Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Briefe ans China

anzugehören pflegen, zweifle ich nicht, daß China seiner nationalen Wieder¬
geburt entgegengeht. Ebenso wenig zweifle ich auch daran, daß wenn es zu
einer solchen kommt, diese vom Süden ausgehen muß, wo das Volk regeren
Geistes, lebhafteren Temperaments und daher auch neuen Ideen leichter zugänglich
ist, als im Norden, wo das ohnehin etwas dickflüssige Blut der Chinesen infolge
vielfacher Vermischung mit Mandschuren und Mongolen nur noch träger fließt.
Ich habe in Canton ziemlich viel mit dein "jungen China" verkehrt und mich
an dem jugendlichen Übereifer erfreut, der womöglich mit dein Dach den Anfang
macht, um das Haus zu bauen.

Ob diese vielversprechende, geistige Bewegung je zur Reise gelangen und
die erhofften Früchte tragen wird, hängt vielleicht wesentlich von den hemmenden
und fördernden Einflüssen ab, die ihr aus dein Kontakt mit der westlichen
Kultur erwachsen. Nach den bisherigen Erfahrungen fürchte ich freilich, daß die
gepriesenen Segnungen der europäischen Zivilisation mehr dem eigenen Vorteil
als der Kulturförderung Chinas gelten werden. Wenn Herr v. Richthofen wirklich
gesagt hat, daß ich das Land kenne wie kein anderer, so hat er damit sowohl
mir wie meinen Briefen an Sie zu viel Ehre angetan. Es gibt sehr viele,
die China besser kennen als ich, aber freilich unter diesen vielen leider nur sehr
wenige, die es richtig beurteilen. Die meisten unterschätzen die chinesische Kultur,
und die übrigen überschätzen sie. Ich bin der Ansicht, daß auf dem Gebiete
der historischen Forschung der Forscher nicht wie auf dem der exakten Wissen¬
schaften seinem Gegenstand nur ein rein theoretisches Interesse entgegenbringen
darf, sondern mit menschlich warmem Interesse an ihn herantreten muß; er
darf nicht Richter allein, sondern muß auch Anwalt zugleich sein. Darin liegt
wieder eine große Schwierigkeit, zu deren Überwindung nicht nur ausreichende
Beherrschung des Stoffes, sondern zugleich feines historisches Taktgefühl erforderlich
ist. Und selbst wenn alle diese Notwendigkeiten erfüllt sind, muß, wer den Stoff
künstlerisch gruppieren und anschaulich darstellen will, über eine gewisse
dichterische Veranlagung und eine gewandte Feder verfügen. Beides fehlt
mir leider.

Nichtsdestoweniger beabsichtige ich selbstverständlich die Früchte meiner Arbeit
dereinst zu veröffentlichen, um so mehr, als ich durch den speziellen Charakter
meiner Studien auch wirklich tiefer in die Volksseele blicken konnte, als viele
andere, die sich mehr mit der politischen oder rein literarischen Seite der Ge¬
schichte Chinas befaßt haben. Auch habe ich viel neues, bisher unbekanntes
Material zutage gefördert, das nicht im Pulte begraben bleiben darf. Die über
Erwarten reiche Ausbeute veranlaßte mich auch, wie Sie wohl inzwischen schon
gehört haben, um eine Verlängerung meines Urlaubs einzukommen, und zwar
für die Dauer eines halben Jahres. Zu meiner größten Frende habe ich die
Genehmigung bereits auf telegraphischem Wege erhalten. ...




Briefe ans China

anzugehören pflegen, zweifle ich nicht, daß China seiner nationalen Wieder¬
geburt entgegengeht. Ebenso wenig zweifle ich auch daran, daß wenn es zu
einer solchen kommt, diese vom Süden ausgehen muß, wo das Volk regeren
Geistes, lebhafteren Temperaments und daher auch neuen Ideen leichter zugänglich
ist, als im Norden, wo das ohnehin etwas dickflüssige Blut der Chinesen infolge
vielfacher Vermischung mit Mandschuren und Mongolen nur noch träger fließt.
Ich habe in Canton ziemlich viel mit dein „jungen China" verkehrt und mich
an dem jugendlichen Übereifer erfreut, der womöglich mit dein Dach den Anfang
macht, um das Haus zu bauen.

