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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Ans dem Königreich Hellas

die Bulgaren auszuspielen versucht hat. Später trat sie dagegen mit rücksichts¬
loser Härte dem Hellenentum in Mazedonien und anderen Interessensphären
gegenüber.

Schmerzlich empfand die hellenische Nation, daß ihr das einzige Mittel,
sich politisch Gehör zu verschaffen, nämlich eine schlagfertige Armee, gänzlich
abging. Für die Mißerfolge des Krieges war die ganze Nation, vor allem
das Offizierkorps des Heeres, verantwortlich zu machen. Als Sündenbock wurde
aber die Dynastie bezeichnet. Die schon von den Philosophen der Altvordern
verlangte Selbsterkenntnis fehlte im Volke vollkommen. "Sie sollen alle verjagt
werden, nur die Kronprinzessin Sophia soll bleiben und sür ihren ältesten Sohn
Georg die Regentschaft übernehmen." Derartige Äußerungen waren alle Tage
zu hören. Ein auf den König Georgios auf der Straße nach Phaleron, in
der Nähe von Athen, ausgeführtes Attentat verbesserte indessen die Stimmung
so zu gunsten der Dynastie, daß man schon glaubte, es wäre bestellte Arbeit
gewesen. Reformen in der Armee, deren dringende Notwendigkeit der Krieg auch
für die Blödester erwiesen hatte, wurden wiederholt, aber vergebens, versucht.

Die Rolle, die das osmanische Offizierkorps bei der Absetzung des Sultans
Abdul Hamid (14. April 1909) gespielt hatte, machte auf das hellenische einen
gewaltigen Eindruck. Politisch hoffte man auf bessere Beziehungen zu dem
Nachbarstaate. Als die Kreter im Oktober 1908 ihre Vereinigung mit dem
Königreiche Hellas erklärt hatten, diese Bewegung aber einen gewaltigen Wider¬
stand des neuerwachten osmanischen Nationalgefühls hervorgerufen hatte, kam
in Athen die Ernüchterung und gleichzeitig die Erkenntnis, bei der Teilung des
türkischen Erbes wieder einmal zu spät gekommen zu sein. Diese verschiedenen
Gründe führten zu Gärungen in allen Kreisen des Königreichs. Das Ergebnis
war im Winter 1908/09 die Bildung der Offiziersliga. Das an sich schon
vielgestaltete hellenische Parteiwesen zeigte auch bei dieser Gelegenheit eine keines¬
wegs einheitliche Entwicklung. Die eine Partei der Unzufriedenen war aus¬
gesprochen dynastiefreundlich. Sie setzte sich zusammen aus den besten bürger¬
lichen Kreisen und aus höheren Offizieren; ihr Endziel war die Besserung aller
durch den letzten Krieg ans Licht getretenen ungünstigen Verhältnisse im Staats¬
wesen und in der Armee sowie die Ausrottung des Partei- und Günstlings¬
wesens. Die andere Partei war dagegen revolutionär mit nicht aufrichtig ein¬
gestandener antidynastischer Spitze. Ihr gehörten noch mehrere Offiziere an, die
mit dem Kronprinzen Konstantin dienstlich in Kollision geraten waren, wie
z. B. der Oberst Zorbas. Sie begriff die jüngeren Elemente vom Hauptmann
abwärts, hatte auch großen Zuzug aus Marinekreisen.

Der hellenische Augiasstall sollte auf allen Gebieten, nicht nur in der Armee
sondern auch im Justiz- und Schulwesen, von jeglichem Nepotismus gereinigt
werden. Die Prinzen mit ihrer Klique sollten in erster Linie aus der Armee
verschwinden. Anerkannt tüchtige Offiziere, wie etwa Smolenski, Dimopulos,
Limbritis, die nicht mit der Offiziersliga sympathisierten, sollten gleichwohl in


Ans dem Königreich Hellas

die Bulgaren auszuspielen versucht hat. Später trat sie dagegen mit rücksichts¬
loser Härte dem Hellenentum in Mazedonien und anderen Interessensphären
gegenüber.

Schmerzlich empfand die hellenische Nation, daß ihr das einzige Mittel,
sich politisch Gehör zu verschaffen, nämlich eine schlagfertige Armee, gänzlich
abging. Für die Mißerfolge des Krieges war die ganze Nation, vor allem
das Offizierkorps des Heeres, verantwortlich zu machen. Als Sündenbock wurde
aber die Dynastie bezeichnet. Die schon von den Philosophen der Altvordern
verlangte Selbsterkenntnis fehlte im Volke vollkommen. „Sie sollen alle verjagt
werden, nur die Kronprinzessin Sophia soll bleiben und sür ihren ältesten Sohn
Georg die Regentschaft übernehmen." Derartige Äußerungen waren alle Tage
zu hören. Ein auf den König Georgios auf der Straße nach Phaleron, in
der Nähe von Athen, ausgeführtes Attentat verbesserte indessen die Stimmung
so zu gunsten der Dynastie, daß man schon glaubte, es wäre bestellte Arbeit
gewesen. Reformen in der Armee, deren dringende Notwendigkeit der Krieg auch
für die Blödester erwiesen hatte, wurden wiederholt, aber vergebens, versucht.

