Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsspiegel

im Reichstage so zu lokalisieren, daß der Gang der Reichsmaschine nicht
beeinträchtigt zu werden braucht. Dann freilich muß es sich zeigen, was in
unserer jetzigen Regierung an schöpferischer Kraft und weitblickendem Wollen
steckt. Denn alsdann wird es in erster Linie von ihrem Auftreten abhängen,
ob sich eine größere Anzahl wirklich völkisch und vaterländisch gesinnter Männer
um sie wird scharen können.

Auf deu neuen Reichstag dürfen wir nach keiner Richtung hin große
Hoffnungen setzen; der Wahlkampf wird fast vollständig aus den Mitteln der wirt¬
schaftlichen Verbände bestritten, und so darf erwartet werden, daß sie es auch
sein werden, die der neuen Zusammensetzung den Stempel aufdrücken. Demgemäß
dürfte auch das kulturelle Niveau kaum höher steigen als im letzten Reichstage.
Sehen wir die Kandidatenlisten durch, so wird das Bild nicht erfreulicher.
Kulturelle Rücksichten bei der Kandidatenausstellung kommen eigentlich nur beim
Zentrum und bei den Liberalen zu Wort, während bei allen übrigen Parteien
ausschließlich wirtschaftliche Klassen- und Kasteninteressen in den Vordergrund
treten. Daß die kulturellen Interessen des Zentrums auf ultramontaner Basis
ruhen, braucht nicht mehr besonders bewiesen zu werden. Leider wird die
Gefahr des Ultramontanismus für das Reich nicht genügend gewürdigt. Die
einander befehdenden Wirtschaftsverbände dürfen das Zentrum bei dem Kampf
um die Reichstagsmandate nicht unberücksichtigt lassen. Solange das Zentrum
auch die übertriebenen wirtschaftlichen Forderungen des Großgrundbesitzes und
der Schwerindustrie unterstützt, solange wird der Ultramontanismus Bundes¬
genosse der Konservativen, der doch nach ihrer Geschichte und eigenen Auffassung
berufensten Träger deutscher Kultur, bleiben dürfen. Am konsequentesten
und in den bescheidenen Grenzen zugleich auch am erfolgreichsten bleibt
die nationalliberale Partei bemüht, das Niveau des Reichstages zu heben,
indem sie eine ganze Reihe wirtschaftlich unabhängiger Männer aus den aka¬
demisch gebildeten Berufen als Mitglieder des Reichstags in Aussicht genommen
hat und unter ihnen mehrere, die sich bereits als Mitglieder der Emzellcmdtage
hohes Ansehen auch außerhalb der eigenen Fraktion erworben haben -- doch
was bedeuten alle diese Anstrengungen einiger weniger weitschauender Männer,
solange das Leben der Nation eingeschnürt bleibt von den Daseinsforderungen
der wirtschaftlichen Verbände und solange diese Verbände den Wert und die
Notwendigkeit kultureller Arbeit außerhalb und neben wirtschaftlicher Betätigung
nicht so hoch einschätzen, wie es notwendig wäre.




Das Jahr 1911 neigt sich seinem Ende zu. Es war kein frohes Jahr
und endet mit einem Mißklang. Die Agitation des Generals Keim zugunsten
eines Heeresvereins erscheint uns angesichts der Opferfreudigkeit der gesamten
Nation einschließlich der Ultramontanen, wo es gilt die Wehrkraft des Reichs
zu vermehren, wie das Gebilde einer überhitzten Phantasie. Ich komme hier¬
auf noch ausführlich im Januar zurück. Das Jahr hinterläßt uns eine
Reihe von wichtigen Problemen, deren Lösung dringend und dringender


Reichsspiegel

im Reichstage so zu lokalisieren, daß der Gang der Reichsmaschine nicht
beeinträchtigt zu werden braucht. Dann freilich muß es sich zeigen, was in
unserer jetzigen Regierung an schöpferischer Kraft und weitblickendem Wollen
steckt. Denn alsdann wird es in erster Linie von ihrem Auftreten abhängen,
ob sich eine größere Anzahl wirklich völkisch und vaterländisch gesinnter Männer
um sie wird scharen können.

