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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Gottfried Haborforfs Irrtum

sich letzten Endes als das Ergebnis seiner persönlichen Handlungen, war eigentlich
nichts anderes als das Bestreben, eine Entschuldigung für die eigene Unzuläng¬
lichkeit zu finden.

"Also bin ich," meinte er, aus dem Bette springend, "ein rechter Pharisäer."

Und dann ließ es ihm keine Ruhe, er mußte zu Anna. Je näher er ihrem
Hause kam, um so schwüler wurde ihm zumute. Er ging den Heckenweg, schlich
sich in den Garten und stand eine Weile ungesehen unter dem verhängnisvollen
Kammerfenster. Träumend starrte er auf die duftende Blüte der Beete und merkte
es nicht, daß oben Liselotte im grauen Reisekleid aus dem Fenster sah. Bald
darauf fuhr ein Wagen vom Hofe. Gottfried trat an die Hausecke und sah
Liselotte im Wagen sitzen. Sie war blaß, sah ihn ernst an und winkte zum
Gruße. Er wollte fragen, ob sie verreisen wollte und wohin, stand aber, starrte
sie verloren an und antwortete nicht einmal auf ihren Gruß. Es war ihm, als
wende sich etwas von ihm, das zu ihm gehöre. Dann aber fiel ihm ein, daß es
Liselotte war und nicht Anna. Er ging hinter das Küchenfenster und fand sie
allein in der Küche.

"Guten Morgen, mein Liebes I"

"Morgen."

Er ging ums Haus und kam in die Küche, legte den Arm um sie und zog sie
sanft an sich. Sie anzusehen, wagte er nicht. Sie duldete seine Liebkosung, ohne
sie zurückzugeben.

"Böse?" fragte er leise.

"Acht" und sie stieß ihn mit der Schulter.

"Verzeihst du mir?"

Wenn er so kommt! dachte sie.

"Ja -- aber--!"

"Nein -- nein -- gewiß nicht wieder --"

"Weshalb bist du gestern nicht gekommen?"

"Wir hatten Konferenz."

"Hast du den Katalog mitgebracht?"

"Heute nachmittag gewiß, dann suchen wir gemeinsam aus, nicht wahr?"

Sonderbari Er hatte sich diese Begegnung ganz anders gedacht!

Aber war es nicht vielleicht das Beste, einfach darüber wegzugleiten? Eine
Gewißheit hatte er ja nun, nämlich die, daß die scheinbar Kühle, Nüchterne Augen¬
blicke hatte, wo auch sie erglühte und taumeln zu machen wußte. Und verriet es
nicht die wahre Keuschheit der Seele, sich vor dem Alltag zu verschließen und nur
in den seltenen Augenblicken erhöhten Lebens sich restlos hinzugeben?

"Will Liselotte verreisen?" fragte er.

"Zu Tante Liselotte nach Hannover," entgegnete sie.

"Ist etwas zwischen euch vorgefallen?"

"Ach -- das dunime Ding. Mir Moralpredigten halten zu wollen. Hat es
selbst nötig, meine ich. Aber das geht so, wenn ihr alles zugut gehalten wird."

"Aber was ist denn -- ?"
"

"Ja, frag du auch noch!
'

"Ich wills gar nicht wissen. Gehen wir heute Nachmittag aus?"

"Das geht wohl nicht gut. Fritz und Auguste Brennecke wollen kommen."


Gottfried Haborforfs Irrtum

sich letzten Endes als das Ergebnis seiner persönlichen Handlungen, war eigentlich
nichts anderes als das Bestreben, eine Entschuldigung für die eigene Unzuläng¬
lichkeit zu finden.

„Also bin ich," meinte er, aus dem Bette springend, „ein rechter Pharisäer."

Und dann ließ es ihm keine Ruhe, er mußte zu Anna. Je näher er ihrem
Hause kam, um so schwüler wurde ihm zumute. Er ging den Heckenweg, schlich
sich in den Garten und stand eine Weile ungesehen unter dem verhängnisvollen
Kammerfenster. Träumend starrte er auf die duftende Blüte der Beete und merkte
es nicht, daß oben Liselotte im grauen Reisekleid aus dem Fenster sah. Bald
darauf fuhr ein Wagen vom Hofe. Gottfried trat an die Hausecke und sah
Liselotte im Wagen sitzen. Sie war blaß, sah ihn ernst an und winkte zum
Gruße. Er wollte fragen, ob sie verreisen wollte und wohin, stand aber, starrte
sie verloren an und antwortete nicht einmal auf ihren Gruß. Es war ihm, als
wende sich etwas von ihm, das zu ihm gehöre. Dann aber fiel ihm ein, daß es
Liselotte war und nicht Anna. Er ging hinter das Küchenfenster und fand sie
allein in der Küche.

„Guten Morgen, mein Liebes I"

„Morgen."

