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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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ZZriefe aus Persien

bedrängter Lage hätte Vorteile ziehen können. Natürlich mußte es nachträglich
teuer für sein Rußlands Feinden bewiesenes Entgegenkommen büßen. In den
zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts beginnt England als eben¬
bürtiger Rivale Rußlands auf dein Platze zu erscheinen, und von nun an wird
die ganze persische Geschichte durch den sich stets schärfer zuspitzenden russisch¬
englischen Gegensatz bestimmt. Rußland verschob im Westen seine Grenzen bis
zum Hafen Astara am Kaspischen Meer, im Osten bis an den Fuß des Irani¬
schen Hochplateaus und an die afghanische Grenze heran. England rückte die
Grenzen seines indischen Reiches bis auf die Paßhöhen der Randgebirge und
sogar über diese hinaus vor,*) und nahm zur Richtschnur seiner Politik den
bekannten Vergleich, in dem Tibet, Afghanistan und Persien das Glacis der
indischen Festung genannt wird, das England zwar nicht selbst zu besetzen
wünsche, das es aber auch nicht in die Hände einer anderen Großmacht über¬
gehen lassen könne. Damit war haarscharf die Grenze gezogen, deren über¬
schreiten für England Krieg bedeutete. Unversöhnliche Gegensätze schienen also
hier aufeinanderzuprallen, und mehr als einmal hing in diesen Zeiten der Aus¬
bruch des Krieges nur an einem Faden, so bei dem Zwischenfall von Pendjeh,
als russische Truppen die von englischen Offizieren geführten Afghanen schlugen
und ein Gebiet besetzten, dessen Zugehörigkeit zu Russisch. Transkaspien zum
mindesten zweifelhaft war. Wahrscheinlich haben die Russen die Eroberung und
dauernde Besetzung Indiens nie ernsthaft in Erwägung gezogen, selbst damals
nicht, als Skobelew 1878 seinen abenteuerlichen Expeditionsplan entwarf. Für
die russischen Realpolitiker war die Bedrohung Indiens mehr ein Mittel zu
dem Zweck, England an anderen wichtigeren Stellen zum Nachgeben zu zwingen,
nämlich am Bosporus und am Persischen Golf. England konnte weder das
eine noch das andere gewähren. Es bedürfte daher erst des Aderlasses eines
unglücklichen Krieges, um Rußlands Aspirationen -- wenigstens zeitweise --
auf ein England annehmbares Maß zurückzuschrauben und so einen rnssisch-
englischen Ausgleich zu ermöglichen.

Durch den Ausgleich waren zwei erbitterte Feinde mit einem Schlage zu
Freunden geworden und hier in Teheran erlebte man das ungewohnte Schau¬
spiel, daß der russische und englische Gesandte, die sich früher kaum gekannt




") Man nannte das: Indien seine "wissenschaftliche" Grenze geben. Ani einen schönen
Namen für neue Eroberungen ist man ja in England nie verlegen gewesen.
Gewiß war es ein Meisterstück englischer Diplomatenkunst, daß man den unvermeid¬
lichen Krieg, den man selbst nicht führen konnte, durch einen anderen führen ließ und dann
dem bescheiden gewordenen Gegner einen Vergleich aufzwnng. Man muß aber auch nicht
vergessen, daß den Engländern in allen ihren Unternehmungen die Gunst der Verhältnisse
zugute kommt. Politische Hellseher sind auch sie nicht. Wer aber selbst als Drahtzieher
hinter den Kulissen mitwirkt, kann leicht die Zukunft vorher sagen, und wer überall auf der
Welt Interessen hat und in der Lage ist, jedem einzelnen Punkt dieser Interessen in nicht
mißzuverstehender Weise Geltung zu verschaffen, kann leicht die minder günstig dastehenden
Konkurrenten gegeneinander ausspielen.
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bedrängter Lage hätte Vorteile ziehen können. Natürlich mußte es nachträglich
teuer für sein Rußlands Feinden bewiesenes Entgegenkommen büßen. In den
zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts beginnt England als eben¬
bürtiger Rivale Rußlands auf dein Platze zu erscheinen, und von nun an wird
die ganze persische Geschichte durch den sich stets schärfer zuspitzenden russisch¬
englischen Gegensatz bestimmt. Rußland verschob im Westen seine Grenzen bis
zum Hafen Astara am Kaspischen Meer, im Osten bis an den Fuß des Irani¬
schen Hochplateaus und an die afghanische Grenze heran. England rückte die
Grenzen seines indischen Reiches bis auf die Paßhöhen der Randgebirge und
sogar über diese hinaus vor,*) und nahm zur Richtschnur seiner Politik den
bekannten Vergleich, in dem Tibet, Afghanistan und Persien das Glacis der
indischen Festung genannt wird, das England zwar nicht selbst zu besetzen
wünsche, das es aber auch nicht in die Hände einer anderen Großmacht über¬
gehen lassen könne. Damit war haarscharf die Grenze gezogen, deren über¬
schreiten für England Krieg bedeutete. Unversöhnliche Gegensätze schienen also
hier aufeinanderzuprallen, und mehr als einmal hing in diesen Zeiten der Aus¬
bruch des Krieges nur an einem Faden, so bei dem Zwischenfall von Pendjeh,
als russische Truppen die von englischen Offizieren geführten Afghanen schlugen
und ein Gebiet besetzten, dessen Zugehörigkeit zu Russisch. Transkaspien zum
mindesten zweifelhaft war. Wahrscheinlich haben die Russen die Eroberung und
dauernde Besetzung Indiens nie ernsthaft in Erwägung gezogen, selbst damals
nicht, als Skobelew 1878 seinen abenteuerlichen Expeditionsplan entwarf. Für
die russischen Realpolitiker war die Bedrohung Indiens mehr ein Mittel zu
dem Zweck, England an anderen wichtigeren Stellen zum Nachgeben zu zwingen,
nämlich am Bosporus und am Persischen Golf. England konnte weder das
eine noch das andere gewähren. Es bedürfte daher erst des Aderlasses eines
unglücklichen Krieges, um Rußlands Aspirationen — wenigstens zeitweise —
auf ein England annehmbares Maß zurückzuschrauben und so einen rnssisch-
englischen Ausgleich zu ermöglichen.

Durch den Ausgleich waren zwei erbitterte Feinde mit einem Schlage zu
Freunden geworden und hier in Teheran erlebte man das ungewohnte Schau¬
spiel, daß der russische und englische Gesandte, die sich früher kaum gekannt




") Man nannte das: Indien seine „wissenschaftliche" Grenze geben. Ani einen schönen
Namen für neue Eroberungen ist man ja in England nie verlegen gewesen.
Gewiß war es ein Meisterstück englischer Diplomatenkunst, daß man den unvermeid¬
lichen Krieg, den man selbst nicht führen konnte, durch einen anderen führen ließ und dann
dem bescheiden gewordenen Gegner einen Vergleich aufzwnng. Man muß aber auch nicht
vergessen, daß den Engländern in allen ihren Unternehmungen die Gunst der Verhältnisse
zugute kommt. Politische Hellseher sind auch sie nicht. Wer aber selbst als Drahtzieher
hinter den Kulissen mitwirkt, kann leicht die Zukunft vorher sagen, und wer überall auf der
Welt Interessen hat und in der Lage ist, jedem einzelnen Punkt dieser Interessen in nicht
mißzuverstehender Weise Geltung zu verschaffen, kann leicht die minder günstig dastehenden
Konkurrenten gegeneinander ausspielen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/130>, abgerufen am 27.09.2024.