Ob diese vielversprechende, geistige Bewegung je zur Reise gelangen und
die erhofften Früchte tragen wird, hängt vielleicht wesentlich von den hemmenden
und fördernden Einflüssen ab, die ihr aus dein Kontakt mit der westlichen
Kultur erwachsen. Nach den bisherigen Erfahrungen fürchte ich freilich, daß die
gepriesenen Segnungen der europäischen Zivilisation mehr dem eigenen Vorteil
als der Kulturförderung Chinas gelten werden. Wenn Herr v. Richthofen wirklich
gesagt hat, daß ich das Land kenne wie kein anderer, so hat er damit sowohl
mir wie meinen Briefen an Sie zu viel Ehre angetan. Es gibt sehr viele,
die China besser kennen als ich, aber freilich unter diesen vielen leider nur sehr
wenige, die es richtig beurteilen. Die meisten unterschätzen die chinesische Kultur,
und die übrigen überschätzen sie. Ich bin der Ansicht, daß auf dem Gebiete
der historischen Forschung der Forscher nicht wie auf dem der exakten Wissen¬
schaften seinem Gegenstand nur ein rein theoretisches Interesse entgegenbringen
darf, sondern mit menschlich warmem Interesse an ihn herantreten muß; er
darf nicht Richter allein, sondern muß auch Anwalt zugleich sein. Darin liegt
wieder eine große Schwierigkeit, zu deren Überwindung nicht nur ausreichende
Beherrschung des Stoffes, sondern zugleich feines historisches Taktgefühl erforderlich
ist. Und selbst wenn alle diese Notwendigkeiten erfüllt sind, muß, wer den Stoff
künstlerisch gruppieren und anschaulich darstellen will, über eine gewisse
dichterische Veranlagung und eine gewandte Feder verfügen. Beides fehlt
mir leider.

Nichtsdestoweniger beabsichtige ich selbstverständlich die Früchte meiner Arbeit
dereinst zu veröffentlichen, um so mehr, als ich durch den speziellen Charakter
meiner Studien auch wirklich tiefer in die Volksseele blicken konnte, als viele
andere, die sich mehr mit der politischen oder rein literarischen Seite der Ge¬
schichte Chinas befaßt haben. Auch habe ich viel neues, bisher unbekanntes
Material zutage gefördert, das nicht im Pulte begraben bleiben darf. Die über
Erwarten reiche Ausbeute veranlaßte mich auch, wie Sie wohl inzwischen schon
gehört haben, um eine Verlängerung meines Urlaubs einzukommen, und zwar
für die Dauer eines halben Jahres. Zu meiner größten Frende habe ich die
Genehmigung bereits auf telegraphischem Wege erhalten. ...