Er ging ums Haus und kam in die Küche, legte den Arm um sie und zog sie
sanft an sich. Sie anzusehen, wagte er nicht. Sie duldete seine Liebkosung, ohne
sie zurückzugeben.

„Böse?" fragte er leise.

„Acht" und sie stieß ihn mit der Schulter.

„Verzeihst du mir?"

Wenn er so kommt! dachte sie.

„Ja — aber--!"

„Nein — nein — gewiß nicht wieder —"

„Weshalb bist du gestern nicht gekommen?"

„Wir hatten Konferenz."

„Hast du den Katalog mitgebracht?"

„Heute nachmittag gewiß, dann suchen wir gemeinsam aus, nicht wahr?"

Sonderbari Er hatte sich diese Begegnung ganz anders gedacht!

Aber war es nicht vielleicht das Beste, einfach darüber wegzugleiten? Eine
Gewißheit hatte er ja nun, nämlich die, daß die scheinbar Kühle, Nüchterne Augen¬
blicke hatte, wo auch sie erglühte und taumeln zu machen wußte. Und verriet es
nicht die wahre Keuschheit der Seele, sich vor dem Alltag zu verschließen und nur
in den seltenen Augenblicken erhöhten Lebens sich restlos hinzugeben?

„Will Liselotte verreisen?" fragte er.

„Zu Tante Liselotte nach Hannover," entgegnete sie.

„Ist etwas zwischen euch vorgefallen?"

„Ach — das dunime Ding. Mir Moralpredigten halten zu wollen. Hat es
selbst nötig, meine ich. Aber das geht so, wenn ihr alles zugut gehalten wird."

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"

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„Ich wills gar nicht wissen. Gehen wir heute Nachmittag aus?"

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[0660] Gottfried Haborforfs Irrtum sich letzten Endes als das Ergebnis seiner persönlichen Handlungen, war eigentlich nichts anderes als das Bestreben, eine Entschuldigung für die eigene Unzuläng¬ lichkeit zu finden. „Also bin ich," meinte er, aus dem Bette springend, „ein rechter Pharisäer." Und dann ließ es ihm keine Ruhe, er mußte zu Anna. Je näher er ihrem Hause kam, um so schwüler wurde ihm zumute. Er ging den Heckenweg, schlich sich in den Garten und stand eine Weile ungesehen unter dem verhängnisvollen Kammerfenster. Träumend starrte er auf die duftende Blüte der Beete und merkte es nicht, daß oben Liselotte im grauen Reisekleid aus dem Fenster sah. Bald darauf fuhr ein Wagen vom Hofe. Gottfried trat an die Hausecke und sah Liselotte im Wagen sitzen. Sie war blaß, sah ihn ernst an und winkte zum Gruße. Er wollte fragen, ob sie verreisen wollte und wohin, stand aber, starrte sie verloren an und antwortete nicht einmal auf ihren Gruß. Es war ihm, als wende sich etwas von ihm, das zu ihm gehöre. Dann aber fiel ihm ein, daß es Liselotte war und nicht Anna. Er ging hinter das Küchenfenster und fand sie allein in der Küche. „Guten Morgen, mein Liebes I" „Morgen." Er ging ums Haus und kam in die Küche, legte den Arm um sie und zog sie sanft an sich. Sie anzusehen, wagte er nicht. Sie duldete seine Liebkosung, ohne sie zurückzugeben. „Böse?" fragte er leise. „Acht" und sie stieß ihn mit der Schulter. „Verzeihst du mir?" Wenn er so kommt! dachte sie. „Ja — aber--!" „Nein — nein — gewiß nicht wieder —" „Weshalb bist du gestern nicht gekommen?" „Wir hatten Konferenz." „Hast du den Katalog mitgebracht?" „Heute nachmittag gewiß, dann suchen wir gemeinsam aus, nicht wahr?" Sonderbari Er hatte sich diese Begegnung ganz anders gedacht! Aber war es nicht vielleicht das Beste, einfach darüber wegzugleiten? Eine Gewißheit hatte er ja nun, nämlich die, daß die scheinbar Kühle, Nüchterne Augen¬ blicke hatte, wo auch sie erglühte und taumeln zu machen wußte. Und verriet es nicht die wahre Keuschheit der Seele, sich vor dem Alltag zu verschließen und nur in den seltenen Augenblicken erhöhten Lebens sich restlos hinzugeben? „Will Liselotte verreisen?" fragte er. „Zu Tante Liselotte nach Hannover," entgegnete sie. „Ist etwas zwischen euch vorgefallen?" „Ach — das dunime Ding. Mir Moralpredigten halten zu wollen. Hat es selbst nötig, meine ich. Aber das geht so, wenn ihr alles zugut gehalten wird." „Aber was ist denn — ?" " „Ja, frag du auch noch! ' „Ich wills gar nicht wissen. Gehen wir heute Nachmittag aus?" „Das geht wohl nicht gut. Fritz und Auguste Brennecke wollen kommen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/660>, abgerufen am 03.07.2024.