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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die jugendlichen Angeklagte" und ihre sittliche Reife

"Woils sein Eigentum ist."

"Weils dem andern seine Sache ist."

"Weils einem nicht gehört."

"Weil man andre um Hab und Gut bringt."

"Weil mans andre wegstiehlt und nicht mein ist."

"Weil man andre Menschen arm macht."

"Wenn sie alle wollten stehlen, was sollte das werden!"

Eine dritte Gruppe jugendlicher Angeklagter, die etwa den vierten Teil
aller Fälle umfaßt, beruft sich in der Beantwortung der Frage auf ein mehr
oder weniger allgemein formuliertes Gebot, oder Verbot, sei es ein gesetzliches,
religiöses oder moralisches. Die häufigste, Kindern wohl auch Nächstliegende
Art dieser Begründung lautet:

"Weils verVoten ist" oder auch "Es ist verboten" oder "Stehlen ist verboten."

Viel seltener sind die folgenden Formen:

"Es geht gegen Gottes Gebot."

"Weil es Sünde ist."

"Weil das siebente Gebot übertreten wird und es bestraft wird."

"Weil das Gesetz es verbietet."

"Weil es ein Gesetz ist -- und wenn man ein Gesetz übertritt, so wird man bestraft."

"Das verbietet sich schon von selbst."
"

"Weil es ein Verbrechen ist.

Schließlich sei noch eine besondere Antwort erwähnt:

"Es ist 'ne Schande, da wird man eingesponnen."

In dieser dritten Gruppe befinden sich ebenfalls nur ganz vereinzelt geistig
Zurückgebliebene; das vorletzte Beispiel stammt charakteristischerweise von einem
Knaben mit hysterischen Zügen, das letzte von einem schwachsinnigen dreizehn-
einhalbjährigen Mädchen.

Es wäre sicher verfehlt, wenn wir in allen Antworten der beiden letzten
Gruppen ohne weiteres den Ausdruck einer bewußten sittlichen Achtung vor
göttlichen, staatlichen oder moralischen Gesetzen erkennen wollten. Wiewohl die
genauere Nachforschung bei einzelnen eine solche Annahme rechtfertigte, so ergab
es sich doch weit häufiger, daß auch hier, nicht anders wie in der ersten Gruppe,
das Schreckgespenst der Strafe, die Sorge um das eigene Wohl, den eigentlichen
"moralischen" Hintergrund bildet, oder daß doch nur ein blindes, gefühls¬
mäßiges, an sich ja nicht unlöbliches Gehorchen aus den Begründungen spricht.
Bisweilen kann sogar nicht gezweifelt werden, daß es sich lediglich um das
Wiederholen einer gehörten oder eingepaukten Redensart, ohne tieferes Erfassen
des Sinnes, handelte. Denn auch an dieser Stelle müssen wir uns erinnern,
wie sehr die Äußerungen der Prüflinge durch häusliche und anderweitige Vor¬
besprechungen beeinflußt sein können.

Ebenso wäre es freilich voreilig und gewiß nicht immer zutreffend, aus
den stark egozentrischen, grobegoistischen Äußerungen der ersten angeführten
Gruppe schon den Mangel jedes höheren sittlichen Beweggrundes zu folgern.
Was aber beim Überblicken dieses vorläufigen Ergebnisses auffüllig erscheinen


Die jugendlichen Angeklagte» und ihre sittliche Reife

„Woils sein Eigentum ist."

„Weils dem andern seine Sache ist."

„Weils einem nicht gehört."

„Weil man andre um Hab und Gut bringt."

„Weil mans andre wegstiehlt und nicht mein ist."

„Weil man andre Menschen arm macht."

„Wenn sie alle wollten stehlen, was sollte das werden!"

Eine dritte Gruppe jugendlicher Angeklagter, die etwa den vierten Teil
aller Fälle umfaßt, beruft sich in der Beantwortung der Frage auf ein mehr
oder weniger allgemein formuliertes Gebot, oder Verbot, sei es ein gesetzliches,
religiöses oder moralisches. Die häufigste, Kindern wohl auch Nächstliegende
Art dieser Begründung lautet:

„Weils verVoten ist" oder auch „Es ist verboten" oder „Stehlen ist verboten."

Viel seltener sind die folgenden Formen:

„Es geht gegen Gottes Gebot."

„Weil es Sünde ist."

„Weil das siebente Gebot übertreten wird und es bestraft wird."

„Weil das Gesetz es verbietet."

„Weil es ein Gesetz ist — und wenn man ein Gesetz übertritt, so wird man bestraft."

„Das verbietet sich schon von selbst."
"

„Weil es ein Verbrechen ist.

Schließlich sei noch eine besondere Antwort erwähnt:

„Es ist 'ne Schande, da wird man eingesponnen."