Auf deu neuen Reichstag dürfen wir nach keiner Richtung hin große
Hoffnungen setzen; der Wahlkampf wird fast vollständig aus den Mitteln der wirt¬
schaftlichen Verbände bestritten, und so darf erwartet werden, daß sie es auch
sein werden, die der neuen Zusammensetzung den Stempel aufdrücken. Demgemäß
dürfte auch das kulturelle Niveau kaum höher steigen als im letzten Reichstage.
Sehen wir die Kandidatenlisten durch, so wird das Bild nicht erfreulicher.
Kulturelle Rücksichten bei der Kandidatenausstellung kommen eigentlich nur beim
Zentrum und bei den Liberalen zu Wort, während bei allen übrigen Parteien
ausschließlich wirtschaftliche Klassen- und Kasteninteressen in den Vordergrund
treten. Daß die kulturellen Interessen des Zentrums auf ultramontaner Basis
ruhen, braucht nicht mehr besonders bewiesen zu werden. Leider wird die
Gefahr des Ultramontanismus für das Reich nicht genügend gewürdigt. Die
einander befehdenden Wirtschaftsverbände dürfen das Zentrum bei dem Kampf
um die Reichstagsmandate nicht unberücksichtigt lassen. Solange das Zentrum
auch die übertriebenen wirtschaftlichen Forderungen des Großgrundbesitzes und
der Schwerindustrie unterstützt, solange wird der Ultramontanismus Bundes¬
genosse der Konservativen, der doch nach ihrer Geschichte und eigenen Auffassung
berufensten Träger deutscher Kultur, bleiben dürfen. Am konsequentesten
und in den bescheidenen Grenzen zugleich auch am erfolgreichsten bleibt
die nationalliberale Partei bemüht, das Niveau des Reichstages zu heben,
indem sie eine ganze Reihe wirtschaftlich unabhängiger Männer aus den aka¬
demisch gebildeten Berufen als Mitglieder des Reichstags in Aussicht genommen
hat und unter ihnen mehrere, die sich bereits als Mitglieder der Emzellcmdtage
hohes Ansehen auch außerhalb der eigenen Fraktion erworben haben — doch
was bedeuten alle diese Anstrengungen einiger weniger weitschauender Männer,
solange das Leben der Nation eingeschnürt bleibt von den Daseinsforderungen
der wirtschaftlichen Verbände und solange diese Verbände den Wert und die
Notwendigkeit kultureller Arbeit außerhalb und neben wirtschaftlicher Betätigung
nicht so hoch einschätzen, wie es notwendig wäre.




Das Jahr 1911 neigt sich seinem Ende zu. Es war kein frohes Jahr
und endet mit einem Mißklang. Die Agitation des Generals Keim zugunsten
eines Heeresvereins erscheint uns angesichts der Opferfreudigkeit der gesamten
Nation einschließlich der Ultramontanen, wo es gilt die Wehrkraft des Reichs
zu vermehren, wie das Gebilde einer überhitzten Phantasie. Ich komme hier¬
auf noch ausführlich im Januar zurück. Das Jahr hinterläßt uns eine
Reihe von wichtigen Problemen, deren Lösung dringend und dringender


