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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Alte Rlagen, neue Fragen

Griechischen durch das Englische abzielte, niedergeschrieben; sie sind aber unter
den gezeichneten Umständen vielleicht auch jetzt noch nicht überflüssig.

Zunächst ein Wort über die Überbürdung mit Unterrichtsstunden. Im großen
Publikum ist vielleicht die Meinung verbreitet, daß jetzt mehr Unterrichtsstunden
gegeben werden als früher. Dem ist aber nicht so. Die Zahl der wissenschaft¬
lichen Lehrstunden ist immer die gleiche gewesen, nämlich dreißig bis zweiund¬
dreißig wöchentlich; früher kamen dazu zwei Turnstunden und zwei Gesangstunden,
jetzt allerdings drei Turnstunden. Wollte man zur Entlastung die dritte Turn¬
stunde streichen, so würde wahrscheinlich niemand etwas dagegen haben, aber die
Meinung ist, daß am wissenschaftlichen Unterricht gestrichen werden soll, ins¬
besondere bei den Gymnasien an den klassischen Sprachen. Wir müssen uns
daraufhin die drei Schularten in ihrem Verhältnis zu einander einmal ansehen.

Zuvor aber noch eine ketzerische allgemeine Bemerkung. Der Eindruck der
Überbürdung wird, wie es scheint, durch die Häufung von fünf, sechs, zum Teil
sogar sieben Lektionen auf den Vormittag hervorgerufen. Das ist in gewissem
Sinne berechtigt: denn daß die letzten Lektionen die Schüler in bedenklichem Er¬
müdungszustande finden, ist nicht verwunderlich. Ich bin der ketzerischen Ansicht,
daß die frühere Verteilung auf vier Vormittags- und zwei Nachmittagsstunden an
vier Tagen und vier Vormittagsstunden Mittwochs und Sonnabends der
körperlichen und geistigen Gesundheit zuträglicher war als diese Überlastung des
Vormittags zugunsten des freien Nachmittags und würde wahrscheinlich als
Direktor in einer kleineren Provinzialstadt zu der früheren Ordnung zurückkehren,
auch die Turnstunden wieder auf freie Nachmittage legen, damit sie wieder Er¬
holungsstunden werden und nicht, wie jetzt, Ermüdungsstunden, wenn sie, wie
oft, in die ersten Stunden des Unterrichts fallen und die Frische der Schüler
für den wissenschaftlichen Unterricht beeinträchtigen, oder in die letzten, wenn die
Schüler durch den vorangegangenen vier- und fünfstündigen Unterricht schlapp
geworden sind^ Freilich, die Großstädte, voran Berlin mit seinen monströsen
Gebilden von Schulen und den oft unsinnig weiten Schulwegen, lassen keine
Wahl. Ein viermaliger doppelter Schulweg in der Woche bei nicht selten drei¬
viertel- und ganzstündigen Entfernungen unter Benutzung der nervenfressenden
elektrischen Bahn ist unmöglich. Allerdings liegen die Verhältnisse auch hier nicht
ganz so schlimm, wie es aussieht. Der Besuch weit entfernter Schulen ist bei
der Fülle der vorhandenen, besonders in den Vororten, sehr oft gar nicht not¬
wendig, und die Gelegenheit, die Knaben in Provinzialstädte zu geben -- wozu
die neuerdings so begünstigten und von der Behörde empfohlenen Familien¬
alumnate besonders einladen -- wird auch von bemittelten Familien viel zu
wenig ins Auge gefaßt. Von der Überfüllung der höheren Schulen durch ungeeignete
Elemente unter dem Zwange des unglückseligen Bercchtigungswesens und der
dadurch bedingten Erschwerung der Unterrichtsarbeit und übermäßigen Belastung
zu schwacher Anlagen wollen wir hier gar nicht reden. Immerhin besteht für
die Großstädte eine Zwangslage, aber das ist eben einer in der langen Reihe


Alte Rlagen, neue Fragen

Griechischen durch das Englische abzielte, niedergeschrieben; sie sind aber unter
den gezeichneten Umständen vielleicht auch jetzt noch nicht überflüssig.