Die Rolle, die das osmanische Offizierkorps bei der Absetzung des Sultans
Abdul Hamid (14. April 1909) gespielt hatte, machte auf das hellenische einen
gewaltigen Eindruck. Politisch hoffte man auf bessere Beziehungen zu dem
Nachbarstaate. Als die Kreter im Oktober 1908 ihre Vereinigung mit dem
Königreiche Hellas erklärt hatten, diese Bewegung aber einen gewaltigen Wider¬
stand des neuerwachten osmanischen Nationalgefühls hervorgerufen hatte, kam
in Athen die Ernüchterung und gleichzeitig die Erkenntnis, bei der Teilung des
türkischen Erbes wieder einmal zu spät gekommen zu sein. Diese verschiedenen
Gründe führten zu Gärungen in allen Kreisen des Königreichs. Das Ergebnis
war im Winter 1908/09 die Bildung der Offiziersliga. Das an sich schon
vielgestaltete hellenische Parteiwesen zeigte auch bei dieser Gelegenheit eine keines¬
wegs einheitliche Entwicklung. Die eine Partei der Unzufriedenen war aus¬
gesprochen dynastiefreundlich. Sie setzte sich zusammen aus den besten bürger¬
lichen Kreisen und aus höheren Offizieren; ihr Endziel war die Besserung aller
durch den letzten Krieg ans Licht getretenen ungünstigen Verhältnisse im Staats¬
wesen und in der Armee sowie die Ausrottung des Partei- und Günstlings¬
wesens. Die andere Partei war dagegen revolutionär mit nicht aufrichtig ein¬
gestandener antidynastischer Spitze. Ihr gehörten noch mehrere Offiziere an, die
mit dem Kronprinzen Konstantin dienstlich in Kollision geraten waren, wie
z. B. der Oberst Zorbas. Sie begriff die jüngeren Elemente vom Hauptmann
abwärts, hatte auch großen Zuzug aus Marinekreisen.

Der hellenische Augiasstall sollte auf allen Gebieten, nicht nur in der Armee
sondern auch im Justiz- und Schulwesen, von jeglichem Nepotismus gereinigt
werden. Die Prinzen mit ihrer Klique sollten in erster Linie aus der Armee
verschwinden. Anerkannt tüchtige Offiziere, wie etwa Smolenski, Dimopulos,
Limbritis, die nicht mit der Offiziersliga sympathisierten, sollten gleichwohl in


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[0063] Ans dem Königreich Hellas die Bulgaren auszuspielen versucht hat. Später trat sie dagegen mit rücksichts¬ loser Härte dem Hellenentum in Mazedonien und anderen Interessensphären gegenüber. Schmerzlich empfand die hellenische Nation, daß ihr das einzige Mittel, sich politisch Gehör zu verschaffen, nämlich eine schlagfertige Armee, gänzlich abging. Für die Mißerfolge des Krieges war die ganze Nation, vor allem das Offizierkorps des Heeres, verantwortlich zu machen. Als Sündenbock wurde aber die Dynastie bezeichnet. Die schon von den Philosophen der Altvordern verlangte Selbsterkenntnis fehlte im Volke vollkommen. „Sie sollen alle verjagt werden, nur die Kronprinzessin Sophia soll bleiben und sür ihren ältesten Sohn Georg die Regentschaft übernehmen." Derartige Äußerungen waren alle Tage zu hören. Ein auf den König Georgios auf der Straße nach Phaleron, in der Nähe von Athen, ausgeführtes Attentat verbesserte indessen die Stimmung so zu gunsten der Dynastie, daß man schon glaubte, es wäre bestellte Arbeit gewesen. Reformen in der Armee, deren dringende Notwendigkeit der Krieg auch für die Blödester erwiesen hatte, wurden wiederholt, aber vergebens, versucht. Die Rolle, die das osmanische Offizierkorps bei der Absetzung des Sultans Abdul Hamid (14. April 1909) gespielt hatte, machte auf das hellenische einen gewaltigen Eindruck. Politisch hoffte man auf bessere Beziehungen zu dem Nachbarstaate. Als die Kreter im Oktober 1908 ihre Vereinigung mit dem Königreiche Hellas erklärt hatten, diese Bewegung aber einen gewaltigen Wider¬ stand des neuerwachten osmanischen Nationalgefühls hervorgerufen hatte, kam in Athen die Ernüchterung und gleichzeitig die Erkenntnis, bei der Teilung des türkischen Erbes wieder einmal zu spät gekommen zu sein. Diese verschiedenen Gründe führten zu Gärungen in allen Kreisen des Königreichs. Das Ergebnis war im Winter 1908/09 die Bildung der Offiziersliga. Das an sich schon vielgestaltete hellenische Parteiwesen zeigte auch bei dieser Gelegenheit eine keines¬ wegs einheitliche Entwicklung. Die eine Partei der Unzufriedenen war aus¬ gesprochen dynastiefreundlich. Sie setzte sich zusammen aus den besten bürger¬ lichen Kreisen und aus höheren Offizieren; ihr Endziel war die Besserung aller durch den letzten Krieg ans Licht getretenen ungünstigen Verhältnisse im Staats¬ wesen und in der Armee sowie die Ausrottung des Partei- und Günstlings¬ wesens. Die andere Partei war dagegen revolutionär mit nicht aufrichtig ein¬ gestandener antidynastischer Spitze. Ihr gehörten noch mehrere Offiziere an, die mit dem Kronprinzen Konstantin dienstlich in Kollision geraten waren, wie z. B. der Oberst Zorbas. Sie begriff die jüngeren Elemente vom Hauptmann abwärts, hatte auch großen Zuzug aus Marinekreisen. Der hellenische Augiasstall sollte auf allen Gebieten, nicht nur in der Armee sondern auch im Justiz- und Schulwesen, von jeglichem Nepotismus gereinigt werden. Die Prinzen mit ihrer Klique sollten in erster Linie aus der Armee verschwinden. Anerkannt tüchtige Offiziere, wie etwa Smolenski, Dimopulos, Limbritis, die nicht mit der Offiziersliga sympathisierten, sollten gleichwohl in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/63>, abgerufen am 23.07.2024.