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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe ans Lhina

wissen. Der Teil der Bevölkerung, der ganz auf Booten auf dem Flusse lebt,
wird auf etwa dreihundertausend Seelen geschätzt. Die Männer sind meist als
Kukis in der Stadt beschäftigt.

Der Konsul K., Schwiegersohn von Jul. Eckardt, ist uoch nicht aus
Japan zurück und wird einstweilen durch seinen Dolmetscher Herrn L. ver¬
treten, dem wir also gleich unseren Besuch machten, ohne ihn jedoch zu treffen.
Nach Hause zurückgekehrt, empfingen wir den Besuch des Herrn P., eines noch
sehr jugendlichen Herrn, der mich in seinem Äußeren sehr an Adolphs Georges
erinnert. Er war so liebenswürdig, uns gleich zu demselben Tage zu sich zu
bitten. Dann unternahmen wir einen höchst interessanten Ausflug in die Stadt,
von dessen Eindrücken wir ganz berauscht zurückkamen. Für den nächsten Tag
erbot sich Herr L. eine größere Rundtour durch die Stadt mit uns zu unter¬
nehmen, aus der jedoch nichts wurde, weil Ao sich freudestrahlend am nächsten
Morgen einstellte: er hatte den erbetenen Urlaub von drei Tagen erhalten. So
machten wir mit Herrn L. nur eine kleine Ausfahrt uach dem nahegelegenen
buddhistischen Kloster Hai-chuang-sse. Von dort zurückgekehrt, wurden wir von
Herrn Ao und einem chinesischen Lehrer abgeholt, um das Kwang-pa-puer zu
besichtigen. Es ist dies eine Art freier Hochschule, die von dem ehemaligen
Vizekönig Chang Chi-t'ung, einem der größten Gelehrten Chinas, vor einigen
Jahren gegründet worden ist, um jungen Gelehrten, die die erste der drei
Staatsprüfungen bestanden haben, die Möglichkeit zu gewähren, kostenfrei ihre
Studien fortzusetzen. Das großartige Institut besteht aus einer ganzen Anzahl
von schönen Gebäuden, die in einer prächtigen Parkanlage in chinesischem Ge¬
schmack verstreut liegen und einen ungeheuren Flüchenraum einnehmen. Da
ist u. a. eine große nach vorn offene Halle, wo die Vorträge gehalten werden,
die sich übrigens ausschließlich auf Geschichte und Literatur Chinas beziehen.
Ein anderes großes Gebäude enthält die ungemein reiche Bibliothek, die den
Studierenden ganz zur Verfügung gestellt ist. Als die dort arbeitenden Studenten
sahen, daß ich etwas von der Sache verstehe, kamen sie herbei und zeigten mir
mit dem freundlichsten Entgegenkommen all' die Schätze, die hier aufgespeichert
sind. Die Professoren leben ganz in dem Institut, desgleichen ist da ein
ganzer Gebäudekomplex, der die Wohnräume der ungefähr zweihundert Stu¬
dierenden enthält. Jeder der jungen Leute bewohnt einen hohen luftigen Raum,
der einfach, aber doch mit allem Erforderlichen ausgestattet ist. An das Arbeits¬
zimmer schließt sich hinten ein alkovenartiges Schlafgemach an. Wir besuchten
einen Studenten in seiner "Bude", die einen sehr sauberen und netten Eindruck
machte und jedem deutscheu Musensöhne alle Ehre machen würde.

Am Abend dieses Tages (Mittwoch, den 10.) waren wir bei L. zu Tische,
wo wir u. a. den Inhaber der bedeutendsten deutschen Firma in Canton, Herrn B.,
einen Verwandten von Se. und B., kennen lernten. Er gehört zu den sehr
wenigen deutschen Kaufleuten in China, die Interesse und Verständnis für das
Land, in dem sie leben, haben. Seine Frau ist eine reizende junge Amerikanerin,


Briefe ans Lhina

wissen. Der Teil der Bevölkerung, der ganz auf Booten auf dem Flusse lebt,
wird auf etwa dreihundertausend Seelen geschätzt. Die Männer sind meist als
Kukis in der Stadt beschäftigt.

