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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Volksdichtung":" aus Capri

Der Kaiser, der sehr ungehalten war, dieses Geschnatter alle Tage vernehmen
zu müssen, ließ den Hirten zu sich rufen und sprach: "Ich habe genug von dem
Lärm, der mich täglich im Morgenschlaf stört und vom Regieren ablenkt. Könnte
man wenigstens verstehen, was sie sagen!"

Da berichtete der Hirt getreulich, was das Quaquarra bedeute, und was er
am Strande gesehen. Zum Beweise zeigte er die Blumen und Perlen, die er
gefunden. Der Kaiser lauschte ihm staunend und ahnte, was heimlich geschehen
war, und wie man ihn betrogen hatte. Er befahl dem Hirten, das nächste Mal
die Nixe zu fragen, wie sie aus den Ketten der Meerfrau befreit werden könnte,
um wieder zum Erdenleben zurückzukehren. Der Hirt tat, wie ihm befohlen.

"Um mich zu befreien," sagte die Schöne, "müssen zwölf starke Männer die
zwölf goldenen Ketten mit zwölf scharfen Messern in einem Augenblicke durch-
hauen. Wenn das nicht gelingt, werde ich niemals erlöst."

Am nächsten Morgen begab sich nun der Kaiser mit zwölf wehrhaften Rittern
zum Strande, wo die Jungfrau sich sonnte. Auf seinen Befehl zogen die Ritter
ihre Schwerter, und in einem Augenblicke fielen die Fesseln zu Boden und die
Schöne war wieder zur Erdenjnngfrau geworden. Der Kaiser gab ihr als Kleid
seinen Mantel und führte sie als Gemahlin mit sich in seinen Palast. Die böse
Stiefmutter aber und die ihrer würdige Tochter ließ er verbrennen.


Mit Recht (Lor rsxione).

Eine schnöde Jungfer hatte zwölf Brüder. Und niemand begehrte sie zur
Frau aus Furcht vor den Brüdern.

Endlich nahm sie einer, der ein wenig einfältig war. Aber bald genug bereute
er seine Torheit; denn er wurde von der bösen Sieben gar übel behandelt.
Während sie den ganzen Tag sich nur müßig herumtrieb oder vor der Tür saß
und mit den Nachbarinnen klatschte oder lieber noch mit guten Freunden schmauste
und scherzte, mußte er sich bei kärglichster Kost von früh bis spät im Weinberg
plagen. Und wenn er vor Hunger und Müdigkeit einmal in der Arbeit nachließ
oder gar zu klagen begann, erhielt er von den braven Brüdern, die sie herbeirief,
noch obendrein eine Tracht Prügel.

Als er nun so eines Tages ganz trübselig zwischen den Mauern dahinschlich,
begegnete ihm ein Mütterchen. Das grüßte ihn lächelnd und sprach: "Was fehlt
dir, mein Sohn, warum bist du so traurig? Erzähle! Vielleicht kann ich dir
helfen oder guten Rat geben."

Da klagte er ihr nun all sein Leid.

"Sei ruhig, mein söhnt Schon weiß ich ein treffliches Mittel. Wenn du
morgen zum Feste gehst und jemand schöne Rohrstocke feilbietet, so kaufe dir einen
recht starken, schmücke ihn zierlich mit buntseidenen Bändern und schenke ihn dann
deiner Frau! Und fragt sie, wie das Ding heißt, so antworte nur. Recht heißt


Volksdichtung«:« aus Capri

Der Kaiser, der sehr ungehalten war, dieses Geschnatter alle Tage vernehmen
zu müssen, ließ den Hirten zu sich rufen und sprach: „Ich habe genug von dem
Lärm, der mich täglich im Morgenschlaf stört und vom Regieren ablenkt. Könnte
man wenigstens verstehen, was sie sagen!"

Da berichtete der Hirt getreulich, was das Quaquarra bedeute, und was er
am Strande gesehen. Zum Beweise zeigte er die Blumen und Perlen, die er
gefunden. Der Kaiser lauschte ihm staunend und ahnte, was heimlich geschehen
war, und wie man ihn betrogen hatte. Er befahl dem Hirten, das nächste Mal
die Nixe zu fragen, wie sie aus den Ketten der Meerfrau befreit werden könnte,
um wieder zum Erdenleben zurückzukehren. Der Hirt tat, wie ihm befohlen.

„Um mich zu befreien," sagte die Schöne, „müssen zwölf starke Männer die
zwölf goldenen Ketten mit zwölf scharfen Messern in einem Augenblicke durch-
hauen. Wenn das nicht gelingt, werde ich niemals erlöst."

Am nächsten Morgen begab sich nun der Kaiser mit zwölf wehrhaften Rittern
zum Strande, wo die Jungfrau sich sonnte. Auf seinen Befehl zogen die Ritter
ihre Schwerter, und in einem Augenblicke fielen die Fesseln zu Boden und die
Schöne war wieder zur Erdenjnngfrau geworden. Der Kaiser gab ihr als Kleid
seinen Mantel und führte sie als Gemahlin mit sich in seinen Palast. Die böse
Stiefmutter aber und die ihrer würdige Tochter ließ er verbrennen.