In dieser dritten Gruppe befinden sich ebenfalls nur ganz vereinzelt geistig
Zurückgebliebene; das vorletzte Beispiel stammt charakteristischerweise von einem
Knaben mit hysterischen Zügen, das letzte von einem schwachsinnigen dreizehn-
einhalbjährigen Mädchen.

Es wäre sicher verfehlt, wenn wir in allen Antworten der beiden letzten
Gruppen ohne weiteres den Ausdruck einer bewußten sittlichen Achtung vor
göttlichen, staatlichen oder moralischen Gesetzen erkennen wollten. Wiewohl die
genauere Nachforschung bei einzelnen eine solche Annahme rechtfertigte, so ergab
es sich doch weit häufiger, daß auch hier, nicht anders wie in der ersten Gruppe,
das Schreckgespenst der Strafe, die Sorge um das eigene Wohl, den eigentlichen
„moralischen" Hintergrund bildet, oder daß doch nur ein blindes, gefühls¬
mäßiges, an sich ja nicht unlöbliches Gehorchen aus den Begründungen spricht.
Bisweilen kann sogar nicht gezweifelt werden, daß es sich lediglich um das
Wiederholen einer gehörten oder eingepaukten Redensart, ohne tieferes Erfassen
des Sinnes, handelte. Denn auch an dieser Stelle müssen wir uns erinnern,
wie sehr die Äußerungen der Prüflinge durch häusliche und anderweitige Vor¬
besprechungen beeinflußt sein können.

Ebenso wäre es freilich voreilig und gewiß nicht immer zutreffend, aus
den stark egozentrischen, grobegoistischen Äußerungen der ersten angeführten
Gruppe schon den Mangel jedes höheren sittlichen Beweggrundes zu folgern.
Was aber beim Überblicken dieses vorläufigen Ergebnisses auffüllig erscheinen


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[0496] Die jugendlichen Angeklagte» und ihre sittliche Reife „Woils sein Eigentum ist." „Weils dem andern seine Sache ist." „Weils einem nicht gehört." „Weil man andre um Hab und Gut bringt." „Weil mans andre wegstiehlt und nicht mein ist." „Weil man andre Menschen arm macht." „Wenn sie alle wollten stehlen, was sollte das werden!" Eine dritte Gruppe jugendlicher Angeklagter, die etwa den vierten Teil aller Fälle umfaßt, beruft sich in der Beantwortung der Frage auf ein mehr oder weniger allgemein formuliertes Gebot, oder Verbot, sei es ein gesetzliches, religiöses oder moralisches. Die häufigste, Kindern wohl auch Nächstliegende Art dieser Begründung lautet: „Weils verVoten ist" oder auch „Es ist verboten" oder „Stehlen ist verboten." Viel seltener sind die folgenden Formen: „Es geht gegen Gottes Gebot." „Weil es Sünde ist." „Weil das siebente Gebot übertreten wird und es bestraft wird." „Weil das Gesetz es verbietet." „Weil es ein Gesetz ist — und wenn man ein Gesetz übertritt, so wird man bestraft." „Das verbietet sich schon von selbst." " „Weil es ein Verbrechen ist. Schließlich sei noch eine besondere Antwort erwähnt: „Es ist 'ne Schande, da wird man eingesponnen." In dieser dritten Gruppe befinden sich ebenfalls nur ganz vereinzelt geistig Zurückgebliebene; das vorletzte Beispiel stammt charakteristischerweise von einem Knaben mit hysterischen Zügen, das letzte von einem schwachsinnigen dreizehn- einhalbjährigen Mädchen. Es wäre sicher verfehlt, wenn wir in allen Antworten der beiden letzten Gruppen ohne weiteres den Ausdruck einer bewußten sittlichen Achtung vor göttlichen, staatlichen oder moralischen Gesetzen erkennen wollten. Wiewohl die genauere Nachforschung bei einzelnen eine solche Annahme rechtfertigte, so ergab es sich doch weit häufiger, daß auch hier, nicht anders wie in der ersten Gruppe, das Schreckgespenst der Strafe, die Sorge um das eigene Wohl, den eigentlichen „moralischen" Hintergrund bildet, oder daß doch nur ein blindes, gefühls¬ mäßiges, an sich ja nicht unlöbliches Gehorchen aus den Begründungen spricht. Bisweilen kann sogar nicht gezweifelt werden, daß es sich lediglich um das Wiederholen einer gehörten oder eingepaukten Redensart, ohne tieferes Erfassen des Sinnes, handelte. Denn auch an dieser Stelle müssen wir uns erinnern, wie sehr die Äußerungen der Prüflinge durch häusliche und anderweitige Vor¬ besprechungen beeinflußt sein können. Ebenso wäre es freilich voreilig und gewiß nicht immer zutreffend, aus den stark egozentrischen, grobegoistischen Äußerungen der ersten angeführten Gruppe schon den Mangel jedes höheren sittlichen Beweggrundes zu folgern. Was aber beim Überblicken dieses vorläufigen Ergebnisses auffüllig erscheinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/496>, abgerufen am 26.08.2024.