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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe ans China

Vertraulich sagte mir H., daß er wegen des Prinzen Heinrich in Sorge sei.
Programmäßig hätte er bereits vor vierzehn Tagen in Hongkong sein müssen;
statt dessen sei man ganz ohne Nachrichten und wisse nicht einmal, ob ihn: etwas
zugestoßen sei. Die "Deutschland", mit der er kommt, soll bereits im Nord¬
ostseekanal und im Noten Meer stecken geblieben sein -- hoffentlich kein böses
Omen für die deutsche Politik in Ostasien. Kiao in Kiao-chow bedeutet übrigens
"Leim" -- wer auf ihn gegangen, muß die Zukunft lehren.

Ich lese jetzt zwischen der Arbeit Thackerans "Newcomes" und habe einen
großen Genuß davon. In seiner köstlichen Menschenverachtung steckt wahrer Humor,
der stets ernst ist. Je mehr Arten dieser Gattung vernunftbegabter zweibeiniger
Lebewesen man unter verschiedenen Himmelsstrichen kennen lernt, um so sicherer
nähert man sich diesem Standpunkte, und die beste Gelegenheit, den Jahrmarkt
der Eitelkeiten zu studieren, bietet sich vielleicht gerade an einem Ort wie Peking,
wo eine kleine, dabei zum größten Teil aus Diplomaten, besonders angehenden,
bestehende Gesellschaft beisammen ist. Frau v. H. sagt, der einzige Mensch,
mit dem man sich interessant unterhalten konnte, sei der bisherige französische
Gesandte G. gewesen. Von den Damen scheint eigentlich nur Lady M. und
die Frau des amerikanischen Gesandten in Betracht zu kommen. Am unmöglichsten
sollen die russischen Damen sein, über die Frau v. M. eine köstliche Geschichte
von G. erzählte. Voriges Jahr fand am Silvesterabend ein La! co8tuas
auf der englischen Gesandtschaft statt. Die russischen Damen standen in slawischen
Kostümen beisammen und schienen selbst zu empfinden, daß sie eigentlich nicht
in die Gesellschaft gehörten. Eine war häßlicher wie die andere, dabei alle
gleich ungebildet und ohne Manieren. Da sagte G. zu Frau v. M.: "Voyex
avra, maäame, c'sZt la nation ac I'avsnir; 8v^on8 Koureux, et'avoir voeu
nmintsnantl" -- Ich glaube, der liebe Gott hat sich den Menschen nicht zum
Ebenbilde, sondern zur Folie geschaffen, vielleicht auch, damit die Theologen
einen Broterwerb finden. Sich vom Himmel aus das Treiben der Menschen¬
kinder ansehen zu können, muß eine Quelle heitersten Genusses sein, -- wie
da der Widerstreit zwischen dem Endlichen und Unendlichen bald traurig oder
komisch, bald tragisch und erhebend endet. Und Humor ist ja nichts anderes,
als dieser Widerstreit inkommensurabler Gegensätze, die dennoch aneinander
gemessen werden, obwohl sie sich nicht aneinander messen lassen. . . .

(Weitere Briefe folgen)




Briefe ans China

Vertraulich sagte mir H., daß er wegen des Prinzen Heinrich in Sorge sei.
Programmäßig hätte er bereits vor vierzehn Tagen in Hongkong sein müssen;
statt dessen sei man ganz ohne Nachrichten und wisse nicht einmal, ob ihn: etwas
zugestoßen sei. Die „Deutschland", mit der er kommt, soll bereits im Nord¬
ostseekanal und im Noten Meer stecken geblieben sein — hoffentlich kein böses
Omen für die deutsche Politik in Ostasien. Kiao in Kiao-chow bedeutet übrigens
„Leim" — wer auf ihn gegangen, muß die Zukunft lehren.

