ihm fast niemand nachtrauerte und der Schah mit ein wenig
Geschick und Klugheit ruhig als absoluter Herrscher hätte weiter regieren können.
Statt dessen begann aber dieser einen Nachefeldzug gegen alles, was einer
konstitutionellen Gesinnung verdächtig war. Sein Vetter Ain-e-Dcchleh mußte
die Hochburg der Verfassungspartei — Tübris — belagern und trieb es durch
verfehlte und hinterlistige Machenschaften so weit, daß schließlich russische Truppen
erschienen und die Stadt besetzten. „Der Boden Irans durch russische Truppen
entweiht," das war zuviel für die persischen Patrioten. Das Prestige des Schah
sank wieder auf den Nullpunkt, und als im Mai 1909 armenische Revolutionäre,
denen im Kaukasus der Boden zu heiß geworden war, über das Kaspische Meer
kamen und in Rescht den Gouverneur ermordeten, ging die ganze Provinz
Mazanderan offen zu den Revolutionären über. Diese — verstärkt durch Haufen
von Abenteurern aus aller Herren Länder — lebten zunächst in Rescht eine
Weile herrlich und in Freuden und erpreßten im Namen der Freiheit und Ver¬
fassung soviel Geld wie möglich. Als es dort nichts mehr zu holen gab,
setzten sie sich langsam auf Teheran in Bewegung. Ihr Führer war der später
als Ministerpräsident bekannte Sipedar. Dieser war vom Schah beauftragt
worden, an Stelle des ermordeten Gouverneurs die Ruhe in Rescht wieder
herzustellen. Aber es ging ihm wie seinerzeit Götz von Berlichingen mit den
aufständischen Bauern. Die Revolutionäre stellten ihn an ihre Spitze und
zwangen ihn, sie auf Teheran zu führen. Während des ganzen Vormarsches
schickte der Sipedar ein Ecgebenheitstelegramm nach dem anderen an den Schah;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/182>, abgerufen am 27.09.2024.