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0538" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320139"/>
          <fw type="header" place="top"> Briefe ans China</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2321" prev="#ID_2320"> anzugehören pflegen, zweifle ich nicht, daß China seiner nationalen Wieder¬<lb/>
geburt entgegengeht. Ebenso wenig zweifle ich auch daran, daß wenn es zu<lb/>
einer solchen kommt, diese vom Süden ausgehen muß, wo das Volk regeren<lb/>
Geistes, lebhafteren Temperaments und daher auch neuen Ideen leichter zugänglich<lb/>
ist, als im Norden, wo das ohnehin etwas dickflüssige Blut der Chinesen infolge<lb/>
vielfacher Vermischung mit Mandschuren und Mongolen nur noch träger fließt.<lb/>
Ich habe in Canton ziemlich viel mit dein &#x201E;jungen China" verkehrt und mich<lb/>
an dem jugendlichen Übereifer erfreut, der womöglich mit dein Dach den Anfang<lb/>
macht, um das Haus zu bauen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2322"> Ob diese vielversprechende, geistige Bewegung je zur Reise gelangen und<lb/>
die erhofften Früchte tragen wird, hängt vielleicht wesentlich von den hemmenden<lb/>
und fördernden Einflüssen ab, die ihr aus dein Kontakt mit der westlichen<lb/>
Kultur erwachsen. Nach den bisherigen Erfahrungen fürchte ich freilich, daß die<lb/>
gepriesenen Segnungen der europäischen Zivilisation mehr dem eigenen Vorteil<lb/>
als der Kulturförderung Chinas gelten werden. Wenn Herr v. Richthofen wirklich<lb/>
gesagt hat, daß ich das Land kenne wie kein anderer, so hat er damit sowohl<lb/>
mir wie meinen Briefen an Sie zu viel Ehre angetan. Es gibt sehr viele,<lb/>
die China besser kennen als ich, aber freilich unter diesen vielen leider nur sehr<lb/>
wenige, die es richtig beurteilen. Die meisten unterschätzen die chinesische Kultur,<lb/>
und die übrigen überschätzen sie. Ich bin der Ansicht, daß auf dem Gebiete<lb/>
der historischen Forschung der Forscher nicht wie auf dem der exakten Wissen¬<lb/>
schaften seinem Gegenstand nur ein rein theoretisches Interesse entgegenbringen<lb/>
darf, sondern mit menschlich warmem Interesse an ihn herantreten muß; er<lb/>
darf nicht Richter allein, sondern muß auch Anwalt zugleich sein. Darin liegt<lb/>
wieder eine große Schwierigkeit, zu deren Überwindung nicht nur ausreichende<lb/>
Beherrschung des Stoffes, sondern zugleich feines historisches Taktgefühl erforderlich<lb/>
ist. Und selbst wenn alle diese Notwendigkeiten erfüllt sind, muß, wer den Stoff<lb/>
künstlerisch gruppieren und anschaulich darstellen will, über eine gewisse<lb/>
dichterische Veranlagung und eine gewandte Feder verfügen. Beides fehlt<lb/>
mir leider.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2323"> Nichtsdestoweniger beabsichtige ich selbstverständlich die Früchte meiner Arbeit<lb/>
dereinst zu veröffentlichen, um so mehr, als ich durch den speziellen Charakter<lb/>
meiner Studien auch wirklich tiefer in die Volksseele blicken konnte, als viele<lb/>
andere, die sich mehr mit der politischen oder rein literarischen Seite der Ge¬<lb/>
schichte Chinas befaßt haben. Auch habe ich viel neues, bisher unbekanntes<lb/>
Material zutage gefördert, das nicht im Pulte begraben bleiben darf. Die über<lb/>
Erwarten reiche Ausbeute veranlaßte mich auch, wie Sie wohl inzwischen schon<lb/>
gehört haben, um eine Verlängerung meines Urlaubs einzukommen, und zwar<lb/>
für die Dauer eines halben Jahres. Zu meiner größten Frende habe ich die<lb/>
Genehmigung bereits auf telegraphischem Wege erhalten. ...</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0538] Briefe ans China anzugehören pflegen, zweifle ich nicht, daß China seiner nationalen Wieder¬ geburt entgegengeht. Ebenso wenig zweifle ich auch daran, daß wenn es zu einer solchen kommt, diese vom Süden ausgehen muß, wo das Volk regeren Geistes, lebhafteren Temperaments und daher auch neuen Ideen leichter zugänglich ist, als im Norden, wo das ohnehin etwas dickflüssige Blut der Chinesen infolge vielfacher Vermischung mit Mandschuren und Mongolen nur noch träger fließt. Ich habe in Canton ziemlich viel mit dein „jungen China" verkehrt und mich an dem jugendlichen Übereifer erfreut, der womöglich mit dein Dach den Anfang macht, um das Haus zu bauen. Ob diese vielversprechende, geistige Bewegung je zur Reise gelangen und die erhofften Früchte tragen wird, hängt vielleicht wesentlich von den hemmenden und fördernden Einflüssen ab, die ihr aus dein Kontakt mit der westlichen Kultur erwachsen. Nach den bisherigen Erfahrungen fürchte ich freilich, daß die gepriesenen Segnungen der europäischen Zivilisation mehr dem eigenen Vorteil als der Kulturförderung Chinas gelten werden. Wenn Herr v. Richthofen wirklich gesagt hat, daß ich das Land kenne wie kein anderer, so hat er damit sowohl mir wie meinen Briefen an Sie zu viel Ehre angetan. Es gibt sehr viele, die China besser kennen als ich, aber freilich unter diesen vielen leider nur sehr wenige, die es richtig beurteilen. Die meisten unterschätzen die chinesische Kultur, und die übrigen überschätzen sie. Ich bin der Ansicht, daß auf dem Gebiete der historischen Forschung der Forscher nicht wie auf dem der exakten Wissen¬ schaften seinem Gegenstand nur ein rein theoretisches Interesse entgegenbringen darf, sondern mit menschlich warmem Interesse an ihn herantreten muß; er darf nicht Richter allein, sondern muß auch Anwalt zugleich sein. Darin liegt wieder eine große Schwierigkeit, zu deren Überwindung nicht nur ausreichende Beherrschung des Stoffes, sondern zugleich feines historisches Taktgefühl erforderlich ist. Und selbst wenn alle diese Notwendigkeiten erfüllt sind, muß, wer den Stoff künstlerisch gruppieren und anschaulich darstellen will, über eine gewisse dichterische Veranlagung und eine gewandte Feder verfügen. Beides fehlt mir leider. Nichtsdestoweniger beabsichtige ich selbstverständlich die Früchte meiner Arbeit dereinst zu veröffentlichen, um so mehr, als ich durch den speziellen Charakter meiner Studien auch wirklich tiefer in die Volksseele blicken konnte, als viele andere, die sich mehr mit der politischen oder rein literarischen Seite der Ge¬ schichte Chinas befaßt haben. Auch habe ich viel neues, bisher unbekanntes Material zutage gefördert, das nicht im Pulte begraben bleiben darf. Die über Erwarten reiche Ausbeute veranlaßte mich auch, wie Sie wohl inzwischen schon gehört haben, um eine Verlängerung meines Urlaubs einzukommen, und zwar für die Dauer eines halben Jahres. Zu meiner größten Frende habe ich die Genehmigung bereits auf telegraphischem Wege erhalten. ...

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/538
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/538>, abgerufen am 03.07.2024.