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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

durch das Urteil bestimmt." -- Kahl hat durchaus recht mit seiner Ansicht, daß
ohne eine derartige Bestimmung die Sondervorschriften über die strafrechtliche
Behandlung der geistig Minderwertigen wertlos seien. Die These atmet einen
Geist, der weit über die Vergeltungstendenz des jetzt geltenden Strafrechts
hinausgeht. Sie begnügt sich nicht mit der "Sühne" für das "verletzte Recht",
sondern fordert die Behandlung einer bestimmten Gruppe von Rechtsverletzern
auf Grund der Erkenntnis ihrer eigenartigen körperlich-geistigen Beschaffenheit.

Zu den Ausführungsbestimmungen über die Verwahrung der "gemeingefähr¬
lichen" geistig minderwertigen Verbrecher noch einige Worte. Man wird nicht
umhin können, besondere Anstalten zur Unterbringung solcher Individuen zu
errichten, da ein Teil von ihnen in den Heil- und Pflegeanstalten für nicht
Kriminelle ein zu störendes Element bilden wird. -- Gegen die Anordnung der
Verwahrung muß unter Umständen Berufung an eine höhere Instanz zulässig
sein. Die Entlassung aus der Verwahrung darf selbstverständlich nur unter
Mitwirkung des psychiatrischen Sachverständigen erfolgen. Dabei wäre sorgfältig
zu prüfen, ob die äußeren Lebensverhältnisse einige Gewähr gegen Rückfälligkeit
bieten. Auch sollte die Entlassung zunächst nur auf Widerruf angeordnet werden.

Zum Schluß seien noch einige Einwände besprochen, die von einem
Psychiater, Professor Dr. Straßmann, gegen die Einführung einer strafrechtlich
besonders zu behandelnden Zwischenstufe überhaupt erhoben worden sind.
Straßmann hält die Einbringung der hierauf bezüglichen Bestimmungen des
Vorentwurfs für einen Rückschritt, weil er in den geistig Minderwertigen eine
"Kategorie von Geisteskranken" sieht, die nach seiner Ansicht nicht Gegenstand
strafrechtlicher Verfolgung sein sollen. Er weiß nicht, "wie man Leute, die
später eventuell einer Behandlung in einer Heil- und Pflegeanstalt, d. h. in
einer Irrenanstalt, denn von anderen Anstalten ist weder im Entwurf noch in
den Motiven die Rede, die einer solchen Anstalt also überwiesen werden können,
anders bezeichnen soll wie als Geisteskranke". Nach Straßmanns Ansicht wird
die hauptsächliche praktische Folge des in Aussicht genommenen Gesetzes darin
bestehen, "daß Geisteskranke, sagen wir selbst Geisteskranke leichteren Grades,
die bisher als unzurechnungsfähig freigesprochen sind, nunmehr als nur ver¬
mindert zurechnungsfähig verurteilt und zunächst bestraft werden". Denn bei
der Dehnbarkeit und Deutbarkeit des Begriffs der freien Willensbestimmung
beruhe es ja auf "reiner Willkür", ob man ihren Verlust oder nur hochgradige
Verminderung annehmen wolle. Die Strafanstalten würden mit "geistig schwer
gestörten Personen" belastet werden, mit denen sie nicht fertig werden könnten.
Und diejenigen, die nach der Strafe noch in Verwahrungsanstalten kämen, würden
sehr erbittert werden über die verlängerte Freiheitsberaubung. Die Angehörigen
würden überdies empört sein, daß ihnen trotz "motorischer Geistesstörung" die
Schande der Verurteilung ihres Verwandten nicht erspart sei. Und schließlich
sei die ganze Bestimmung über die Zwischenstufe unnötig, da ja nach dem
Vorentwurf die wegen Unzurechnungsfähigkeit Freigesprochenen in Verwahrung


Grenzvoten IV 1911 10
Die geistig Minderwertigen

durch das Urteil bestimmt." — Kahl hat durchaus recht mit seiner Ansicht, daß
ohne eine derartige Bestimmung die Sondervorschriften über die strafrechtliche
Behandlung der geistig Minderwertigen wertlos seien. Die These atmet einen
Geist, der weit über die Vergeltungstendenz des jetzt geltenden Strafrechts
hinausgeht. Sie begnügt sich nicht mit der „Sühne" für das „verletzte Recht",
sondern fordert die Behandlung einer bestimmten Gruppe von Rechtsverletzern
auf Grund der Erkenntnis ihrer eigenartigen körperlich-geistigen Beschaffenheit.

Zu den Ausführungsbestimmungen über die Verwahrung der „gemeingefähr¬
lichen" geistig minderwertigen Verbrecher noch einige Worte. Man wird nicht
umhin können, besondere Anstalten zur Unterbringung solcher Individuen zu
errichten, da ein Teil von ihnen in den Heil- und Pflegeanstalten für nicht
Kriminelle ein zu störendes Element bilden wird. — Gegen die Anordnung der
Verwahrung muß unter Umständen Berufung an eine höhere Instanz zulässig
sein. Die Entlassung aus der Verwahrung darf selbstverständlich nur unter
Mitwirkung des psychiatrischen Sachverständigen erfolgen. Dabei wäre sorgfältig
zu prüfen, ob die äußeren Lebensverhältnisse einige Gewähr gegen Rückfälligkeit
bieten. Auch sollte die Entlassung zunächst nur auf Widerruf angeordnet werden.