Mit Recht (Lor rsxione).

Eine schnöde Jungfer hatte zwölf Brüder. Und niemand begehrte sie zur
Frau aus Furcht vor den Brüdern.

Endlich nahm sie einer, der ein wenig einfältig war. Aber bald genug bereute
er seine Torheit; denn er wurde von der bösen Sieben gar übel behandelt.
Während sie den ganzen Tag sich nur müßig herumtrieb oder vor der Tür saß
und mit den Nachbarinnen klatschte oder lieber noch mit guten Freunden schmauste
und scherzte, mußte er sich bei kärglichster Kost von früh bis spät im Weinberg
plagen. Und wenn er vor Hunger und Müdigkeit einmal in der Arbeit nachließ
oder gar zu klagen begann, erhielt er von den braven Brüdern, die sie herbeirief,
noch obendrein eine Tracht Prügel.

Als er nun so eines Tages ganz trübselig zwischen den Mauern dahinschlich,
begegnete ihm ein Mütterchen. Das grüßte ihn lächelnd und sprach: „Was fehlt
dir, mein Sohn, warum bist du so traurig? Erzähle! Vielleicht kann ich dir
helfen oder guten Rat geben."

Da klagte er ihr nun all sein Leid.

„Sei ruhig, mein söhnt Schon weiß ich ein treffliches Mittel. Wenn du
morgen zum Feste gehst und jemand schöne Rohrstocke feilbietet, so kaufe dir einen
recht starken, schmücke ihn zierlich mit buntseidenen Bändern und schenke ihn dann
deiner Frau! Und fragt sie, wie das Ding heißt, so antworte nur. Recht heißt


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[0552] Volksdichtung«:« aus Capri Der Kaiser, der sehr ungehalten war, dieses Geschnatter alle Tage vernehmen zu müssen, ließ den Hirten zu sich rufen und sprach: „Ich habe genug von dem Lärm, der mich täglich im Morgenschlaf stört und vom Regieren ablenkt. Könnte man wenigstens verstehen, was sie sagen!" Da berichtete der Hirt getreulich, was das Quaquarra bedeute, und was er am Strande gesehen. Zum Beweise zeigte er die Blumen und Perlen, die er gefunden. Der Kaiser lauschte ihm staunend und ahnte, was heimlich geschehen war, und wie man ihn betrogen hatte. Er befahl dem Hirten, das nächste Mal die Nixe zu fragen, wie sie aus den Ketten der Meerfrau befreit werden könnte, um wieder zum Erdenleben zurückzukehren. Der Hirt tat, wie ihm befohlen. „Um mich zu befreien," sagte die Schöne, „müssen zwölf starke Männer die zwölf goldenen Ketten mit zwölf scharfen Messern in einem Augenblicke durch- hauen. Wenn das nicht gelingt, werde ich niemals erlöst." Am nächsten Morgen begab sich nun der Kaiser mit zwölf wehrhaften Rittern zum Strande, wo die Jungfrau sich sonnte. Auf seinen Befehl zogen die Ritter ihre Schwerter, und in einem Augenblicke fielen die Fesseln zu Boden und die Schöne war wieder zur Erdenjnngfrau geworden. Der Kaiser gab ihr als Kleid seinen Mantel und führte sie als Gemahlin mit sich in seinen Palast. Die böse Stiefmutter aber und die ihrer würdige Tochter ließ er verbrennen. Mit Recht (Lor rsxione). Eine schnöde Jungfer hatte zwölf Brüder. Und niemand begehrte sie zur Frau aus Furcht vor den Brüdern. Endlich nahm sie einer, der ein wenig einfältig war. Aber bald genug bereute er seine Torheit; denn er wurde von der bösen Sieben gar übel behandelt. Während sie den ganzen Tag sich nur müßig herumtrieb oder vor der Tür saß und mit den Nachbarinnen klatschte oder lieber noch mit guten Freunden schmauste und scherzte, mußte er sich bei kärglichster Kost von früh bis spät im Weinberg plagen. Und wenn er vor Hunger und Müdigkeit einmal in der Arbeit nachließ oder gar zu klagen begann, erhielt er von den braven Brüdern, die sie herbeirief, noch obendrein eine Tracht Prügel. Als er nun so eines Tages ganz trübselig zwischen den Mauern dahinschlich, begegnete ihm ein Mütterchen. Das grüßte ihn lächelnd und sprach: „Was fehlt dir, mein Sohn, warum bist du so traurig? Erzähle! Vielleicht kann ich dir helfen oder guten Rat geben." Da klagte er ihr nun all sein Leid. „Sei ruhig, mein söhnt Schon weiß ich ein treffliches Mittel. Wenn du morgen zum Feste gehst und jemand schöne Rohrstocke feilbietet, so kaufe dir einen recht starken, schmücke ihn zierlich mit buntseidenen Bändern und schenke ihn dann deiner Frau! Und fragt sie, wie das Ding heißt, so antworte nur. Recht heißt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/552>, abgerufen am 23.07.2024.