Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

muß, ist die negative Tatsache: Diejenigen Antworten, welche bei Jugendlichen
in nächster Bereitschaft liegend vermutet werden sollten, die Berufung auf Gott,
auf das religiöse Gebot, auf die Sündhaftigkeit des Stehlens gehören zu den
weitaus seltenen Erscheinungen. Sie ließen sich zweifelsfrei nur in 12 Prozent
aller Fälle erkennen und, unter ihnen befindet! sich noch einzelne geistig Zurück¬
gebliebene, die zu phrasenhaftem Antworten geneigt sind.




Wollten wir auf unserem Wege ein von zufälligen Einflüssen unabhängigeres,
psychologisch zuverlässigeres Bild der Ethik unserer jugendlichen Angeklagten
erhalten, wollten wir die wirklichen Triebfedern aufdecken, die sie gegebenenfalls
von einem Diebstahl abhalten könnten, so mußten sie vor allen Dingen in eine
Lage versetzt werden, in welcher sie selbständig ein Urteil abzugeben hatten über
einen ihnen nahegelegten Konflikt zwischen dem natürlichen Trieb der persön¬
lichen Bereicherung und dem Verbote, zu stehlen. Sie mußten veranlaßt werden,
für ihre begreiflicherweise fast stets behauptete sittliche Entscheidung, nämlich, daß
sie der Versuchung widerstehen würden, die Gründe im einzelnen darzulegen;
sie mußten, allmählich in die Enge getrieben, sich dabei genötigt sehen, alles,
was ihnen an vermeintlich guten Beweggründen zu Gebote stand, im eigenen
Interesse, zur Verteidigung ihrer angeblichen Stellungnahme vorzubringen.

So kompliziert und klippenreich in psychologischer Hinsicht derartige Aussage¬
experimente, besonders den suggestiblen Unerwachsenen gegenüber, erscheinen, so
vermochte ich doch, dank besonderer Umstände, mit einiger Ausdauer fast aus¬
nahmslos ausreichende, wissenschaftlich verwertbare Angaben zu erzielen; selbst
unter den geistig Zurückgebliebelten fanden sich nur wenige, deren mangelhaftes
Verständnis die Beantwortung meiner Fraget! nicht ganz gelingen ließ. Es
kamen mir neben dem lebhaften Interesse der Kinder an dem für sie aktuellen
Thema und der für sie neuartigen Erörterungsweise mancherlei äußere Bedingungen
zu Hilfe, um die Lösung meiner Aufgabe zu begünstigen. So mußte die im
Hintergrunde schwebende Anklage, gleichgültig ob schuldig oder unschuldig, die
Bemühung der Befragten verstärken, ihre besten Gesinnungen an den Tag zu
legen, und ebenso vermochte der, wiewohl nicht immer zutreffende Gedanke und
die von den Angehörigen oft gestützte Auffassung, daß der Arzt sie vor der
Strafe bewahren könnte, ihre Bereitwilligkeit zu möglichst guter Auskunft nur
zu erhöhen.

Zwei sehr verschiedenartige konkrete Beispiele werden am ersten die ungefähre
Art meines Verfahrens veranschaulichen. Es ist nur nötig, vorauszuschicken,
daß von Fall zu Fall die Einkleidung der Fragen und das ganze Vorgehen
der Situation, der Straftat, dem Verständnis und demi Gefühlsleben des Be¬
fragten, mit einer gewissen Diplomatie angepaßt werden mußte.

Beispiel I. Ein zwölfeinhalbjähriger, der Hehlerei beschuldigter, vollauf
geständiger Knabe, von ungleichmäßig entwickelter Intelligenz, der vor der Ver-


Gl-eiizvoten IV 19l1 02
Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

muß, ist die negative Tatsache: Diejenigen Antworten, welche bei Jugendlichen
in nächster Bereitschaft liegend vermutet werden sollten, die Berufung auf Gott,
auf das religiöse Gebot, auf die Sündhaftigkeit des Stehlens gehören zu den
weitaus seltenen Erscheinungen. Sie ließen sich zweifelsfrei nur in 12 Prozent
aller Fälle erkennen und, unter ihnen befindet! sich noch einzelne geistig Zurück¬
gebliebene, die zu phrasenhaftem Antworten geneigt sind.




Wollten wir auf unserem Wege ein von zufälligen Einflüssen unabhängigeres,
psychologisch zuverlässigeres Bild der Ethik unserer jugendlichen Angeklagten
erhalten, wollten wir die wirklichen Triebfedern aufdecken, die sie gegebenenfalls
von einem Diebstahl abhalten könnten, so mußten sie vor allen Dingen in eine
Lage versetzt werden, in welcher sie selbständig ein Urteil abzugeben hatten über
einen ihnen nahegelegten Konflikt zwischen dem natürlichen Trieb der persön¬
lichen Bereicherung und dem Verbote, zu stehlen. Sie mußten veranlaßt werden,
für ihre begreiflicherweise fast stets behauptete sittliche Entscheidung, nämlich, daß
sie der Versuchung widerstehen würden, die Gründe im einzelnen darzulegen;
sie mußten, allmählich in die Enge getrieben, sich dabei genötigt sehen, alles,
was ihnen an vermeintlich guten Beweggründen zu Gebote stand, im eigenen
Interesse, zur Verteidigung ihrer angeblichen Stellungnahme vorzubringen.

