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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Das pathologische in der Runst im Lichte
der modernen Psychologie
von Orivatdozent Dr, K, Oesterreich

er Zug zur Synthese, der durch das geistige Leben der Gegenwart
geht, bringt es mit sich, daß viele Gebiete ihre wichtigste Förderung
durch Köpfe erfahren haben, die zunächst in ganz anderen Kreisen
sich bewegten, als auf denen sie ihre Leistungen dann vollbrachten.
Die Erfahrungen, die Denkrichtung, die sie sich anderswo angeeignet
hatten, machte ihre Stärke aus.

Ein besonders unbefriedigendes, der Befruchtung entbehrendes Bild hat lange
Jahre hindurch die literarische Kritik geboten. Selbst wo der Kritiker weiteren
Gesichtskreis besaß, blieb er in den Schranken seiner zu einseitigen ästhetischen
Bildung stecken. So vermochte er auch der Öffentlichkeit oft kein volles Ver-
ständnis des dichterischen und künstlerischen Schaffens der Zeit zu vermitteln.
Dieses Schaffen suchte seit Beginn der achtziger Jahre selbst neue Wege. Bei
aller Größe waren Grillparzer und Hebbel so gut, wie in der bildenden Kunst
Feuerbach, Klassizisten gewesen. Nicht Leben und Natur waren die Gegenstände,
auf die ihr Auge allein gerichtet war, sie sahen auf die großen Vorgänger. Darin
liegt das Wesen alles Klassizismus. Am Ende des vergangenen Jahrhunderts kam
dann ein neues Geschlecht. In ihm regte sich Eignes. Der neue Most schäumte
und zersprengte die alten Formen. Radikal, wie jede Jugend, aus der etwas
wird, zeigte sie sich unbändig, trotzig. Sie hatte viel zu kämpfen. Noch heute ist
vielen das einst gefallene Wort "Rinnsteinkunst" aus der Seele gesprochen.

Aber immer stärker ist die Selbstbesinnung geworden, daß wieder einmal
Großes, Neues erstanden war, zu dem man kein Verhältnis des Verständnisses
finden konnte. In unserer schnell lebenden Zeit kommt auch die Gerechtigkeit
der Nachwelt schneller. Noch dieselbe Generation, die verdammt hat, nimmt jetzt
das Urteil zurück. Und auch hier, auf dem Gebiet der Literatur, haben Außen¬
stehende manches Verdienst an der Besserung der Lage, des Verhältnisses des
Publikums zur Kunst. Unter denen, die neuestens in diesem Sinne hervorgetreten
sind, ist die Stimme eines Juristen, Erich Wulffen, eine der gewichtigsten.

Erich Wulffen besitzt längst den Ruf, einer unserer hervorragendsten Kriminalisten
zu sein. Seine beiden großen Werke über den "Sexualverbrecher" und die "Psycho¬
logie des Verbrechers" sind internationale Zwnclarcl-vvorKs der Kriminalistik. Aller
Einsichten der normalen und pathologischen Psychologie Herr, hat er hier Für-




Das pathologische in der Runst im Lichte
der modernen Psychologie
von Orivatdozent Dr, K, Oesterreich

er Zug zur Synthese, der durch das geistige Leben der Gegenwart
geht, bringt es mit sich, daß viele Gebiete ihre wichtigste Förderung
durch Köpfe erfahren haben, die zunächst in ganz anderen Kreisen
sich bewegten, als auf denen sie ihre Leistungen dann vollbrachten.
Die Erfahrungen, die Denkrichtung, die sie sich anderswo angeeignet
hatten, machte ihre Stärke aus.

Ein besonders unbefriedigendes, der Befruchtung entbehrendes Bild hat lange
Jahre hindurch die literarische Kritik geboten. Selbst wo der Kritiker weiteren
Gesichtskreis besaß, blieb er in den Schranken seiner zu einseitigen ästhetischen
Bildung stecken. So vermochte er auch der Öffentlichkeit oft kein volles Ver-
ständnis des dichterischen und künstlerischen Schaffens der Zeit zu vermitteln.
Dieses Schaffen suchte seit Beginn der achtziger Jahre selbst neue Wege. Bei
aller Größe waren Grillparzer und Hebbel so gut, wie in der bildenden Kunst
Feuerbach, Klassizisten gewesen. Nicht Leben und Natur waren die Gegenstände,
auf die ihr Auge allein gerichtet war, sie sahen auf die großen Vorgänger. Darin
liegt das Wesen alles Klassizismus. Am Ende des vergangenen Jahrhunderts kam
dann ein neues Geschlecht. In ihm regte sich Eignes. Der neue Most schäumte
und zersprengte die alten Formen. Radikal, wie jede Jugend, aus der etwas
wird, zeigte sie sich unbändig, trotzig. Sie hatte viel zu kämpfen. Noch heute ist
vielen das einst gefallene Wort „Rinnsteinkunst" aus der Seele gesprochen.

Aber immer stärker ist die Selbstbesinnung geworden, daß wieder einmal
Großes, Neues erstanden war, zu dem man kein Verhältnis des Verständnisses
finden konnte. In unserer schnell lebenden Zeit kommt auch die Gerechtigkeit
der Nachwelt schneller. Noch dieselbe Generation, die verdammt hat, nimmt jetzt
das Urteil zurück. Und auch hier, auf dem Gebiet der Literatur, haben Außen¬
stehende manches Verdienst an der Besserung der Lage, des Verhältnisses des
Publikums zur Kunst. Unter denen, die neuestens in diesem Sinne hervorgetreten
sind, ist die Stimme eines Juristen, Erich Wulffen, eine der gewichtigsten.

Erich Wulffen besitzt längst den Ruf, einer unserer hervorragendsten Kriminalisten
zu sein. Seine beiden großen Werke über den „Sexualverbrecher" und die „Psycho¬
logie des Verbrechers" sind internationale Zwnclarcl-vvorKs der Kriminalistik. Aller
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/95>, abgerufen am 23.07.2024.