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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

das Material liefern und nicht ohne Grund die Aufmerksamkeit auch der Fern¬
stehenden auf sich lenken.

Ein wesentlich harmloseres Bild erhält man von dem jugendlichen Rechts brecher
-- mag auch der soziale Hintergrund stets ernst genug bleiben --, sobald man die
weit häufigeren Straftaten an sich vorüberziehen läßt, mit denen sich tag¬
täglich die Jugendgerichtsabteilnngen der Schöffengerichte zu beschäftigen
haben. Die Menge der Delikte, die allein vor den Abteilungen des Jugend¬
gerichts Berlin-Mitte, allerdings dem größten Jugendgerichtsforum, zur Ver¬
handlung stehen, beläuft sich auf mehr als siebzehnhundert im Jahre 1910.
Handelt es sich dabei auch in nahezu der Hälfte der Verurteilungen um das gewiß
nicht leicht zu nehmende Vergehen des Diebstahls, so liegen doch den Anklagen
häufig genug einfache, an und für sich die Öffentlichkeit wenig berührende, oft
recht unbedeutende oder gar kleinliche Tatbestände zugrunde. Weder die Anklage-
noch die Strafbehörde vermag nach geltendem Gesetz hierin Wandel zu schaffen.
Mit Recht aber wendet sich Wilhelmine Mohr") an die Bürgerschaft selbst und
klagt in ihrer warmherzigen Schrift, "um welcher Bagatellen willen das Volk
seine Kinder vor Gericht führt." Die sozialen Gründe für die Häufigkeit der
Straftaten im allgemeinen, die Gründe für die vielfach beobachtete "kriminelle
Reizbarkeit"^) des Publikums können an dieser Stelle unerörtert bleiben; sowohl
im neuen "Entwurf einer Strafprozeßordnung" (Z 3K5), wie im "Vorentwurs
zu einem Deutschen Strafgesetzbuch" wird mehrfach dieser Sachlage Rechnung
getragen. Ebenso vermögen wir hier nicht den sozial- und individualpsycho-
logischen Ursachen nachzugehen, die den Diebstahl zur hauptsächlichen Straf¬
handlung der Jugendlichen stempeln. Nur wenige allgemeine Gedanken hierüber
seien vorausgeschickt.

Gerade in dem Vergehen des Diebstahls und in dem hierin nicht zu
trennenden Vergehen der Unterschlagung tritt die Eigenart der Jugendlichen
besonders in Erscheinung, und schon aus diesem Grunde lag es nahe, an
das Diebstahlsdelikt meine psychologische Untersuchung anzuknüpfen. Gerade
hierbei überrascht uns so oft die Impulsivität des Handelns und das geringe
Maß an vorausschauenden Bedenken, gerade hier zeigt sich die leichte Ver-
führbarkeit durch die Gunst des Augenblicks, durch Beispiel oder Kameradschaft,
und schließlich macht sich auch hier der natürliche Optimismus geltend, kraft
dessen die jungen Missetäter wie selbstverständlich auf einen glücklichen Ausgang
ihrer Taten und Streiche, sei er auch noch so unwahrscheinlich, ihre Hoffnung
setzen. Immer wieder begegnet uns bei der Zergliederung eines solchen ein¬
zelnen Falles die tiefgehende Verschiedenarttgkeit der Gedankengänge und Gemüts-




") "Kinder vor Gericht." Berlin XV,, 1909.
Der Psychiater Prof. Ernst Schultze hat diese Verhältnisse in seinem Buche: Die
jugendlichen Verbrecher im gegenwärtigen und zukünftigen Strafrecht (I. F, Bergmann, Wies¬
baden 1910) genauer dargelegt. Von dort habe ich auch den Ausdruck des Kriminalisten
H. Seuffert übernommen.
Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

das Material liefern und nicht ohne Grund die Aufmerksamkeit auch der Fern¬
stehenden auf sich lenken.

Ein wesentlich harmloseres Bild erhält man von dem jugendlichen Rechts brecher
— mag auch der soziale Hintergrund stets ernst genug bleiben —, sobald man die
weit häufigeren Straftaten an sich vorüberziehen läßt, mit denen sich tag¬
täglich die Jugendgerichtsabteilnngen der Schöffengerichte zu beschäftigen
haben. Die Menge der Delikte, die allein vor den Abteilungen des Jugend¬
gerichts Berlin-Mitte, allerdings dem größten Jugendgerichtsforum, zur Ver¬
handlung stehen, beläuft sich auf mehr als siebzehnhundert im Jahre 1910.
Handelt es sich dabei auch in nahezu der Hälfte der Verurteilungen um das gewiß
nicht leicht zu nehmende Vergehen des Diebstahls, so liegen doch den Anklagen
häufig genug einfache, an und für sich die Öffentlichkeit wenig berührende, oft
recht unbedeutende oder gar kleinliche Tatbestände zugrunde. Weder die Anklage-
noch die Strafbehörde vermag nach geltendem Gesetz hierin Wandel zu schaffen.
Mit Recht aber wendet sich Wilhelmine Mohr") an die Bürgerschaft selbst und
klagt in ihrer warmherzigen Schrift, „um welcher Bagatellen willen das Volk
seine Kinder vor Gericht führt." Die sozialen Gründe für die Häufigkeit der
Straftaten im allgemeinen, die Gründe für die vielfach beobachtete „kriminelle
Reizbarkeit"^) des Publikums können an dieser Stelle unerörtert bleiben; sowohl
im neuen „Entwurf einer Strafprozeßordnung" (Z 3K5), wie im „Vorentwurs
zu einem Deutschen Strafgesetzbuch" wird mehrfach dieser Sachlage Rechnung
getragen. Ebenso vermögen wir hier nicht den sozial- und individualpsycho-
logischen Ursachen nachzugehen, die den Diebstahl zur hauptsächlichen Straf¬
handlung der Jugendlichen stempeln. Nur wenige allgemeine Gedanken hierüber
seien vorausgeschickt.

