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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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dem Realgymnasium nicht darüber hinauszugehen, wenn man auch den besonders
für das Fach Interessierten Gelegenheit gibt, sich über das Schulmaß hinaus
zu betätigen. Das kann aber das Gymnasium auch und tut es bereits da,
wo in den Oberklassen eine Gabelung vorgenommen wird. Es würde also gar
keinem Bedenken unterliegen, die fünfte Stunde Mathematik in den Oberklassen
zu streichen und vielleicht auch die dritte Stunde Physik. Wenn dann die
angeblich fakultativen Übungsstunden grundsätzlich auf zwei beschränkt würden,
so wäre in der Tat eine Entlastung erzielt, die sich hören läßt.

In anderer Richtung aber darf sie nicht gesucht werden, weder in Be¬
schränkung der Sprachen noch in der Geschichte oder Religion, so lange die
letztere obligatorisches Lehrfach ist. Das Realgymnasium hat in den Ober¬
klassen vier Stunden Latein, vier Stunden Französisch, drei Stunden Englisch.
Es liegt auf der Hand, daß von einer Gründlichkeit sprachlicher Studien, wie
sie auf dem Gymnasium auch noch bei den (schon reduzierten) dreizehn alt¬
sprachlichen Stunden erreicht werden kann, hier nicht die Rede ist, weder im
Lateinischen noch in den neueren Sprachen. Diese Stundenverteilung trägt den
Charakter der Halbheit an der Stirn. Will man nun aber etwa noch eine
Stunde bei jeder Sprache abstreichen, so würde das bittere Gefühl der Danaiden¬
arbeit, das jetzt schon besteht, vollends unerträglich werden. Lust und Liebe
würden Lehrern und Schülern vollends verloren gehen, und Oberflächlichkeit würde
der Charakter dieser sprachlichen "realgymnasialen" Vorbildung sein -- es müßten
denn die Anforderungen der Reifeprüfung auf dasjenige Maß herabgesetzt werden,
das zuni "Einjährigen" erforderlich ist. Dann kann aber von der Befähigung
zu wissenschaftlicher Arbeit keine Rede mehr sein.

In den Gymnasien ist die Überbürdungsfrage, wie oben gezeigt, gegen¬
standslos, so lange nicht erhöhte Ansprüche in den Naturwissenschaften gemacht
werden, über die freilich zu reden wäre. Dann kann aber auch von einer
Beschränkung in den alten Sprachen oder einer Beseitigung des Griechischen
keine Rede sein, wenn man dem Gymnasium nicht gerade seine Stärke, die um
einen Hauptgegenstand konzentrierte Arbeit, die geschlossene Einheitlichkeit der
Vorbildung, nehmen will. Schließlich, wer von Überbürdung mit Unterrichts¬
stunden spricht, der hat zu zeigen, wie die einmal gesteckten Ziele mit einer
geringeren Stundenzahl zu erreichen sind, oder wie die Zielforderungen einzu¬
schränken sind, ohne die zweckmäßige Vorbildung zu akademischen Studien zu
gefährden. Daß dies unter Umständen bei Realgymnasien und Oberrealschulen
möglich ist, ist oben gezeigt worden.

Alle diese Erwägungen aber rücken aufs neue die Frage nahe, ob nicht
eine Vereinfachung der Schularten überhaupt, insbesondere die Beschränkung
auf zwei Arten, eine mehr realistischen und eine mehr humanistischen Charakters,
mit im ganzen gleicher Belastung zu erzielen wäre.

Bei der Reform von 1891 faßte man den Gedanken, die Realgymnasien
mit ihrem halben Latein eingehen zu lassen, um nnr zwei Schularten zu haben,


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dem Realgymnasium nicht darüber hinauszugehen, wenn man auch den besonders
für das Fach Interessierten Gelegenheit gibt, sich über das Schulmaß hinaus
zu betätigen. Das kann aber das Gymnasium auch und tut es bereits da,
wo in den Oberklassen eine Gabelung vorgenommen wird. Es würde also gar
keinem Bedenken unterliegen, die fünfte Stunde Mathematik in den Oberklassen
zu streichen und vielleicht auch die dritte Stunde Physik. Wenn dann die
angeblich fakultativen Übungsstunden grundsätzlich auf zwei beschränkt würden,
so wäre in der Tat eine Entlastung erzielt, die sich hören läßt.

In anderer Richtung aber darf sie nicht gesucht werden, weder in Be¬
schränkung der Sprachen noch in der Geschichte oder Religion, so lange die
letztere obligatorisches Lehrfach ist. Das Realgymnasium hat in den Ober¬
klassen vier Stunden Latein, vier Stunden Französisch, drei Stunden Englisch.
Es liegt auf der Hand, daß von einer Gründlichkeit sprachlicher Studien, wie
sie auf dem Gymnasium auch noch bei den (schon reduzierten) dreizehn alt¬
sprachlichen Stunden erreicht werden kann, hier nicht die Rede ist, weder im
Lateinischen noch in den neueren Sprachen. Diese Stundenverteilung trägt den
Charakter der Halbheit an der Stirn. Will man nun aber etwa noch eine
Stunde bei jeder Sprache abstreichen, so würde das bittere Gefühl der Danaiden¬
arbeit, das jetzt schon besteht, vollends unerträglich werden. Lust und Liebe
würden Lehrern und Schülern vollends verloren gehen, und Oberflächlichkeit würde
der Charakter dieser sprachlichen „realgymnasialen" Vorbildung sein — es müßten
denn die Anforderungen der Reifeprüfung auf dasjenige Maß herabgesetzt werden,
das zuni „Einjährigen" erforderlich ist. Dann kann aber von der Befähigung
zu wissenschaftlicher Arbeit keine Rede mehr sein.

