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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

war, führte uns Herr Li in seine prachtvolle Bibliothek, die in einem anderen,
auf der gegenüberliegenden Seite der Straße gelegenen Hause untergebracht ist.
Schließlich verabschiedeten wir uns, um noch einige Tempel zu besichtigen,
darunter den berühmten Tempel der fünfhundert Lohans, in dem fünfhundert
lebensgroße vergoldete Statuen dieser buddhistischen Patriarchen aufgestellt sind.
Einer von ihnen soll ein Bildnis des Marco Polo sein.

Schließlich ließen wir uns in das Berliner Missionshaus tragen, wo Herr
Li uns bereits in einem schönen Gewände aus weißem Atlas erwartete. Die
Gäste waren außer dem Missionar K. und seiner Frau, die für diesen
Zweck ihre Wohnung hergegeben hatten, die Missionare Z. und N., ersterer
mit Frau, Ao, Pastor Li, der Redakteur der erwähnten chinesischen Zeitschrift,
die unter der Ägide unseres Gastgebers erscheinen soll (natürlich ein Chinese,
sehr intelligent, den Namen habe ich nicht behalten), und ein chinesischer Missions¬
lehrer. Das Diner war eine vermehrte und verbesserte Auflage des vorigen.
Es gab u. a. noch Bogelnestersuppe, Lotoskerne und Bambusschößliuge, die sehr
zart schmeckten. Ich bemerkte dabei, daß der Bambus auf der Zunge leichter
zu ertragen sei als auf dem Rücken -- ein Kalauer, der von den Chinesen sehr
goutiert wurde. Gegen 8 Uhr brach man auf, und unser freundlicher Gastgeber
brachte uns in seinem reizend eingerichteten Boote ins Hotel zurück, wo die vier
Herren (der Gastgeber Li, der Pastor Li, der Redakteur und Ao) noch eine
Tasse Tee mit uns tranken. Das war der gemütlichste Teil des Abends, denn
nun brauchte man nicht mehr im Schweiße seines Angesichts mit Eßstäbchen zu
turnen und konnte sich in zwangloser Unterhaltung über allerlei, meist wissen¬
schaftliche, Fragen aussprechen. . . .

(Frühere "Briefe aus China" sind in den Heften 46, 46, 47 erschienen.
Weitere Briefe werden folgen. Die Schristltg.)




^le jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife
von Dr. mea. Max Levy-Sust

^le Tagespresse, genötigt, die unbedeutenden, typisch sich wieder¬
holenden Ereignisse aus ihrem Stoffe auszuschalten, hat in weiten
Kreisen die Meinung aufkommen lassen, als ob es sich bei jugend¬
lichen Angeklagten meist um früh verdorbene, besonders dreiste
-oder raffinierte Individuen handele, die mit ihren verbrecherischen
Unternehmungen eine Gefahr für die Öffentlichkeit bildeten. In Wirklichkeit sind
^ fast nur jene seltenen, vor den Strafkammern zur Aburteilung gelangenden
Taten einzelner besonders gearteter Jugendlichen oder auch wohl einer unter
solcher Führerschaft entstandenen Bande, welche zu den aufsehenerregenden Berichten


Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

war, führte uns Herr Li in seine prachtvolle Bibliothek, die in einem anderen,
auf der gegenüberliegenden Seite der Straße gelegenen Hause untergebracht ist.
Schließlich verabschiedeten wir uns, um noch einige Tempel zu besichtigen,
darunter den berühmten Tempel der fünfhundert Lohans, in dem fünfhundert
lebensgroße vergoldete Statuen dieser buddhistischen Patriarchen aufgestellt sind.
Einer von ihnen soll ein Bildnis des Marco Polo sein.

Schließlich ließen wir uns in das Berliner Missionshaus tragen, wo Herr
Li uns bereits in einem schönen Gewände aus weißem Atlas erwartete. Die
Gäste waren außer dem Missionar K. und seiner Frau, die für diesen
Zweck ihre Wohnung hergegeben hatten, die Missionare Z. und N., ersterer
mit Frau, Ao, Pastor Li, der Redakteur der erwähnten chinesischen Zeitschrift,
die unter der Ägide unseres Gastgebers erscheinen soll (natürlich ein Chinese,
sehr intelligent, den Namen habe ich nicht behalten), und ein chinesischer Missions¬
lehrer. Das Diner war eine vermehrte und verbesserte Auflage des vorigen.
Es gab u. a. noch Bogelnestersuppe, Lotoskerne und Bambusschößliuge, die sehr
zart schmeckten. Ich bemerkte dabei, daß der Bambus auf der Zunge leichter
zu ertragen sei als auf dem Rücken — ein Kalauer, der von den Chinesen sehr
goutiert wurde. Gegen 8 Uhr brach man auf, und unser freundlicher Gastgeber
brachte uns in seinem reizend eingerichteten Boote ins Hotel zurück, wo die vier
Herren (der Gastgeber Li, der Pastor Li, der Redakteur und Ao) noch eine
Tasse Tee mit uns tranken. Das war der gemütlichste Teil des Abends, denn
nun brauchte man nicht mehr im Schweiße seines Angesichts mit Eßstäbchen zu
turnen und konnte sich in zwangloser Unterhaltung über allerlei, meist wissen¬
schaftliche, Fragen aussprechen. . . .