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0668" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320269"/>
            <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2946" prev="#ID_2945"> im Reichstage so zu lokalisieren, daß der Gang der Reichsmaschine nicht<lb/>
beeinträchtigt zu werden braucht. Dann freilich muß es sich zeigen, was in<lb/>
unserer jetzigen Regierung an schöpferischer Kraft und weitblickendem Wollen<lb/>
steckt. Denn alsdann wird es in erster Linie von ihrem Auftreten abhängen,<lb/>
ob sich eine größere Anzahl wirklich völkisch und vaterländisch gesinnter Männer<lb/>
um sie wird scharen können.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2947"> Auf deu neuen Reichstag dürfen wir nach keiner Richtung hin große<lb/>
Hoffnungen setzen; der Wahlkampf wird fast vollständig aus den Mitteln der wirt¬<lb/>
schaftlichen Verbände bestritten, und so darf erwartet werden, daß sie es auch<lb/>
sein werden, die der neuen Zusammensetzung den Stempel aufdrücken. Demgemäß<lb/>
dürfte auch das kulturelle Niveau kaum höher steigen als im letzten Reichstage.<lb/>
Sehen wir die Kandidatenlisten durch, so wird das Bild nicht erfreulicher.<lb/>
Kulturelle Rücksichten bei der Kandidatenausstellung kommen eigentlich nur beim<lb/>
Zentrum und bei den Liberalen zu Wort, während bei allen übrigen Parteien<lb/>
ausschließlich wirtschaftliche Klassen- und Kasteninteressen in den Vordergrund<lb/>
treten. Daß die kulturellen Interessen des Zentrums auf ultramontaner Basis<lb/>
ruhen, braucht nicht mehr besonders bewiesen zu werden. Leider wird die<lb/>
Gefahr des Ultramontanismus für das Reich nicht genügend gewürdigt. Die<lb/>
einander befehdenden Wirtschaftsverbände dürfen das Zentrum bei dem Kampf<lb/>
um die Reichstagsmandate nicht unberücksichtigt lassen. Solange das Zentrum<lb/>
auch die übertriebenen wirtschaftlichen Forderungen des Großgrundbesitzes und<lb/>
der Schwerindustrie unterstützt, solange wird der Ultramontanismus Bundes¬<lb/>
genosse der Konservativen, der doch nach ihrer Geschichte und eigenen Auffassung<lb/>
berufensten Träger deutscher Kultur, bleiben dürfen. Am konsequentesten<lb/>
und in den bescheidenen Grenzen zugleich auch am erfolgreichsten bleibt<lb/>
die nationalliberale Partei bemüht, das Niveau des Reichstages zu heben,<lb/>
indem sie eine ganze Reihe wirtschaftlich unabhängiger Männer aus den aka¬<lb/>
demisch gebildeten Berufen als Mitglieder des Reichstags in Aussicht genommen<lb/>
hat und unter ihnen mehrere, die sich bereits als Mitglieder der Emzellcmdtage<lb/>
hohes Ansehen auch außerhalb der eigenen Fraktion erworben haben &#x2014; doch<lb/>
was bedeuten alle diese Anstrengungen einiger weniger weitschauender Männer,<lb/>
solange das Leben der Nation eingeschnürt bleibt von den Daseinsforderungen<lb/>
der wirtschaftlichen Verbände und solange diese Verbände den Wert und die<lb/>
Notwendigkeit kultureller Arbeit außerhalb und neben wirtschaftlicher Betätigung<lb/>
nicht so hoch einschätzen, wie es notwendig wäre.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p xml:id="ID_2948" next="#ID_2949"> Das Jahr 1911 neigt sich seinem Ende zu. Es war kein frohes Jahr<lb/>
und endet mit einem Mißklang. Die Agitation des Generals Keim zugunsten<lb/>
eines Heeresvereins erscheint uns angesichts der Opferfreudigkeit der gesamten<lb/>
Nation einschließlich der Ultramontanen, wo es gilt die Wehrkraft des Reichs<lb/>
zu vermehren, wie das Gebilde einer überhitzten Phantasie. Ich komme hier¬<lb/>
auf noch ausführlich im Januar zurück. Das Jahr hinterläßt uns eine<lb/>
Reihe von wichtigen Problemen, deren Lösung dringend und dringender</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0668] Reichsspiegel im Reichstage so zu lokalisieren, daß der Gang der Reichsmaschine nicht beeinträchtigt zu werden braucht. Dann freilich muß es sich zeigen, was in unserer jetzigen Regierung an schöpferischer Kraft und weitblickendem Wollen steckt. Denn alsdann wird es in erster Linie von ihrem Auftreten abhängen, ob sich eine größere Anzahl wirklich völkisch und vaterländisch gesinnter Männer um sie wird scharen können. Auf deu neuen Reichstag dürfen wir nach keiner Richtung hin große Hoffnungen setzen; der Wahlkampf wird fast vollständig aus den Mitteln der wirt¬ schaftlichen Verbände bestritten, und so darf erwartet werden, daß sie es auch sein werden, die der neuen Zusammensetzung den Stempel aufdrücken. Demgemäß dürfte auch das kulturelle Niveau kaum höher steigen als im letzten Reichstage. Sehen wir die Kandidatenlisten durch, so wird das Bild nicht erfreulicher. Kulturelle Rücksichten bei der Kandidatenausstellung kommen eigentlich nur beim Zentrum und bei den Liberalen zu Wort, während bei allen übrigen Parteien ausschließlich wirtschaftliche Klassen- und Kasteninteressen in den Vordergrund treten. Daß die kulturellen Interessen des Zentrums auf ultramontaner Basis ruhen, braucht nicht mehr besonders bewiesen zu werden. Leider wird die Gefahr des Ultramontanismus für das Reich nicht genügend gewürdigt. Die einander befehdenden Wirtschaftsverbände dürfen das Zentrum bei dem Kampf um die Reichstagsmandate nicht unberücksichtigt lassen. Solange das Zentrum auch die übertriebenen wirtschaftlichen Forderungen des Großgrundbesitzes und der Schwerindustrie unterstützt, solange wird der Ultramontanismus Bundes¬ genosse der Konservativen, der doch nach ihrer Geschichte und eigenen Auffassung berufensten Träger deutscher Kultur, bleiben dürfen. Am konsequentesten und in den bescheidenen Grenzen zugleich auch am erfolgreichsten bleibt die nationalliberale Partei bemüht, das Niveau des Reichstages zu heben, indem sie eine ganze Reihe wirtschaftlich unabhängiger Männer aus den aka¬ demisch gebildeten Berufen als Mitglieder des Reichstags in Aussicht genommen hat und unter ihnen mehrere, die sich bereits als Mitglieder der Emzellcmdtage hohes Ansehen auch außerhalb der eigenen Fraktion erworben haben — doch was bedeuten alle diese Anstrengungen einiger weniger weitschauender Männer, solange das Leben der Nation eingeschnürt bleibt von den Daseinsforderungen der wirtschaftlichen Verbände und solange diese Verbände den Wert und die Notwendigkeit kultureller Arbeit außerhalb und neben wirtschaftlicher Betätigung nicht so hoch einschätzen, wie es notwendig wäre. Das Jahr 1911 neigt sich seinem Ende zu. Es war kein frohes Jahr und endet mit einem Mißklang. Die Agitation des Generals Keim zugunsten eines Heeresvereins erscheint uns angesichts der Opferfreudigkeit der gesamten Nation einschließlich der Ultramontanen, wo es gilt die Wehrkraft des Reichs zu vermehren, wie das Gebilde einer überhitzten Phantasie. Ich komme hier¬ auf noch ausführlich im Januar zurück. Das Jahr hinterläßt uns eine Reihe von wichtigen Problemen, deren Lösung dringend und dringender

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/668
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/668>, abgerufen am 23.07.2024.