Ich lese jetzt zwischen der Arbeit Thackerans „Newcomes" und habe einen
großen Genuß davon. In seiner köstlichen Menschenverachtung steckt wahrer Humor,
der stets ernst ist. Je mehr Arten dieser Gattung vernunftbegabter zweibeiniger
Lebewesen man unter verschiedenen Himmelsstrichen kennen lernt, um so sicherer
nähert man sich diesem Standpunkte, und die beste Gelegenheit, den Jahrmarkt
der Eitelkeiten zu studieren, bietet sich vielleicht gerade an einem Ort wie Peking,
wo eine kleine, dabei zum größten Teil aus Diplomaten, besonders angehenden,
bestehende Gesellschaft beisammen ist. Frau v. H. sagt, der einzige Mensch,
mit dem man sich interessant unterhalten konnte, sei der bisherige französische
Gesandte G. gewesen. Von den Damen scheint eigentlich nur Lady M. und
die Frau des amerikanischen Gesandten in Betracht zu kommen. Am unmöglichsten
sollen die russischen Damen sein, über die Frau v. M. eine köstliche Geschichte
von G. erzählte. Voriges Jahr fand am Silvesterabend ein La! co8tuas
auf der englischen Gesandtschaft statt. Die russischen Damen standen in slawischen
Kostümen beisammen und schienen selbst zu empfinden, daß sie eigentlich nicht
in die Gesellschaft gehörten. Eine war häßlicher wie die andere, dabei alle
gleich ungebildet und ohne Manieren. Da sagte G. zu Frau v. M.: „Voyex
avra, maäame, c'sZt la nation ac I'avsnir; 8v^on8 Koureux, et'avoir voeu
nmintsnantl" — Ich glaube, der liebe Gott hat sich den Menschen nicht zum
Ebenbilde, sondern zur Folie geschaffen, vielleicht auch, damit die Theologen
einen Broterwerb finden. Sich vom Himmel aus das Treiben der Menschen¬
kinder ansehen zu können, muß eine Quelle heitersten Genusses sein, — wie
da der Widerstreit zwischen dem Endlichen und Unendlichen bald traurig oder
komisch, bald tragisch und erhebend endet. Und Humor ist ja nichts anderes,
als dieser Widerstreit inkommensurabler Gegensätze, die dennoch aneinander
gemessen werden, obwohl sie sich nicht aneinander messen lassen. . . .

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[0604] Briefe ans China Vertraulich sagte mir H., daß er wegen des Prinzen Heinrich in Sorge sei. Programmäßig hätte er bereits vor vierzehn Tagen in Hongkong sein müssen; statt dessen sei man ganz ohne Nachrichten und wisse nicht einmal, ob ihn: etwas zugestoßen sei. Die „Deutschland", mit der er kommt, soll bereits im Nord¬ ostseekanal und im Noten Meer stecken geblieben sein — hoffentlich kein böses Omen für die deutsche Politik in Ostasien. Kiao in Kiao-chow bedeutet übrigens „Leim" — wer auf ihn gegangen, muß die Zukunft lehren. Ich lese jetzt zwischen der Arbeit Thackerans „Newcomes" und habe einen großen Genuß davon. In seiner köstlichen Menschenverachtung steckt wahrer Humor, der stets ernst ist. Je mehr Arten dieser Gattung vernunftbegabter zweibeiniger Lebewesen man unter verschiedenen Himmelsstrichen kennen lernt, um so sicherer nähert man sich diesem Standpunkte, und die beste Gelegenheit, den Jahrmarkt der Eitelkeiten zu studieren, bietet sich vielleicht gerade an einem Ort wie Peking, wo eine kleine, dabei zum größten Teil aus Diplomaten, besonders angehenden, bestehende Gesellschaft beisammen ist. Frau v. H. sagt, der einzige Mensch, mit dem man sich interessant unterhalten konnte, sei der bisherige französische Gesandte G. gewesen. Von den Damen scheint eigentlich nur Lady M. und die Frau des amerikanischen Gesandten in Betracht zu kommen. Am unmöglichsten sollen die russischen Damen sein, über die Frau v. M. eine köstliche Geschichte von G. erzählte. Voriges Jahr fand am Silvesterabend ein La! co8tuas auf der englischen Gesandtschaft statt. Die russischen Damen standen in slawischen Kostümen beisammen und schienen selbst zu empfinden, daß sie eigentlich nicht in die Gesellschaft gehörten. Eine war häßlicher wie die andere, dabei alle gleich ungebildet und ohne Manieren. Da sagte G. zu Frau v. M.: „Voyex avra, maäame, c'sZt la nation ac I'avsnir; 8v^on8 Koureux, et'avoir voeu nmintsnantl" — Ich glaube, der liebe Gott hat sich den Menschen nicht zum Ebenbilde, sondern zur Folie geschaffen, vielleicht auch, damit die Theologen einen Broterwerb finden. Sich vom Himmel aus das Treiben der Menschen¬ kinder ansehen zu können, muß eine Quelle heitersten Genusses sein, — wie da der Widerstreit zwischen dem Endlichen und Unendlichen bald traurig oder komisch, bald tragisch und erhebend endet. Und Humor ist ja nichts anderes, als dieser Widerstreit inkommensurabler Gegensätze, die dennoch aneinander gemessen werden, obwohl sie sich nicht aneinander messen lassen. . . . (Weitere Briefe folgen)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/604>, abgerufen am 23.07.2024.