Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
I>vo Socialismus in England

für deren radikalen Flügel gefallen, denn die Arbeiterpartei hat ja bisher im
Höchstfall nur 78 Kandidaten gegenüber 670 Sitzen aufgestellt.

Wie hat nun dieses langsame, in verschiedenen und sehr unterschiedlichen
Kanälen vor sich gehende Aufsteigen der sozialistischen Bewegung ans das Spiel
der politischen Kräfte in England gewirkt? Diese Frage deckt sich nach den
besonderen Verhältnissen im wesentlichen mit der Frage, wie sich die beiden
großen politischen Parteien zu den Forderungen des Sozialismus verhalten
haben. Diese Frage ist so ungeheuer vielseitig, daß sie in diesem Rahmen
natürlich nur in Umrissen beantwortet werden kann.

Wiederum kann man, nur einen Überblick zu geben, nichts besseres tun,
als auf die Fabische Gesellschaft und zwar ans den am Anfang dieser Aus¬
führungen stehenden Satz Sidney Webbs zu verweisen. Die "verhältnismäßig
kleine Truppe des Sozialismus" hat in der Tat "abwechselnd jeder der beiden
großen Parteien die Gedanken und Grundsätze für eine Politik der sozialen
Erneuerung geliefert". Die englischen Politiker aller Parteien zeichnen sich durch
eine ungemein feine Witterung aus. Das große Maß an Erfahrung und das
Geschick zu einer ausgeklügelten Taktik, die nötig sind, um in England sicher
über die Klippen und Untiefen der parlamentarischen Verhältnisse und Bräuche
steuern und die demokratische Fiktion gegenüber der Wählerschaft aufrecht
erhalten zu können, hat in diesem Lande die Politik zu einer wirklichen Kunst
gemacht, zu der Kunst, mit politischen Kräften Schach zu spielen, die schieben
oder mindestens schieben wollen und doch im Interesse des Ganzen oft geschoben
werden müssen. So haben beide große Parteien in England die sozialistische
Bewegung von Anbeginn an in ihre Rechnungen eingestellt. Nicht daran dachten
sie, wie sie diese Bewegung ersticken könnten, durch Gewalt oder heilende Gegen¬
maßregeln, sondern auf welche Weise sie die treibenden Motive als dienende
Kräfte in ihre Gesamtpolitik einfügen könnten. Auf der Torvseite entstand so
der Beaconsfielosche r^L^v-Torysm, der staatssozialistische Motive aufweist. Auf
der anderen Seite nahm die liberale Partei auf ihrem linken Flügel mehr eine
radikale Färbung an, die auf die Gesamtpolitik der Partei von Einfluß war.
Und dieser Radikalismus weist je länger je mehr auch unmittelbar sozialistische
Tendenzen auf.

Abwechselnd, wie die Fabler sich das gedacht hatten, und Schritt für
Schritt führten die beiden Parteien sozialistische Motive in die Gesetzgebung ein,
niemals grundsätzlich, aber hier und da und dort und stets je nach den Er¬
fordernissen der Zeit in kleineren oder erheblicheren Dosen. So waren gewisse
Linien für sozialistische Umbauten am Staatsgebäude schon gezogen, als der
Sozialismus sich in Gestalt der Arbeiterpartei im Unterhaus selbständig ein¬
richtete. Die Bedeutung dieser Tatsache während der letzten Jahre und ihre
mutmaßliche Wirksamkeit in der Zukunft wird noch naher zu betrachten sein.
Es genügt hier zunächst festzustellen, daß die soziale Gesetzgebung von da an
ein beschleunigteres Tempo eingeschlagen hat, und daß vom Standpunkt des


I>vo Socialismus in England

für deren radikalen Flügel gefallen, denn die Arbeiterpartei hat ja bisher im
Höchstfall nur 78 Kandidaten gegenüber 670 Sitzen aufgestellt.

Wie hat nun dieses langsame, in verschiedenen und sehr unterschiedlichen
Kanälen vor sich gehende Aufsteigen der sozialistischen Bewegung ans das Spiel
der politischen Kräfte in England gewirkt? Diese Frage deckt sich nach den
besonderen Verhältnissen im wesentlichen mit der Frage, wie sich die beiden
großen politischen Parteien zu den Forderungen des Sozialismus verhalten
haben. Diese Frage ist so ungeheuer vielseitig, daß sie in diesem Rahmen
natürlich nur in Umrissen beantwortet werden kann.

