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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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"Ich lasse also abstimmen."

Es ergab sich, daß das Liederbuch mit starker Stimmenmehrheit durchging. --

"Kommen Sie doch mal zu mir, Kollege," sagte der Emeritus Hegener nach
der Sitzung zu Gottfried. "Meine Alte und ich sind meist allein und freuen uns,
wenn wir mal was Frisches zu sehen kriegen."

Er drückte Gottfried die Hand und ging nach Hause. Gottfried saß noch ein
Weilchen mit einigen jüngeren Kollegen in der Laube. Er wurde ein bißchen
gehänselt, weil er sonst sehr still war und just bei diesem Thema aus dem Leim ging.

"Das macht die LiebeI" meinte einer.

"Stille Wasser I" ein anderer.

"Latz das bloß den Superus nicht merken I" ein dritter.

Gottfried lachte, trank sein Bier und ging auch bald. Wie er eben aus dem
Wirtsgarten auf die Straße kam, trat ein Kollege zu ihm, der eine Stunde gemein¬
samen Weg mit ihm hatte. Er galt als finster, verschlossen und grob.

"Wollen Sie mich mitnehmen?" fragte er.

"Bitte."

Schweigend gingen sie nebeneinander. Es laute auf den Wiesen, und in
den Bachgründen gingen die Nebel.

"Sie -- weshalb sind Sie nicht derber drein gefahren vorhin -- man kann
nicht derb genug werden. Verheuchelte Gesellschaft."

"Sie sehen zu schwarz, Berkfeld. Übrigens war es nicht meine Absicht,
irgendwo drein zu fahren. Es kam so über mich, daß ich mal meine Meinung
äußern mußte. Mir liegt das gar nicht."

"Schade."

Sie sprachen allerlei und fanden sich nach einigem Hin und Her ganz gut
zusammen. Berkfeld war musikalisch und sprach warm von einigen modernen
Meistern. Als die Straße auf einer kurzen Wegstrecke zwischen Berg und Strom
ging und das Rauschen des Wassers schön heraufkam, sagte Berkfeld plötzlich:
"Schwimmen Sie?"

"Ja."

"So kommen Sie her."

Er sprang die Rasenböschung hinab an den Fluß, entkleidete sich und ging
ins Wasser. Und Gottfried Haberkorf, der sich sonst immer geschämt hatte, sich
vor anderen nackend zu zeigen, machte es stillschweigend ebenso. Danach gingen
sie rasch und erfrischt nach Hause und versprachen, sich bald einmal wiederzusehen.




Als Got<fried am anderen Morgen erwachte und durch sein offenes Kammer¬
fenster in die weiße Schönheit des summenden Birnbaumes sah, war's ihm, als
stände die helle Freudigkeit des Lebens vor seinem Fenster und winkte ihm zu.
Dann fiel ihm der gestrige Nachmittag ein mit der Konferenz, dem Moralintermezzo
und dem späten Strombad. Er überdackite seine Worte und wunderte sich, daß
er solch gespreizte Sachen dahergeredet hatte. Eine Scham überkam ihn jetzt,
daß die anderen so in ihn schauen durften. Überhaupt -- wie kam gerade er
dazu, so zu sprechen? Er hatte doch wahrhaftig Grund zu schweigen. Seine
Moralauffassung, wie sie gestern so eruptiv an den Tag gekommen war, erwies


„Ich lasse also abstimmen."

Es ergab sich, daß das Liederbuch mit starker Stimmenmehrheit durchging. —

„Kommen Sie doch mal zu mir, Kollege," sagte der Emeritus Hegener nach
der Sitzung zu Gottfried. „Meine Alte und ich sind meist allein und freuen uns,
wenn wir mal was Frisches zu sehen kriegen."

Er drückte Gottfried die Hand und ging nach Hause. Gottfried saß noch ein
Weilchen mit einigen jüngeren Kollegen in der Laube. Er wurde ein bißchen
gehänselt, weil er sonst sehr still war und just bei diesem Thema aus dem Leim ging.

„Das macht die LiebeI" meinte einer.

„Stille Wasser I" ein anderer.

„Latz das bloß den Superus nicht merken I" ein dritter.

Gottfried lachte, trank sein Bier und ging auch bald. Wie er eben aus dem
Wirtsgarten auf die Straße kam, trat ein Kollege zu ihm, der eine Stunde gemein¬
samen Weg mit ihm hatte. Er galt als finster, verschlossen und grob.

„Wollen Sie mich mitnehmen?" fragte er.

„Bitte."

Schweigend gingen sie nebeneinander. Es laute auf den Wiesen, und in
den Bachgründen gingen die Nebel.

„Sie — weshalb sind Sie nicht derber drein gefahren vorhin — man kann
nicht derb genug werden. Verheuchelte Gesellschaft."

„Sie sehen zu schwarz, Berkfeld. Übrigens war es nicht meine Absicht,
irgendwo drein zu fahren. Es kam so über mich, daß ich mal meine Meinung
äußern mußte. Mir liegt das gar nicht."