Zunächst ein Wort über die Überbürdung mit Unterrichtsstunden. Im großen
Publikum ist vielleicht die Meinung verbreitet, daß jetzt mehr Unterrichtsstunden
gegeben werden als früher. Dem ist aber nicht so. Die Zahl der wissenschaft¬
lichen Lehrstunden ist immer die gleiche gewesen, nämlich dreißig bis zweiund¬
dreißig wöchentlich; früher kamen dazu zwei Turnstunden und zwei Gesangstunden,
jetzt allerdings drei Turnstunden. Wollte man zur Entlastung die dritte Turn¬
stunde streichen, so würde wahrscheinlich niemand etwas dagegen haben, aber die
Meinung ist, daß am wissenschaftlichen Unterricht gestrichen werden soll, ins¬
besondere bei den Gymnasien an den klassischen Sprachen. Wir müssen uns
daraufhin die drei Schularten in ihrem Verhältnis zu einander einmal ansehen.

Zuvor aber noch eine ketzerische allgemeine Bemerkung. Der Eindruck der
Überbürdung wird, wie es scheint, durch die Häufung von fünf, sechs, zum Teil
sogar sieben Lektionen auf den Vormittag hervorgerufen. Das ist in gewissem
Sinne berechtigt: denn daß die letzten Lektionen die Schüler in bedenklichem Er¬
müdungszustande finden, ist nicht verwunderlich. Ich bin der ketzerischen Ansicht,
daß die frühere Verteilung auf vier Vormittags- und zwei Nachmittagsstunden an
vier Tagen und vier Vormittagsstunden Mittwochs und Sonnabends der
körperlichen und geistigen Gesundheit zuträglicher war als diese Überlastung des
Vormittags zugunsten des freien Nachmittags und würde wahrscheinlich als
Direktor in einer kleineren Provinzialstadt zu der früheren Ordnung zurückkehren,
auch die Turnstunden wieder auf freie Nachmittage legen, damit sie wieder Er¬
holungsstunden werden und nicht, wie jetzt, Ermüdungsstunden, wenn sie, wie
oft, in die ersten Stunden des Unterrichts fallen und die Frische der Schüler
für den wissenschaftlichen Unterricht beeinträchtigen, oder in die letzten, wenn die
Schüler durch den vorangegangenen vier- und fünfstündigen Unterricht schlapp
geworden sind^ Freilich, die Großstädte, voran Berlin mit seinen monströsen
Gebilden von Schulen und den oft unsinnig weiten Schulwegen, lassen keine
Wahl. Ein viermaliger doppelter Schulweg in der Woche bei nicht selten drei¬
viertel- und ganzstündigen Entfernungen unter Benutzung der nervenfressenden
elektrischen Bahn ist unmöglich. Allerdings liegen die Verhältnisse auch hier nicht
ganz so schlimm, wie es aussieht. Der Besuch weit entfernter Schulen ist bei
der Fülle der vorhandenen, besonders in den Vororten, sehr oft gar nicht not¬
wendig, und die Gelegenheit, die Knaben in Provinzialstädte zu geben — wozu
die neuerdings so begünstigten und von der Behörde empfohlenen Familien¬
alumnate besonders einladen — wird auch von bemittelten Familien viel zu
wenig ins Auge gefaßt. Von der Überfüllung der höheren Schulen durch ungeeignete
Elemente unter dem Zwange des unglückseligen Bercchtigungswesens und der
dadurch bedingten Erschwerung der Unterrichtsarbeit und übermäßigen Belastung
zu schwacher Anlagen wollen wir hier gar nicht reden. Immerhin besteht für
die Großstädte eine Zwangslage, aber das ist eben einer in der langen Reihe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/642>, abgerufen am 26.08.2024.