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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

mit folgenden klassischen Worten: "Wir gehören nicht zu denjenigen, welche
glauben, daß über den Nationen ein sogenannter Klassenpatriotismus steht;
wir glauben, daß die Nationen die notwendige Herde der allgemeinen Zivilisation
sind. Zwischen uns und den Verächtern des Vaterlandes ist ein Abgrund, der
nie geschlossen werden kann. Wir halten die Trikolore hoch, nicht die rote
Fahne, die Marseillaise, nicht die Internationale, für Frankreich gegen alle, die
es verraten, verleugnen oder verlassen." (Schiemann, "Deutschland und die
große Politik", Seite 1K3.)

Wir wollen dennoch die Neubildung des französischen Kabinetts nicht
tragisch nehmen, wenn auch Poincare und Delcassö sich weiterhin als unsere
Gegner entpuppen sollten. Friedrich der Große hat irgendwo einmal dem Ge¬
danken Ausdruck gegeben, daß in der Geschichte fast immer wieder dieselben
Szenen sich wiederholen, bei denen nur die Namen der handelnden Personen
geändert zu werden brauchen. Die Geschichte geht ohne Rücksicht auf die scheinbar
führenden Personen ihren Gang, und diese sind gezwungen, sich den an sie heran¬
tretenden Aufgaben zu widmen, ohne Rücksicht darauf, ob sie mit ihren Dogmen
oder Lieblingsideen übereinstimmen. Auch die Herren Poincarö und Delcassö
werden nicht an Prinzipien und persönlichen Neigungen früherer Jahre fest¬
halten dürfen, sofern diese den Interessen des Landes zuwiderlaufen. Es ist
durchaus nicht gesagt, daß Herr DelcaM heute die Interessen Frankreichs wird
mit denselben Mitteln vertreten müssen, wie vor acht Jahren. Wenn er auch vor
acht Jahren das Bündnis mit England betrieben hat, so ist es durchaus nicht aus¬
geschlossen, daß er heute das Interesse seines Landes in einer anderen Kombination
erkennt. Wir können somit der Entwicklung der Dinge in Frankreich, die selbst¬
verständlich unsere größte Aufmerksamkeit beanspruche", mit ruhiger Gelassenheit
zusehen und abwarten, erstens, wie das neue Ministerium endgültig aussieht,
zweitens, welche politischen Ziele es verfolgt, und drittens, ob diese Ziele mit
dem Bedürfnis der französischen Nation und deren Wünschen übereinstimmen.

Die auswärtige Politik Frankreichs wird sich naturgemäß nach der
vorangegangenen Entwicklung auch danach richten, welche Haltung England in
Fragen der auswärtigen Politik einnimmt, und ob die Macht Englands wirklich
dazu ausreicht, neben den eigenen Interessen auch noch die eines befreundeten
Staates zu schützen, der nicht selbst in der Lage ist, diese zu vertreten.

Zwischen Frankreich und England hat sich als Ergebnis der früheren
Delcassöschen Politik der spanisch-marokkanische Handel eingeschlichen, in dem
England, wie bekannt, energisch Stellung für die Gegner Frankreichs nimmt.
Wenn Herr Delcasse seinerzeit die Notwendigkeit dieses Ausgangs seiner Freund¬
schaft mit Eduard dem Siebenten nicht erkannt hat, so ist das ein Zeichen, wie
wenig er die Ziele der englischen Politik verstand. Denn daß England, wie
z, B. Deutschland, einer Ausbreitung der französischen Macht am Mittelmeer
nicht gleichmütig zusehen würde, das mußte Herrn Delcasss doch schon ein Blick
auf die Landkarte erklären. König Eduard hat seinerzeit die Spanier sich in


Reichsspiegel

mit folgenden klassischen Worten: „Wir gehören nicht zu denjenigen, welche
glauben, daß über den Nationen ein sogenannter Klassenpatriotismus steht;
wir glauben, daß die Nationen die notwendige Herde der allgemeinen Zivilisation
sind. Zwischen uns und den Verächtern des Vaterlandes ist ein Abgrund, der
nie geschlossen werden kann. Wir halten die Trikolore hoch, nicht die rote
Fahne, die Marseillaise, nicht die Internationale, für Frankreich gegen alle, die
es verraten, verleugnen oder verlassen." (Schiemann, „Deutschland und die
große Politik", Seite 1K3.)

Wir wollen dennoch die Neubildung des französischen Kabinetts nicht
tragisch nehmen, wenn auch Poincare und Delcassö sich weiterhin als unsere
Gegner entpuppen sollten. Friedrich der Große hat irgendwo einmal dem Ge¬
danken Ausdruck gegeben, daß in der Geschichte fast immer wieder dieselben
Szenen sich wiederholen, bei denen nur die Namen der handelnden Personen
geändert zu werden brauchen. Die Geschichte geht ohne Rücksicht auf die scheinbar
führenden Personen ihren Gang, und diese sind gezwungen, sich den an sie heran¬
tretenden Aufgaben zu widmen, ohne Rücksicht darauf, ob sie mit ihren Dogmen
oder Lieblingsideen übereinstimmen. Auch die Herren Poincarö und Delcassö
werden nicht an Prinzipien und persönlichen Neigungen früherer Jahre fest¬
halten dürfen, sofern diese den Interessen des Landes zuwiderlaufen. Es ist
durchaus nicht gesagt, daß Herr DelcaM heute die Interessen Frankreichs wird
mit denselben Mitteln vertreten müssen, wie vor acht Jahren. Wenn er auch vor
acht Jahren das Bündnis mit England betrieben hat, so ist es durchaus nicht aus¬
geschlossen, daß er heute das Interesse seines Landes in einer anderen Kombination
erkennt. Wir können somit der Entwicklung der Dinge in Frankreich, die selbst¬
verständlich unsere größte Aufmerksamkeit beanspruche», mit ruhiger Gelassenheit
zusehen und abwarten, erstens, wie das neue Ministerium endgültig aussieht,
zweitens, welche politischen Ziele es verfolgt, und drittens, ob diese Ziele mit
dem Bedürfnis der französischen Nation und deren Wünschen übereinstimmen.