(Frühere „Briefe aus China" sind in den Heften 46, 46, 47 erschienen.
Weitere Briefe werden folgen. Die Schristltg.)




^le jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife
von Dr. mea. Max Levy-Sust

^le Tagespresse, genötigt, die unbedeutenden, typisch sich wieder¬
holenden Ereignisse aus ihrem Stoffe auszuschalten, hat in weiten
Kreisen die Meinung aufkommen lassen, als ob es sich bei jugend¬
lichen Angeklagten meist um früh verdorbene, besonders dreiste
-oder raffinierte Individuen handele, die mit ihren verbrecherischen
Unternehmungen eine Gefahr für die Öffentlichkeit bildeten. In Wirklichkeit sind
^ fast nur jene seltenen, vor den Strafkammern zur Aburteilung gelangenden
Taten einzelner besonders gearteter Jugendlichen oder auch wohl einer unter
solcher Führerschaft entstandenen Bande, welche zu den aufsehenerregenden Berichten


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[0491] Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife war, führte uns Herr Li in seine prachtvolle Bibliothek, die in einem anderen, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße gelegenen Hause untergebracht ist. Schließlich verabschiedeten wir uns, um noch einige Tempel zu besichtigen, darunter den berühmten Tempel der fünfhundert Lohans, in dem fünfhundert lebensgroße vergoldete Statuen dieser buddhistischen Patriarchen aufgestellt sind. Einer von ihnen soll ein Bildnis des Marco Polo sein. Schließlich ließen wir uns in das Berliner Missionshaus tragen, wo Herr Li uns bereits in einem schönen Gewände aus weißem Atlas erwartete. Die Gäste waren außer dem Missionar K. und seiner Frau, die für diesen Zweck ihre Wohnung hergegeben hatten, die Missionare Z. und N., ersterer mit Frau, Ao, Pastor Li, der Redakteur der erwähnten chinesischen Zeitschrift, die unter der Ägide unseres Gastgebers erscheinen soll (natürlich ein Chinese, sehr intelligent, den Namen habe ich nicht behalten), und ein chinesischer Missions¬ lehrer. Das Diner war eine vermehrte und verbesserte Auflage des vorigen. Es gab u. a. noch Bogelnestersuppe, Lotoskerne und Bambusschößliuge, die sehr zart schmeckten. Ich bemerkte dabei, daß der Bambus auf der Zunge leichter zu ertragen sei als auf dem Rücken — ein Kalauer, der von den Chinesen sehr goutiert wurde. Gegen 8 Uhr brach man auf, und unser freundlicher Gastgeber brachte uns in seinem reizend eingerichteten Boote ins Hotel zurück, wo die vier Herren (der Gastgeber Li, der Pastor Li, der Redakteur und Ao) noch eine Tasse Tee mit uns tranken. Das war der gemütlichste Teil des Abends, denn nun brauchte man nicht mehr im Schweiße seines Angesichts mit Eßstäbchen zu turnen und konnte sich in zwangloser Unterhaltung über allerlei, meist wissen¬ schaftliche, Fragen aussprechen. . . . (Frühere „Briefe aus China" sind in den Heften 46, 46, 47 erschienen. Weitere Briefe werden folgen. Die Schristltg.) ^le jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife von Dr. mea. Max Levy-Sust ^le Tagespresse, genötigt, die unbedeutenden, typisch sich wieder¬ holenden Ereignisse aus ihrem Stoffe auszuschalten, hat in weiten Kreisen die Meinung aufkommen lassen, als ob es sich bei jugend¬ lichen Angeklagten meist um früh verdorbene, besonders dreiste -oder raffinierte Individuen handele, die mit ihren verbrecherischen Unternehmungen eine Gefahr für die Öffentlichkeit bildeten. In Wirklichkeit sind ^ fast nur jene seltenen, vor den Strafkammern zur Aburteilung gelangenden Taten einzelner besonders gearteter Jugendlichen oder auch wohl einer unter solcher Führerschaft entstandenen Bande, welche zu den aufsehenerregenden Berichten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/491>, abgerufen am 23.07.2024.