In den Gymnasien ist die Überbürdungsfrage, wie oben gezeigt, gegen¬
standslos, so lange nicht erhöhte Ansprüche in den Naturwissenschaften gemacht
werden, über die freilich zu reden wäre. Dann kann aber auch von einer
Beschränkung in den alten Sprachen oder einer Beseitigung des Griechischen
keine Rede sein, wenn man dem Gymnasium nicht gerade seine Stärke, die um
einen Hauptgegenstand konzentrierte Arbeit, die geschlossene Einheitlichkeit der
Vorbildung, nehmen will. Schließlich, wer von Überbürdung mit Unterrichts¬
stunden spricht, der hat zu zeigen, wie die einmal gesteckten Ziele mit einer
geringeren Stundenzahl zu erreichen sind, oder wie die Zielforderungen einzu¬
schränken sind, ohne die zweckmäßige Vorbildung zu akademischen Studien zu
gefährden. Daß dies unter Umständen bei Realgymnasien und Oberrealschulen
möglich ist, ist oben gezeigt worden.

Alle diese Erwägungen aber rücken aufs neue die Frage nahe, ob nicht
eine Vereinfachung der Schularten überhaupt, insbesondere die Beschränkung
auf zwei Arten, eine mehr realistischen und eine mehr humanistischen Charakters,
mit im ganzen gleicher Belastung zu erzielen wäre.

Bei der Reform von 1891 faßte man den Gedanken, die Realgymnasien
mit ihrem halben Latein eingehen zu lassen, um nnr zwei Schularten zu haben,


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[0644] Alte Klagen, neue Frage» dem Realgymnasium nicht darüber hinauszugehen, wenn man auch den besonders für das Fach Interessierten Gelegenheit gibt, sich über das Schulmaß hinaus zu betätigen. Das kann aber das Gymnasium auch und tut es bereits da, wo in den Oberklassen eine Gabelung vorgenommen wird. Es würde also gar keinem Bedenken unterliegen, die fünfte Stunde Mathematik in den Oberklassen zu streichen und vielleicht auch die dritte Stunde Physik. Wenn dann die angeblich fakultativen Übungsstunden grundsätzlich auf zwei beschränkt würden, so wäre in der Tat eine Entlastung erzielt, die sich hören läßt. In anderer Richtung aber darf sie nicht gesucht werden, weder in Be¬ schränkung der Sprachen noch in der Geschichte oder Religion, so lange die letztere obligatorisches Lehrfach ist. Das Realgymnasium hat in den Ober¬ klassen vier Stunden Latein, vier Stunden Französisch, drei Stunden Englisch. Es liegt auf der Hand, daß von einer Gründlichkeit sprachlicher Studien, wie sie auf dem Gymnasium auch noch bei den (schon reduzierten) dreizehn alt¬ sprachlichen Stunden erreicht werden kann, hier nicht die Rede ist, weder im Lateinischen noch in den neueren Sprachen. Diese Stundenverteilung trägt den Charakter der Halbheit an der Stirn. Will man nun aber etwa noch eine Stunde bei jeder Sprache abstreichen, so würde das bittere Gefühl der Danaiden¬ arbeit, das jetzt schon besteht, vollends unerträglich werden. Lust und Liebe würden Lehrern und Schülern vollends verloren gehen, und Oberflächlichkeit würde der Charakter dieser sprachlichen „realgymnasialen" Vorbildung sein — es müßten denn die Anforderungen der Reifeprüfung auf dasjenige Maß herabgesetzt werden, das zuni „Einjährigen" erforderlich ist. Dann kann aber von der Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit keine Rede mehr sein. In den Gymnasien ist die Überbürdungsfrage, wie oben gezeigt, gegen¬ standslos, so lange nicht erhöhte Ansprüche in den Naturwissenschaften gemacht werden, über die freilich zu reden wäre. Dann kann aber auch von einer Beschränkung in den alten Sprachen oder einer Beseitigung des Griechischen keine Rede sein, wenn man dem Gymnasium nicht gerade seine Stärke, die um einen Hauptgegenstand konzentrierte Arbeit, die geschlossene Einheitlichkeit der Vorbildung, nehmen will. Schließlich, wer von Überbürdung mit Unterrichts¬ stunden spricht, der hat zu zeigen, wie die einmal gesteckten Ziele mit einer geringeren Stundenzahl zu erreichen sind, oder wie die Zielforderungen einzu¬ schränken sind, ohne die zweckmäßige Vorbildung zu akademischen Studien zu gefährden. Daß dies unter Umständen bei Realgymnasien und Oberrealschulen möglich ist, ist oben gezeigt worden. Alle diese Erwägungen aber rücken aufs neue die Frage nahe, ob nicht eine Vereinfachung der Schularten überhaupt, insbesondere die Beschränkung auf zwei Arten, eine mehr realistischen und eine mehr humanistischen Charakters, mit im ganzen gleicher Belastung zu erzielen wäre. Bei der Reform von 1891 faßte man den Gedanken, die Realgymnasien mit ihrem halben Latein eingehen zu lassen, um nnr zwei Schularten zu haben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/644>, abgerufen am 23.07.2024.