Gerade in dem Vergehen des Diebstahls und in dem hierin nicht zu
trennenden Vergehen der Unterschlagung tritt die Eigenart der Jugendlichen
besonders in Erscheinung, und schon aus diesem Grunde lag es nahe, an
das Diebstahlsdelikt meine psychologische Untersuchung anzuknüpfen. Gerade
hierbei überrascht uns so oft die Impulsivität des Handelns und das geringe
Maß an vorausschauenden Bedenken, gerade hier zeigt sich die leichte Ver-
führbarkeit durch die Gunst des Augenblicks, durch Beispiel oder Kameradschaft,
und schließlich macht sich auch hier der natürliche Optimismus geltend, kraft
dessen die jungen Missetäter wie selbstverständlich auf einen glücklichen Ausgang
ihrer Taten und Streiche, sei er auch noch so unwahrscheinlich, ihre Hoffnung
setzen. Immer wieder begegnet uns bei der Zergliederung eines solchen ein¬
zelnen Falles die tiefgehende Verschiedenarttgkeit der Gedankengänge und Gemüts-




") „Kinder vor Gericht." Berlin XV,, 1909.
Der Psychiater Prof. Ernst Schultze hat diese Verhältnisse in seinem Buche: Die
jugendlichen Verbrecher im gegenwärtigen und zukünftigen Strafrecht (I. F, Bergmann, Wies¬
baden 1910) genauer dargelegt. Von dort habe ich auch den Ausdruck des Kriminalisten
H. Seuffert übernommen.
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[0492] Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife das Material liefern und nicht ohne Grund die Aufmerksamkeit auch der Fern¬ stehenden auf sich lenken. Ein wesentlich harmloseres Bild erhält man von dem jugendlichen Rechts brecher — mag auch der soziale Hintergrund stets ernst genug bleiben —, sobald man die weit häufigeren Straftaten an sich vorüberziehen läßt, mit denen sich tag¬ täglich die Jugendgerichtsabteilnngen der Schöffengerichte zu beschäftigen haben. Die Menge der Delikte, die allein vor den Abteilungen des Jugend¬ gerichts Berlin-Mitte, allerdings dem größten Jugendgerichtsforum, zur Ver¬ handlung stehen, beläuft sich auf mehr als siebzehnhundert im Jahre 1910. Handelt es sich dabei auch in nahezu der Hälfte der Verurteilungen um das gewiß nicht leicht zu nehmende Vergehen des Diebstahls, so liegen doch den Anklagen häufig genug einfache, an und für sich die Öffentlichkeit wenig berührende, oft recht unbedeutende oder gar kleinliche Tatbestände zugrunde. Weder die Anklage- noch die Strafbehörde vermag nach geltendem Gesetz hierin Wandel zu schaffen. Mit Recht aber wendet sich Wilhelmine Mohr") an die Bürgerschaft selbst und klagt in ihrer warmherzigen Schrift, „um welcher Bagatellen willen das Volk seine Kinder vor Gericht führt." Die sozialen Gründe für die Häufigkeit der Straftaten im allgemeinen, die Gründe für die vielfach beobachtete „kriminelle Reizbarkeit"^) des Publikums können an dieser Stelle unerörtert bleiben; sowohl im neuen „Entwurf einer Strafprozeßordnung" (Z 3K5), wie im „Vorentwurs zu einem Deutschen Strafgesetzbuch" wird mehrfach dieser Sachlage Rechnung getragen. Ebenso vermögen wir hier nicht den sozial- und individualpsycho- logischen Ursachen nachzugehen, die den Diebstahl zur hauptsächlichen Straf¬ handlung der Jugendlichen stempeln. Nur wenige allgemeine Gedanken hierüber seien vorausgeschickt. Gerade in dem Vergehen des Diebstahls und in dem hierin nicht zu trennenden Vergehen der Unterschlagung tritt die Eigenart der Jugendlichen besonders in Erscheinung, und schon aus diesem Grunde lag es nahe, an das Diebstahlsdelikt meine psychologische Untersuchung anzuknüpfen. Gerade hierbei überrascht uns so oft die Impulsivität des Handelns und das geringe Maß an vorausschauenden Bedenken, gerade hier zeigt sich die leichte Ver- führbarkeit durch die Gunst des Augenblicks, durch Beispiel oder Kameradschaft, und schließlich macht sich auch hier der natürliche Optimismus geltend, kraft dessen die jungen Missetäter wie selbstverständlich auf einen glücklichen Ausgang ihrer Taten und Streiche, sei er auch noch so unwahrscheinlich, ihre Hoffnung setzen. Immer wieder begegnet uns bei der Zergliederung eines solchen ein¬ zelnen Falles die tiefgehende Verschiedenarttgkeit der Gedankengänge und Gemüts- ") „Kinder vor Gericht." Berlin XV,, 1909. Der Psychiater Prof. Ernst Schultze hat diese Verhältnisse in seinem Buche: Die jugendlichen Verbrecher im gegenwärtigen und zukünftigen Strafrecht (I. F, Bergmann, Wies¬ baden 1910) genauer dargelegt. Von dort habe ich auch den Ausdruck des Kriminalisten H. Seuffert übernommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/492>, abgerufen am 26.08.2024.