So kompliziert und klippenreich in psychologischer Hinsicht derartige Aussage¬
experimente, besonders den suggestiblen Unerwachsenen gegenüber, erscheinen, so
vermochte ich doch, dank besonderer Umstände, mit einiger Ausdauer fast aus¬
nahmslos ausreichende, wissenschaftlich verwertbare Angaben zu erzielen; selbst
unter den geistig Zurückgebliebelten fanden sich nur wenige, deren mangelhaftes
Verständnis die Beantwortung meiner Fraget! nicht ganz gelingen ließ. Es
kamen mir neben dem lebhaften Interesse der Kinder an dem für sie aktuellen
Thema und der für sie neuartigen Erörterungsweise mancherlei äußere Bedingungen
zu Hilfe, um die Lösung meiner Aufgabe zu begünstigen. So mußte die im
Hintergrunde schwebende Anklage, gleichgültig ob schuldig oder unschuldig, die
Bemühung der Befragten verstärken, ihre besten Gesinnungen an den Tag zu
legen, und ebenso vermochte der, wiewohl nicht immer zutreffende Gedanke und
die von den Angehörigen oft gestützte Auffassung, daß der Arzt sie vor der
Strafe bewahren könnte, ihre Bereitwilligkeit zu möglichst guter Auskunft nur
zu erhöhen.

Zwei sehr verschiedenartige konkrete Beispiele werden am ersten die ungefähre
Art meines Verfahrens veranschaulichen. Es ist nur nötig, vorauszuschicken,
daß von Fall zu Fall die Einkleidung der Fragen und das ganze Vorgehen
der Situation, der Straftat, dem Verständnis und demi Gefühlsleben des Be¬
fragten, mit einer gewissen Diplomatie angepaßt werden mußte.

Beispiel I. Ein zwölfeinhalbjähriger, der Hehlerei beschuldigter, vollauf
geständiger Knabe, von ungleichmäßig entwickelter Intelligenz, der vor der Ver-