Wiederum kann man, nur einen Überblick zu geben, nichts besseres tun,
als auf die Fabische Gesellschaft und zwar ans den am Anfang dieser Aus¬
führungen stehenden Satz Sidney Webbs zu verweisen. Die „verhältnismäßig
kleine Truppe des Sozialismus" hat in der Tat „abwechselnd jeder der beiden
großen Parteien die Gedanken und Grundsätze für eine Politik der sozialen
Erneuerung geliefert". Die englischen Politiker aller Parteien zeichnen sich durch
eine ungemein feine Witterung aus. Das große Maß an Erfahrung und das
Geschick zu einer ausgeklügelten Taktik, die nötig sind, um in England sicher
über die Klippen und Untiefen der parlamentarischen Verhältnisse und Bräuche
steuern und die demokratische Fiktion gegenüber der Wählerschaft aufrecht
erhalten zu können, hat in diesem Lande die Politik zu einer wirklichen Kunst
gemacht, zu der Kunst, mit politischen Kräften Schach zu spielen, die schieben
oder mindestens schieben wollen und doch im Interesse des Ganzen oft geschoben
werden müssen. So haben beide große Parteien in England die sozialistische
Bewegung von Anbeginn an in ihre Rechnungen eingestellt. Nicht daran dachten
sie, wie sie diese Bewegung ersticken könnten, durch Gewalt oder heilende Gegen¬
maßregeln, sondern auf welche Weise sie die treibenden Motive als dienende
Kräfte in ihre Gesamtpolitik einfügen könnten. Auf der Torvseite entstand so
der Beaconsfielosche r^L^v-Torysm, der staatssozialistische Motive aufweist. Auf
der anderen Seite nahm die liberale Partei auf ihrem linken Flügel mehr eine
radikale Färbung an, die auf die Gesamtpolitik der Partei von Einfluß war.
Und dieser Radikalismus weist je länger je mehr auch unmittelbar sozialistische
Tendenzen auf.

Abwechselnd, wie die Fabler sich das gedacht hatten, und Schritt für
Schritt führten die beiden Parteien sozialistische Motive in die Gesetzgebung ein,
niemals grundsätzlich, aber hier und da und dort und stets je nach den Er¬
fordernissen der Zeit in kleineren oder erheblicheren Dosen. So waren gewisse
Linien für sozialistische Umbauten am Staatsgebäude schon gezogen, als der
Sozialismus sich in Gestalt der Arbeiterpartei im Unterhaus selbständig ein¬
richtete. Die Bedeutung dieser Tatsache während der letzten Jahre und ihre
mutmaßliche Wirksamkeit in der Zukunft wird noch naher zu betrachten sein.
Es genügt hier zunächst festzustellen, daß die soziale Gesetzgebung von da an
ein beschleunigteres Tempo eingeschlagen hat, und daß vom Standpunkt des