Die auswärtige Politik Frankreichs wird sich naturgemäß nach der
vorangegangenen Entwicklung auch danach richten, welche Haltung England in
Fragen der auswärtigen Politik einnimmt, und ob die Macht Englands wirklich
dazu ausreicht, neben den eigenen Interessen auch noch die eines befreundeten
Staates zu schützen, der nicht selbst in der Lage ist, diese zu vertreten.

Zwischen Frankreich und England hat sich als Ergebnis der früheren
Delcassöschen Politik der spanisch-marokkanische Handel eingeschlichen, in dem
England, wie bekannt, energisch Stellung für die Gegner Frankreichs nimmt.
Wenn Herr Delcasse seinerzeit die Notwendigkeit dieses Ausgangs seiner Freund¬
schaft mit Eduard dem Siebenten nicht erkannt hat, so ist das ein Zeichen, wie
wenig er die Ziele der englischen Politik verstand. Denn daß England, wie
z, B. Deutschland, einer Ausbreitung der französischen Macht am Mittelmeer
nicht gleichmütig zusehen würde, das mußte Herrn Delcasss doch schon ein Blick
auf die Landkarte erklären. König Eduard hat seinerzeit die Spanier sich in


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[0154] Reichsspiegel mit folgenden klassischen Worten: „Wir gehören nicht zu denjenigen, welche glauben, daß über den Nationen ein sogenannter Klassenpatriotismus steht; wir glauben, daß die Nationen die notwendige Herde der allgemeinen Zivilisation sind. Zwischen uns und den Verächtern des Vaterlandes ist ein Abgrund, der nie geschlossen werden kann. Wir halten die Trikolore hoch, nicht die rote Fahne, die Marseillaise, nicht die Internationale, für Frankreich gegen alle, die es verraten, verleugnen oder verlassen." (Schiemann, „Deutschland und die große Politik", Seite 1K3.) Wir wollen dennoch die Neubildung des französischen Kabinetts nicht tragisch nehmen, wenn auch Poincare und Delcassö sich weiterhin als unsere Gegner entpuppen sollten. Friedrich der Große hat irgendwo einmal dem Ge¬ danken Ausdruck gegeben, daß in der Geschichte fast immer wieder dieselben Szenen sich wiederholen, bei denen nur die Namen der handelnden Personen geändert zu werden brauchen. Die Geschichte geht ohne Rücksicht auf die scheinbar führenden Personen ihren Gang, und diese sind gezwungen, sich den an sie heran¬ tretenden Aufgaben zu widmen, ohne Rücksicht darauf, ob sie mit ihren Dogmen oder Lieblingsideen übereinstimmen. Auch die Herren Poincarö und Delcassö werden nicht an Prinzipien und persönlichen Neigungen früherer Jahre fest¬ halten dürfen, sofern diese den Interessen des Landes zuwiderlaufen. Es ist durchaus nicht gesagt, daß Herr DelcaM heute die Interessen Frankreichs wird mit denselben Mitteln vertreten müssen, wie vor acht Jahren. Wenn er auch vor acht Jahren das Bündnis mit England betrieben hat, so ist es durchaus nicht aus¬ geschlossen, daß er heute das Interesse seines Landes in einer anderen Kombination erkennt. Wir können somit der Entwicklung der Dinge in Frankreich, die selbst¬ verständlich unsere größte Aufmerksamkeit beanspruche», mit ruhiger Gelassenheit zusehen und abwarten, erstens, wie das neue Ministerium endgültig aussieht, zweitens, welche politischen Ziele es verfolgt, und drittens, ob diese Ziele mit dem Bedürfnis der französischen Nation und deren Wünschen übereinstimmen. Die auswärtige Politik Frankreichs wird sich naturgemäß nach der vorangegangenen Entwicklung auch danach richten, welche Haltung England in Fragen der auswärtigen Politik einnimmt, und ob die Macht Englands wirklich dazu ausreicht, neben den eigenen Interessen auch noch die eines befreundeten Staates zu schützen, der nicht selbst in der Lage ist, diese zu vertreten. Zwischen Frankreich und England hat sich als Ergebnis der früheren Delcassöschen Politik der spanisch-marokkanische Handel eingeschlichen, in dem England, wie bekannt, energisch Stellung für die Gegner Frankreichs nimmt. Wenn Herr Delcasse seinerzeit die Notwendigkeit dieses Ausgangs seiner Freund¬ schaft mit Eduard dem Siebenten nicht erkannt hat, so ist das ein Zeichen, wie wenig er die Ziele der englischen Politik verstand. Denn daß England, wie z, B. Deutschland, einer Ausbreitung der französischen Macht am Mittelmeer nicht gleichmütig zusehen würde, das mußte Herrn Delcasss doch schon ein Blick auf die Landkarte erklären. König Eduard hat seinerzeit die Spanier sich in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/154>, abgerufen am 19.10.2024.