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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

nicht leichter als anderwärts, sondern ungeheuer schwer, und kann nur durch
ein besonders günstiges Zusammentreffen von Umständen und Kräften vollbracht
werden. Daß solches Zusammentreffen einmal wiederkehre, darauf wollen wir
denn hoffen, und wollen in Gedanken den Mann grüßen, der irgendwoher und
irgendwann doch kommen wird, der uns, nicht bloß zum besten der Schule, den
Geist und die Staats kunst eines Stein und Humboldt erneuert.

Ein Goethescher Spruch lautet: "Der Mensch muß bei dem Glauben ver¬
harren, daß das Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen."
Das ist vom Gelehrten gesagt; und etwas ähnliches gilt vom Staatsmann: er
muß an die Möglichkeit glauben, das Unmögliche wirklich zu machen; wie
sollte er sonst den Mut finden zu handeln?




Die geistig Minderwertigen
und ihre zukünftige strafrechtliche Behandlung
von Oberstabsarzt Dr. Lobedank (Schluß)

Wie soll der Richter gegen den geistig minderwertigen Täter verfahren?
Da manchen geistig Minderwertigen gegenüber Strafmilderung unbedenklich
angebracht ist, liegt es nahe, den oben vorgeschlagenen Wortlaut des in
Rede stehenden Gesetzparagraphen zu ergänzen durch die Worte: ". . . so
kann der Richter die Strafe nach freiem Ermessen mildern". Ich glaube,
daß man im allgemeinen damit auskommen könnte, und daß die Mehrzahl
der Richter kaum Neigung haben würde, die Strafmilderung auch den
moralisch Entarteten unter den geistig minderwertigen Verbrechern zu
gute kommen zu lassen. Trotzdem ist es möglich, daß einzelne Richter, wenn
sie einerseits die Diagnose des Sachverständigen auf geistige Minderwertigkeit bei
einem schweren Verbrecher anerkannt haben, und anderseits ihre Weltanschauung
von Schuld und Sühne auf den Fall anwenden, die nach ihrer Ansicht ver¬
minderte Schuld auch unter allen Umständen milder strafen zu müssen glauben
werden. Für groß halte ich diese Gefahr zwar nicht. Daß sie aber besteht, wird
nicht zu leugnen sein. Ich wäre daher für einen Zusatz, der etwa lauten würde:
"Strafmilderung ist ausgeschlossen, wenn die Tat von großer Roheit zeugte,
oder wenn die geistige Minderwertigkeit des Täters sich im wesentlichen durch
Betätigung unmoralischer gesellschaftsfeindlicher Neigungen kundgibt." Durch
einen derartigen Zusatz würde vermieden, daß solche Individuen, die gerade
wegen ihrer besonderen Art von geistiger Minderwertigkeit besonders starker


Die geistig Minderwertigen

nicht leichter als anderwärts, sondern ungeheuer schwer, und kann nur durch
ein besonders günstiges Zusammentreffen von Umständen und Kräften vollbracht
werden. Daß solches Zusammentreffen einmal wiederkehre, darauf wollen wir
denn hoffen, und wollen in Gedanken den Mann grüßen, der irgendwoher und
irgendwann doch kommen wird, der uns, nicht bloß zum besten der Schule, den
Geist und die Staats kunst eines Stein und Humboldt erneuert.

Ein Goethescher Spruch lautet: „Der Mensch muß bei dem Glauben ver¬
harren, daß das Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen."
Das ist vom Gelehrten gesagt; und etwas ähnliches gilt vom Staatsmann: er
muß an die Möglichkeit glauben, das Unmögliche wirklich zu machen; wie
sollte er sonst den Mut finden zu handeln?




Die geistig Minderwertigen
und ihre zukünftige strafrechtliche Behandlung
von Oberstabsarzt Dr. Lobedank (Schluß)

Wie soll der Richter gegen den geistig minderwertigen Täter verfahren?
Da manchen geistig Minderwertigen gegenüber Strafmilderung unbedenklich
angebracht ist, liegt es nahe, den oben vorgeschlagenen Wortlaut des in
Rede stehenden Gesetzparagraphen zu ergänzen durch die Worte: „. . . so
kann der Richter die Strafe nach freiem Ermessen mildern". Ich glaube,
daß man im allgemeinen damit auskommen könnte, und daß die Mehrzahl
der Richter kaum Neigung haben würde, die Strafmilderung auch den
moralisch Entarteten unter den geistig minderwertigen Verbrechern zu
gute kommen zu lassen. Trotzdem ist es möglich, daß einzelne Richter, wenn
sie einerseits die Diagnose des Sachverständigen auf geistige Minderwertigkeit bei
einem schweren Verbrecher anerkannt haben, und anderseits ihre Weltanschauung
von Schuld und Sühne auf den Fall anwenden, die nach ihrer Ansicht ver¬
minderte Schuld auch unter allen Umständen milder strafen zu müssen glauben
werden. Für groß halte ich diese Gefahr zwar nicht. Daß sie aber besteht, wird
nicht zu leugnen sein. Ich wäre daher für einen Zusatz, der etwa lauten würde:
„Strafmilderung ist ausgeschlossen, wenn die Tat von großer Roheit zeugte,
oder wenn die geistige Minderwertigkeit des Täters sich im wesentlichen durch
Betätigung unmoralischer gesellschaftsfeindlicher Neigungen kundgibt." Durch
einen derartigen Zusatz würde vermieden, daß solche Individuen, die gerade
wegen ihrer besonderen Art von geistiger Minderwertigkeit besonders starker


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/78>, abgerufen am 23.07.2024.