„Schade."

Sie sprachen allerlei und fanden sich nach einigem Hin und Her ganz gut
zusammen. Berkfeld war musikalisch und sprach warm von einigen modernen
Meistern. Als die Straße auf einer kurzen Wegstrecke zwischen Berg und Strom
ging und das Rauschen des Wassers schön heraufkam, sagte Berkfeld plötzlich:
„Schwimmen Sie?"

„Ja."

„So kommen Sie her."

Er sprang die Rasenböschung hinab an den Fluß, entkleidete sich und ging
ins Wasser. Und Gottfried Haberkorf, der sich sonst immer geschämt hatte, sich
vor anderen nackend zu zeigen, machte es stillschweigend ebenso. Danach gingen
sie rasch und erfrischt nach Hause und versprachen, sich bald einmal wiederzusehen.




Als Got<fried am anderen Morgen erwachte und durch sein offenes Kammer¬
fenster in die weiße Schönheit des summenden Birnbaumes sah, war's ihm, als
stände die helle Freudigkeit des Lebens vor seinem Fenster und winkte ihm zu.
Dann fiel ihm der gestrige Nachmittag ein mit der Konferenz, dem Moralintermezzo
und dem späten Strombad. Er überdackite seine Worte und wunderte sich, daß
er solch gespreizte Sachen dahergeredet hatte. Eine Scham überkam ihn jetzt,
daß die anderen so in ihn schauen durften. Überhaupt — wie kam gerade er
dazu, so zu sprechen? Er hatte doch wahrhaftig Grund zu schweigen. Seine
Moralauffassung, wie sie gestern so eruptiv an den Tag gekommen war, erwies


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[0659] „Ich lasse also abstimmen." Es ergab sich, daß das Liederbuch mit starker Stimmenmehrheit durchging. — „Kommen Sie doch mal zu mir, Kollege," sagte der Emeritus Hegener nach der Sitzung zu Gottfried. „Meine Alte und ich sind meist allein und freuen uns, wenn wir mal was Frisches zu sehen kriegen." Er drückte Gottfried die Hand und ging nach Hause. Gottfried saß noch ein Weilchen mit einigen jüngeren Kollegen in der Laube. Er wurde ein bißchen gehänselt, weil er sonst sehr still war und just bei diesem Thema aus dem Leim ging. „Das macht die LiebeI" meinte einer. „Stille Wasser I" ein anderer. „Latz das bloß den Superus nicht merken I" ein dritter. Gottfried lachte, trank sein Bier und ging auch bald. Wie er eben aus dem Wirtsgarten auf die Straße kam, trat ein Kollege zu ihm, der eine Stunde gemein¬ samen Weg mit ihm hatte. Er galt als finster, verschlossen und grob. „Wollen Sie mich mitnehmen?" fragte er. „Bitte." Schweigend gingen sie nebeneinander. Es laute auf den Wiesen, und in den Bachgründen gingen die Nebel. „Sie — weshalb sind Sie nicht derber drein gefahren vorhin — man kann nicht derb genug werden. Verheuchelte Gesellschaft." „Sie sehen zu schwarz, Berkfeld. Übrigens war es nicht meine Absicht, irgendwo drein zu fahren. Es kam so über mich, daß ich mal meine Meinung äußern mußte. Mir liegt das gar nicht." „Schade." Sie sprachen allerlei und fanden sich nach einigem Hin und Her ganz gut zusammen. Berkfeld war musikalisch und sprach warm von einigen modernen Meistern. Als die Straße auf einer kurzen Wegstrecke zwischen Berg und Strom ging und das Rauschen des Wassers schön heraufkam, sagte Berkfeld plötzlich: „Schwimmen Sie?" „Ja." „So kommen Sie her." Er sprang die Rasenböschung hinab an den Fluß, entkleidete sich und ging ins Wasser. Und Gottfried Haberkorf, der sich sonst immer geschämt hatte, sich vor anderen nackend zu zeigen, machte es stillschweigend ebenso. Danach gingen sie rasch und erfrischt nach Hause und versprachen, sich bald einmal wiederzusehen. Als Got<fried am anderen Morgen erwachte und durch sein offenes Kammer¬ fenster in die weiße Schönheit des summenden Birnbaumes sah, war's ihm, als stände die helle Freudigkeit des Lebens vor seinem Fenster und winkte ihm zu. Dann fiel ihm der gestrige Nachmittag ein mit der Konferenz, dem Moralintermezzo und dem späten Strombad. Er überdackite seine Worte und wunderte sich, daß er solch gespreizte Sachen dahergeredet hatte. Eine Scham überkam ihn jetzt, daß die anderen so in ihn schauen durften. Überhaupt — wie kam gerade er dazu, so zu sprechen? Er hatte doch wahrhaftig Grund zu schweigen. Seine Moralauffassung, wie sie gestern so eruptiv an den Tag gekommen war, erwies

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/659>, abgerufen am 03.07.2024.