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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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die recht gut deutsch spricht. Sie machten uns tags darauf einen Besuch und
luden uns zu gestern (Sonntag) Mittag ein.

Am Donnerstag Vormittag besichtigten wir den Tempel des Pät-tai (des
Gottes des Polarsterns) und das Gildenhaus der Swatauer Kaufleute, zwei
herrliche Gebäude, mit so herrlichem Schmtzwerk, wie ich noch nie und nirgends
etwas ähnliches gesehen habe. Von da besuchten wir den berühmten Hinrichtungs¬
platz, wo so viele Hinrichtungen vollzogen worden sind und noch vollzogen werden,
daß er vielleicht in der ganzen Welt keinen Rivalen hat. Für gewöhnlich sind
dort Töpfer bei der Arbeit, die ihre Waren nur beiseite zu rücken brauchen, so oft
dort eine Exekution stattfindet. Wir hatten die Freude, den Herrn Scharf¬
gerichtsrat oder Henker kennen zu lernen, einen jovial dreinblickenden, behäbigen
Mann, dem ich zu verstehen gab, daß ich seine Dienste fürs erste noch nicht
in Anspruch nehmen wolle. Er prüfte meinen Nacken kritisch und lächelte dabei
verständnisinnig.

Nachdem wir dem Richtbeil auf diese Weise glücklich entronnen waren,
ließen wir uns nach der geistigen Richtstätte tragen, nach der großen Examinations-
halle, wo alle drei Jahre die zweite der drei großen Staatsprüfungen abgehalten
wird. Die zwölftausend Zellen, in denen die unglücklichen Kandidaten ihre
Klausurarbeiten zu machen haben, sind in parallellaufenden Reihen untergebracht.
Jede Zelle ist ungefähr 1^/2 Meter tief und 1 Meter breit und nach vorn offen,
auf einen schmalen Gang mündend, der die eine Reihe von der anderen trennt.
Die ganze Ausstattung besteht aus einem Sitzbrete und einem Schreibbrett,
beide von Wand zu Wand gehend, so daß der schwergeprüfte sich buchstäblich
nicht rühren kann. Das Brett vor dein Kopfe wird, falls nicht vorhanden,
symbolisch durch die Mauer ersetzt, die zugleich die Rückwand der vorderen
Zellenreihe bildet.

Am Nachmittag holte uns Ao zu einem Spaziergang durch die Stadt ab
und führte uns u. n. zu einem seiner Freunde, der dort als Porträtmaler und
Photograph tätig ist. In seiner ersteren Eigenschaft leistet er so hervorragendes,
daß ich nur gern eine Reihe feiner Porträtköpfe gekauft hätte. Leider waren
sie jedoch nicht käuflich, aber Herr Li, so heißt der Künstler, war so freundlich,
mir einen davon zu schenken. Darauf bewirtete er uns mit Tee, und schließlich
ließen wir uns zu dritt photographieren, wofür er erst uach langem Zureden
meinerseits Bezahlung annahm. Er ist ein prächtiger alter Mann mit einem
Charakterkopf und drei Frauen und -- notabene -- Christ dabei. Dieprotestantischen
Missionare drücken nämlich in diesem Punkte bisweilen ein Auge zu, um einen
"mehrfach verheirateten" Mann nicht in die Lage zu bringen, seine Frauen
auszustoßen, um Christ zu werden. Man mag darüber denken wie man will.
Die Katholiken lassen unter keiner Bedingung Polygamie zu. Welches Verfahren
das richtigere ist, darüber läßt sich, wie gesagt, streiten.

Zu 7 Uhr hatte uns Ao auf ein sogenanntes Blumenboot gebeten, wo er
uns mit einem opulenten chinesischen Diner regalierte und an dem sich noch drei


die recht gut deutsch spricht. Sie machten uns tags darauf einen Besuch und
luden uns zu gestern (Sonntag) Mittag ein.

Am Donnerstag Vormittag besichtigten wir den Tempel des Pät-tai (des
Gottes des Polarsterns) und das Gildenhaus der Swatauer Kaufleute, zwei
herrliche Gebäude, mit so herrlichem Schmtzwerk, wie ich noch nie und nirgends
etwas ähnliches gesehen habe. Von da besuchten wir den berühmten Hinrichtungs¬
platz, wo so viele Hinrichtungen vollzogen worden sind und noch vollzogen werden,
daß er vielleicht in der ganzen Welt keinen Rivalen hat. Für gewöhnlich sind
dort Töpfer bei der Arbeit, die ihre Waren nur beiseite zu rücken brauchen, so oft
dort eine Exekution stattfindet. Wir hatten die Freude, den Herrn Scharf¬
gerichtsrat oder Henker kennen zu lernen, einen jovial dreinblickenden, behäbigen
Mann, dem ich zu verstehen gab, daß ich seine Dienste fürs erste noch nicht
in Anspruch nehmen wolle. Er prüfte meinen Nacken kritisch und lächelte dabei
verständnisinnig.

Nachdem wir dem Richtbeil auf diese Weise glücklich entronnen waren,
ließen wir uns nach der geistigen Richtstätte tragen, nach der großen Examinations-
halle, wo alle drei Jahre die zweite der drei großen Staatsprüfungen abgehalten
wird. Die zwölftausend Zellen, in denen die unglücklichen Kandidaten ihre
Klausurarbeiten zu machen haben, sind in parallellaufenden Reihen untergebracht.
Jede Zelle ist ungefähr 1^/2 Meter tief und 1 Meter breit und nach vorn offen,
auf einen schmalen Gang mündend, der die eine Reihe von der anderen trennt.
Die ganze Ausstattung besteht aus einem Sitzbrete und einem Schreibbrett,
beide von Wand zu Wand gehend, so daß der schwergeprüfte sich buchstäblich
nicht rühren kann. Das Brett vor dein Kopfe wird, falls nicht vorhanden,
symbolisch durch die Mauer ersetzt, die zugleich die Rückwand der vorderen
Zellenreihe bildet.

Am Nachmittag holte uns Ao zu einem Spaziergang durch die Stadt ab
und führte uns u. n. zu einem seiner Freunde, der dort als Porträtmaler und
Photograph tätig ist. In seiner ersteren Eigenschaft leistet er so hervorragendes,
daß ich nur gern eine Reihe feiner Porträtköpfe gekauft hätte. Leider waren
sie jedoch nicht käuflich, aber Herr Li, so heißt der Künstler, war so freundlich,
mir einen davon zu schenken. Darauf bewirtete er uns mit Tee, und schließlich
ließen wir uns zu dritt photographieren, wofür er erst uach langem Zureden
meinerseits Bezahlung annahm. Er ist ein prächtiger alter Mann mit einem
Charakterkopf und drei Frauen und — notabene — Christ dabei. Dieprotestantischen
Missionare drücken nämlich in diesem Punkte bisweilen ein Auge zu, um einen
„mehrfach verheirateten" Mann nicht in die Lage zu bringen, seine Frauen
auszustoßen, um Christ zu werden. Man mag darüber denken wie man will.
Die Katholiken lassen unter keiner Bedingung Polygamie zu. Welches Verfahren
das richtigere ist, darüber läßt sich, wie gesagt, streiten.

Zu 7 Uhr hatte uns Ao auf ein sogenanntes Blumenboot gebeten, wo er
uns mit einem opulenten chinesischen Diner regalierte und an dem sich noch drei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/488>, abgerufen am 23.07.2024.