Zum Schluß seien noch einige Einwände besprochen, die von einem
Psychiater, Professor Dr. Straßmann, gegen die Einführung einer strafrechtlich
besonders zu behandelnden Zwischenstufe überhaupt erhoben worden sind.
Straßmann hält die Einbringung der hierauf bezüglichen Bestimmungen des
Vorentwurfs für einen Rückschritt, weil er in den geistig Minderwertigen eine
„Kategorie von Geisteskranken" sieht, die nach seiner Ansicht nicht Gegenstand
strafrechtlicher Verfolgung sein sollen. Er weiß nicht, „wie man Leute, die
später eventuell einer Behandlung in einer Heil- und Pflegeanstalt, d. h. in
einer Irrenanstalt, denn von anderen Anstalten ist weder im Entwurf noch in
den Motiven die Rede, die einer solchen Anstalt also überwiesen werden können,
anders bezeichnen soll wie als Geisteskranke". Nach Straßmanns Ansicht wird
die hauptsächliche praktische Folge des in Aussicht genommenen Gesetzes darin
bestehen, „daß Geisteskranke, sagen wir selbst Geisteskranke leichteren Grades,
die bisher als unzurechnungsfähig freigesprochen sind, nunmehr als nur ver¬
mindert zurechnungsfähig verurteilt und zunächst bestraft werden". Denn bei
der Dehnbarkeit und Deutbarkeit des Begriffs der freien Willensbestimmung
beruhe es ja auf „reiner Willkür", ob man ihren Verlust oder nur hochgradige
Verminderung annehmen wolle. Die Strafanstalten würden mit „geistig schwer
gestörten Personen" belastet werden, mit denen sie nicht fertig werden könnten.
Und diejenigen, die nach der Strafe noch in Verwahrungsanstalten kämen, würden
sehr erbittert werden über die verlängerte Freiheitsberaubung. Die Angehörigen
würden überdies empört sein, daß ihnen trotz „motorischer Geistesstörung" die
Schande der Verurteilung ihres Verwandten nicht erspart sei. Und schließlich
sei die ganze Bestimmung über die Zwischenstufe unnötig, da ja nach dem
Vorentwurf die wegen Unzurechnungsfähigkeit Freigesprochenen in Verwahrung


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[0085] Die geistig Minderwertigen durch das Urteil bestimmt." — Kahl hat durchaus recht mit seiner Ansicht, daß ohne eine derartige Bestimmung die Sondervorschriften über die strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwertigen wertlos seien. Die These atmet einen Geist, der weit über die Vergeltungstendenz des jetzt geltenden Strafrechts hinausgeht. Sie begnügt sich nicht mit der „Sühne" für das „verletzte Recht", sondern fordert die Behandlung einer bestimmten Gruppe von Rechtsverletzern auf Grund der Erkenntnis ihrer eigenartigen körperlich-geistigen Beschaffenheit. Zu den Ausführungsbestimmungen über die Verwahrung der „gemeingefähr¬ lichen" geistig minderwertigen Verbrecher noch einige Worte. Man wird nicht umhin können, besondere Anstalten zur Unterbringung solcher Individuen zu errichten, da ein Teil von ihnen in den Heil- und Pflegeanstalten für nicht Kriminelle ein zu störendes Element bilden wird. — Gegen die Anordnung der Verwahrung muß unter Umständen Berufung an eine höhere Instanz zulässig sein. Die Entlassung aus der Verwahrung darf selbstverständlich nur unter Mitwirkung des psychiatrischen Sachverständigen erfolgen. Dabei wäre sorgfältig zu prüfen, ob die äußeren Lebensverhältnisse einige Gewähr gegen Rückfälligkeit bieten. Auch sollte die Entlassung zunächst nur auf Widerruf angeordnet werden. Zum Schluß seien noch einige Einwände besprochen, die von einem Psychiater, Professor Dr. Straßmann, gegen die Einführung einer strafrechtlich besonders zu behandelnden Zwischenstufe überhaupt erhoben worden sind. Straßmann hält die Einbringung der hierauf bezüglichen Bestimmungen des Vorentwurfs für einen Rückschritt, weil er in den geistig Minderwertigen eine „Kategorie von Geisteskranken" sieht, die nach seiner Ansicht nicht Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung sein sollen. Er weiß nicht, „wie man Leute, die später eventuell einer Behandlung in einer Heil- und Pflegeanstalt, d. h. in einer Irrenanstalt, denn von anderen Anstalten ist weder im Entwurf noch in den Motiven die Rede, die einer solchen Anstalt also überwiesen werden können, anders bezeichnen soll wie als Geisteskranke". Nach Straßmanns Ansicht wird die hauptsächliche praktische Folge des in Aussicht genommenen Gesetzes darin bestehen, „daß Geisteskranke, sagen wir selbst Geisteskranke leichteren Grades, die bisher als unzurechnungsfähig freigesprochen sind, nunmehr als nur ver¬ mindert zurechnungsfähig verurteilt und zunächst bestraft werden". Denn bei der Dehnbarkeit und Deutbarkeit des Begriffs der freien Willensbestimmung beruhe es ja auf „reiner Willkür", ob man ihren Verlust oder nur hochgradige Verminderung annehmen wolle. Die Strafanstalten würden mit „geistig schwer gestörten Personen" belastet werden, mit denen sie nicht fertig werden könnten. Und diejenigen, die nach der Strafe noch in Verwahrungsanstalten kämen, würden sehr erbittert werden über die verlängerte Freiheitsberaubung. Die Angehörigen würden überdies empört sein, daß ihnen trotz „motorischer Geistesstörung" die Schande der Verurteilung ihres Verwandten nicht erspart sei. Und schließlich sei die ganze Bestimmung über die Zwischenstufe unnötig, da ja nach dem Vorentwurf die wegen Unzurechnungsfähigkeit Freigesprochenen in Verwahrung Grenzvoten IV 1911 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/85>, abgerufen am 23.07.2024.