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0173" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320590"/>
          <fw type="header" place="top"> I&gt;vo Socialismus in England</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_636" prev="#ID_635"> für deren radikalen Flügel gefallen, denn die Arbeiterpartei hat ja bisher im<lb/>
Höchstfall nur 78 Kandidaten gegenüber 670 Sitzen aufgestellt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_637"> Wie hat nun dieses langsame, in verschiedenen und sehr unterschiedlichen<lb/>
Kanälen vor sich gehende Aufsteigen der sozialistischen Bewegung ans das Spiel<lb/>
der politischen Kräfte in England gewirkt? Diese Frage deckt sich nach den<lb/>
besonderen Verhältnissen im wesentlichen mit der Frage, wie sich die beiden<lb/>
großen politischen Parteien zu den Forderungen des Sozialismus verhalten<lb/>
haben. Diese Frage ist so ungeheuer vielseitig, daß sie in diesem Rahmen<lb/>
natürlich nur in Umrissen beantwortet werden kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_638"> Wiederum kann man, nur einen Überblick zu geben, nichts besseres tun,<lb/>
als auf die Fabische Gesellschaft und zwar ans den am Anfang dieser Aus¬<lb/>
führungen stehenden Satz Sidney Webbs zu verweisen. Die &#x201E;verhältnismäßig<lb/>
kleine Truppe des Sozialismus" hat in der Tat &#x201E;abwechselnd jeder der beiden<lb/>
großen Parteien die Gedanken und Grundsätze für eine Politik der sozialen<lb/>
Erneuerung geliefert". Die englischen Politiker aller Parteien zeichnen sich durch<lb/>
eine ungemein feine Witterung aus. Das große Maß an Erfahrung und das<lb/>
Geschick zu einer ausgeklügelten Taktik, die nötig sind, um in England sicher<lb/>
über die Klippen und Untiefen der parlamentarischen Verhältnisse und Bräuche<lb/>
steuern und die demokratische Fiktion gegenüber der Wählerschaft aufrecht<lb/>
erhalten zu können, hat in diesem Lande die Politik zu einer wirklichen Kunst<lb/>
gemacht, zu der Kunst, mit politischen Kräften Schach zu spielen, die schieben<lb/>
oder mindestens schieben wollen und doch im Interesse des Ganzen oft geschoben<lb/>
werden müssen. So haben beide große Parteien in England die sozialistische<lb/>
Bewegung von Anbeginn an in ihre Rechnungen eingestellt. Nicht daran dachten<lb/>
sie, wie sie diese Bewegung ersticken könnten, durch Gewalt oder heilende Gegen¬<lb/>
maßregeln, sondern auf welche Weise sie die treibenden Motive als dienende<lb/>
Kräfte in ihre Gesamtpolitik einfügen könnten. Auf der Torvseite entstand so<lb/>
der Beaconsfielosche r^L^v-Torysm, der staatssozialistische Motive aufweist. Auf<lb/>
der anderen Seite nahm die liberale Partei auf ihrem linken Flügel mehr eine<lb/>
radikale Färbung an, die auf die Gesamtpolitik der Partei von Einfluß war.<lb/>
Und dieser Radikalismus weist je länger je mehr auch unmittelbar sozialistische<lb/>
Tendenzen auf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_639" next="#ID_640"> Abwechselnd, wie die Fabler sich das gedacht hatten, und Schritt für<lb/>
Schritt führten die beiden Parteien sozialistische Motive in die Gesetzgebung ein,<lb/>
niemals grundsätzlich, aber hier und da und dort und stets je nach den Er¬<lb/>
fordernissen der Zeit in kleineren oder erheblicheren Dosen. So waren gewisse<lb/>
Linien für sozialistische Umbauten am Staatsgebäude schon gezogen, als der<lb/>
Sozialismus sich in Gestalt der Arbeiterpartei im Unterhaus selbständig ein¬<lb/>
richtete. Die Bedeutung dieser Tatsache während der letzten Jahre und ihre<lb/>
mutmaßliche Wirksamkeit in der Zukunft wird noch naher zu betrachten sein.<lb/>
Es genügt hier zunächst festzustellen, daß die soziale Gesetzgebung von da an<lb/>
ein beschleunigteres Tempo eingeschlagen hat, und daß vom Standpunkt des</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0173] I>vo Socialismus in England für deren radikalen Flügel gefallen, denn die Arbeiterpartei hat ja bisher im Höchstfall nur 78 Kandidaten gegenüber 670 Sitzen aufgestellt. Wie hat nun dieses langsame, in verschiedenen und sehr unterschiedlichen Kanälen vor sich gehende Aufsteigen der sozialistischen Bewegung ans das Spiel der politischen Kräfte in England gewirkt? Diese Frage deckt sich nach den besonderen Verhältnissen im wesentlichen mit der Frage, wie sich die beiden großen politischen Parteien zu den Forderungen des Sozialismus verhalten haben. Diese Frage ist so ungeheuer vielseitig, daß sie in diesem Rahmen natürlich nur in Umrissen beantwortet werden kann. Wiederum kann man, nur einen Überblick zu geben, nichts besseres tun, als auf die Fabische Gesellschaft und zwar ans den am Anfang dieser Aus¬ führungen stehenden Satz Sidney Webbs zu verweisen. Die „verhältnismäßig kleine Truppe des Sozialismus" hat in der Tat „abwechselnd jeder der beiden großen Parteien die Gedanken und Grundsätze für eine Politik der sozialen Erneuerung geliefert". Die englischen Politiker aller Parteien zeichnen sich durch eine ungemein feine Witterung aus. Das große Maß an Erfahrung und das Geschick zu einer ausgeklügelten Taktik, die nötig sind, um in England sicher über die Klippen und Untiefen der parlamentarischen Verhältnisse und Bräuche steuern und die demokratische Fiktion gegenüber der Wählerschaft aufrecht erhalten zu können, hat in diesem Lande die Politik zu einer wirklichen Kunst gemacht, zu der Kunst, mit politischen Kräften Schach zu spielen, die schieben oder mindestens schieben wollen und doch im Interesse des Ganzen oft geschoben werden müssen. So haben beide große Parteien in England die sozialistische Bewegung von Anbeginn an in ihre Rechnungen eingestellt. Nicht daran dachten sie, wie sie diese Bewegung ersticken könnten, durch Gewalt oder heilende Gegen¬ maßregeln, sondern auf welche Weise sie die treibenden Motive als dienende Kräfte in ihre Gesamtpolitik einfügen könnten. Auf der Torvseite entstand so der Beaconsfielosche r^L^v-Torysm, der staatssozialistische Motive aufweist. Auf der anderen Seite nahm die liberale Partei auf ihrem linken Flügel mehr eine radikale Färbung an, die auf die Gesamtpolitik der Partei von Einfluß war. Und dieser Radikalismus weist je länger je mehr auch unmittelbar sozialistische Tendenzen auf. Abwechselnd, wie die Fabler sich das gedacht hatten, und Schritt für Schritt führten die beiden Parteien sozialistische Motive in die Gesetzgebung ein, niemals grundsätzlich, aber hier und da und dort und stets je nach den Er¬ fordernissen der Zeit in kleineren oder erheblicheren Dosen. So waren gewisse Linien für sozialistische Umbauten am Staatsgebäude schon gezogen, als der Sozialismus sich in Gestalt der Arbeiterpartei im Unterhaus selbständig ein¬ richtete. Die Bedeutung dieser Tatsache während der letzten Jahre und ihre mutmaßliche Wirksamkeit in der Zukunft wird noch naher zu betrachten sein. Es genügt hier zunächst festzustellen, daß die soziale Gesetzgebung von da an ein beschleunigteres Tempo eingeschlagen hat, und daß vom Standpunkt des

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/173
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/173>, abgerufen am 27.09.2024.