Gl-eiizvoten IV 19l1 02
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0497" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320098"/>
          <fw type="header" place="top"> Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2151" prev="#ID_2150"> muß, ist die negative Tatsache: Diejenigen Antworten, welche bei Jugendlichen<lb/>
in nächster Bereitschaft liegend vermutet werden sollten, die Berufung auf Gott,<lb/>
auf das religiöse Gebot, auf die Sündhaftigkeit des Stehlens gehören zu den<lb/>
weitaus seltenen Erscheinungen. Sie ließen sich zweifelsfrei nur in 12 Prozent<lb/>
aller Fälle erkennen und, unter ihnen befindet! sich noch einzelne geistig Zurück¬<lb/>
gebliebene, die zu phrasenhaftem Antworten geneigt sind.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2152"> Wollten wir auf unserem Wege ein von zufälligen Einflüssen unabhängigeres,<lb/>
psychologisch zuverlässigeres Bild der Ethik unserer jugendlichen Angeklagten<lb/>
erhalten, wollten wir die wirklichen Triebfedern aufdecken, die sie gegebenenfalls<lb/>
von einem Diebstahl abhalten könnten, so mußten sie vor allen Dingen in eine<lb/>
Lage versetzt werden, in welcher sie selbständig ein Urteil abzugeben hatten über<lb/>
einen ihnen nahegelegten Konflikt zwischen dem natürlichen Trieb der persön¬<lb/>
lichen Bereicherung und dem Verbote, zu stehlen. Sie mußten veranlaßt werden,<lb/>
für ihre begreiflicherweise fast stets behauptete sittliche Entscheidung, nämlich, daß<lb/>
sie der Versuchung widerstehen würden, die Gründe im einzelnen darzulegen;<lb/>
sie mußten, allmählich in die Enge getrieben, sich dabei genötigt sehen, alles,<lb/>
was ihnen an vermeintlich guten Beweggründen zu Gebote stand, im eigenen<lb/>
Interesse, zur Verteidigung ihrer angeblichen Stellungnahme vorzubringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2153"> So kompliziert und klippenreich in psychologischer Hinsicht derartige Aussage¬<lb/>
experimente, besonders den suggestiblen Unerwachsenen gegenüber, erscheinen, so<lb/>
vermochte ich doch, dank besonderer Umstände, mit einiger Ausdauer fast aus¬<lb/>
nahmslos ausreichende, wissenschaftlich verwertbare Angaben zu erzielen; selbst<lb/>
unter den geistig Zurückgebliebelten fanden sich nur wenige, deren mangelhaftes<lb/>
Verständnis die Beantwortung meiner Fraget! nicht ganz gelingen ließ. Es<lb/>
kamen mir neben dem lebhaften Interesse der Kinder an dem für sie aktuellen<lb/>
Thema und der für sie neuartigen Erörterungsweise mancherlei äußere Bedingungen<lb/>
zu Hilfe, um die Lösung meiner Aufgabe zu begünstigen. So mußte die im<lb/>
Hintergrunde schwebende Anklage, gleichgültig ob schuldig oder unschuldig, die<lb/>
Bemühung der Befragten verstärken, ihre besten Gesinnungen an den Tag zu<lb/>
legen, und ebenso vermochte der, wiewohl nicht immer zutreffende Gedanke und<lb/>
die von den Angehörigen oft gestützte Auffassung, daß der Arzt sie vor der<lb/>
Strafe bewahren könnte, ihre Bereitwilligkeit zu möglichst guter Auskunft nur<lb/>
zu erhöhen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2154"> Zwei sehr verschiedenartige konkrete Beispiele werden am ersten die ungefähre<lb/>
Art meines Verfahrens veranschaulichen. Es ist nur nötig, vorauszuschicken,<lb/>
daß von Fall zu Fall die Einkleidung der Fragen und das ganze Vorgehen<lb/>
der Situation, der Straftat, dem Verständnis und demi Gefühlsleben des Be¬<lb/>
fragten, mit einer gewissen Diplomatie angepaßt werden mußte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2155" next="#ID_2156"> Beispiel I. Ein zwölfeinhalbjähriger, der Hehlerei beschuldigter, vollauf<lb/>
geständiger Knabe, von ungleichmäßig entwickelter Intelligenz, der vor der Ver-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Gl-eiizvoten IV 19l1 02</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0497] Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife muß, ist die negative Tatsache: Diejenigen Antworten, welche bei Jugendlichen in nächster Bereitschaft liegend vermutet werden sollten, die Berufung auf Gott, auf das religiöse Gebot, auf die Sündhaftigkeit des Stehlens gehören zu den weitaus seltenen Erscheinungen. Sie ließen sich zweifelsfrei nur in 12 Prozent aller Fälle erkennen und, unter ihnen befindet! sich noch einzelne geistig Zurück¬ gebliebene, die zu phrasenhaftem Antworten geneigt sind. Wollten wir auf unserem Wege ein von zufälligen Einflüssen unabhängigeres, psychologisch zuverlässigeres Bild der Ethik unserer jugendlichen Angeklagten erhalten, wollten wir die wirklichen Triebfedern aufdecken, die sie gegebenenfalls von einem Diebstahl abhalten könnten, so mußten sie vor allen Dingen in eine Lage versetzt werden, in welcher sie selbständig ein Urteil abzugeben hatten über einen ihnen nahegelegten Konflikt zwischen dem natürlichen Trieb der persön¬ lichen Bereicherung und dem Verbote, zu stehlen. Sie mußten veranlaßt werden, für ihre begreiflicherweise fast stets behauptete sittliche Entscheidung, nämlich, daß sie der Versuchung widerstehen würden, die Gründe im einzelnen darzulegen; sie mußten, allmählich in die Enge getrieben, sich dabei genötigt sehen, alles, was ihnen an vermeintlich guten Beweggründen zu Gebote stand, im eigenen Interesse, zur Verteidigung ihrer angeblichen Stellungnahme vorzubringen. So kompliziert und klippenreich in psychologischer Hinsicht derartige Aussage¬ experimente, besonders den suggestiblen Unerwachsenen gegenüber, erscheinen, so vermochte ich doch, dank besonderer Umstände, mit einiger Ausdauer fast aus¬ nahmslos ausreichende, wissenschaftlich verwertbare Angaben zu erzielen; selbst unter den geistig Zurückgebliebelten fanden sich nur wenige, deren mangelhaftes Verständnis die Beantwortung meiner Fraget! nicht ganz gelingen ließ. Es kamen mir neben dem lebhaften Interesse der Kinder an dem für sie aktuellen Thema und der für sie neuartigen Erörterungsweise mancherlei äußere Bedingungen zu Hilfe, um die Lösung meiner Aufgabe zu begünstigen. So mußte die im Hintergrunde schwebende Anklage, gleichgültig ob schuldig oder unschuldig, die Bemühung der Befragten verstärken, ihre besten Gesinnungen an den Tag zu legen, und ebenso vermochte der, wiewohl nicht immer zutreffende Gedanke und die von den Angehörigen oft gestützte Auffassung, daß der Arzt sie vor der Strafe bewahren könnte, ihre Bereitwilligkeit zu möglichst guter Auskunft nur zu erhöhen. Zwei sehr verschiedenartige konkrete Beispiele werden am ersten die ungefähre Art meines Verfahrens veranschaulichen. Es ist nur nötig, vorauszuschicken, daß von Fall zu Fall die Einkleidung der Fragen und das ganze Vorgehen der Situation, der Straftat, dem Verständnis und demi Gefühlsleben des Be¬ fragten, mit einer gewissen Diplomatie angepaßt werden mußte. Beispiel I. Ein zwölfeinhalbjähriger, der Hehlerei beschuldigter, vollauf geständiger Knabe, von ungleichmäßig entwickelter Intelligenz, der vor der Ver- Gl-eiizvoten IV 19l1 02

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/497
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/497>, abgerufen am 23.07.2024.