Der Konsul K., Schwiegersohn von Jul. Eckardt, ist uoch nicht aus
Japan zurück und wird einstweilen durch seinen Dolmetscher Herrn L. ver¬
treten, dem wir also gleich unseren Besuch machten, ohne ihn jedoch zu treffen.
Nach Hause zurückgekehrt, empfingen wir den Besuch des Herrn P., eines noch
sehr jugendlichen Herrn, der mich in seinem Äußeren sehr an Adolphs Georges
erinnert. Er war so liebenswürdig, uns gleich zu demselben Tage zu sich zu
bitten. Dann unternahmen wir einen höchst interessanten Ausflug in die Stadt,
von dessen Eindrücken wir ganz berauscht zurückkamen. Für den nächsten Tag
erbot sich Herr L. eine größere Rundtour durch die Stadt mit uns zu unter¬
nehmen, aus der jedoch nichts wurde, weil Ao sich freudestrahlend am nächsten
Morgen einstellte: er hatte den erbetenen Urlaub von drei Tagen erhalten. So
machten wir mit Herrn L. nur eine kleine Ausfahrt uach dem nahegelegenen
buddhistischen Kloster Hai-chuang-sse. Von dort zurückgekehrt, wurden wir von
Herrn Ao und einem chinesischen Lehrer abgeholt, um das Kwang-pa-puer zu
besichtigen. Es ist dies eine Art freier Hochschule, die von dem ehemaligen
Vizekönig Chang Chi-t'ung, einem der größten Gelehrten Chinas, vor einigen
Jahren gegründet worden ist, um jungen Gelehrten, die die erste der drei
Staatsprüfungen bestanden haben, die Möglichkeit zu gewähren, kostenfrei ihre
Studien fortzusetzen. Das großartige Institut besteht aus einer ganzen Anzahl
von schönen Gebäuden, die in einer prächtigen Parkanlage in chinesischem Ge¬
schmack verstreut liegen und einen ungeheuren Flüchenraum einnehmen. Da
ist u. a. eine große nach vorn offene Halle, wo die Vorträge gehalten werden,
die sich übrigens ausschließlich auf Geschichte und Literatur Chinas beziehen.
Ein anderes großes Gebäude enthält die ungemein reiche Bibliothek, die den
Studierenden ganz zur Verfügung gestellt ist. Als die dort arbeitenden Studenten
sahen, daß ich etwas von der Sache verstehe, kamen sie herbei und zeigten mir
mit dem freundlichsten Entgegenkommen all' die Schätze, die hier aufgespeichert
sind. Die Professoren leben ganz in dem Institut, desgleichen ist da ein
ganzer Gebäudekomplex, der die Wohnräume der ungefähr zweihundert Stu¬
dierenden enthält. Jeder der jungen Leute bewohnt einen hohen luftigen Raum,
der einfach, aber doch mit allem Erforderlichen ausgestattet ist. An das Arbeits¬
zimmer schließt sich hinten ein alkovenartiges Schlafgemach an. Wir besuchten
einen Studenten in seiner „Bude", die einen sehr sauberen und netten Eindruck
machte und jedem deutscheu Musensöhne alle Ehre machen würde.

Am Abend dieses Tages (Mittwoch, den 10.) waren wir bei L. zu Tische,
wo wir u. a. den Inhaber der bedeutendsten deutschen Firma in Canton, Herrn B.,
einen Verwandten von Se. und B., kennen lernten. Er gehört zu den sehr
wenigen deutschen Kaufleuten in China, die Interesse und Verständnis für das
Land, in dem sie leben, haben. Seine Frau ist eine reizende junge Amerikanerin,


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[0487] Briefe ans Lhina wissen. Der Teil der Bevölkerung, der ganz auf Booten auf dem Flusse lebt, wird auf etwa dreihundertausend Seelen geschätzt. Die Männer sind meist als Kukis in der Stadt beschäftigt. Der Konsul K., Schwiegersohn von Jul. Eckardt, ist uoch nicht aus Japan zurück und wird einstweilen durch seinen Dolmetscher Herrn L. ver¬ treten, dem wir also gleich unseren Besuch machten, ohne ihn jedoch zu treffen. Nach Hause zurückgekehrt, empfingen wir den Besuch des Herrn P., eines noch sehr jugendlichen Herrn, der mich in seinem Äußeren sehr an Adolphs Georges erinnert. Er war so liebenswürdig, uns gleich zu demselben Tage zu sich zu bitten. Dann unternahmen wir einen höchst interessanten Ausflug in die Stadt, von dessen Eindrücken wir ganz berauscht zurückkamen. Für den nächsten Tag erbot sich Herr L. eine größere Rundtour durch die Stadt mit uns zu unter¬ nehmen, aus der jedoch nichts wurde, weil Ao sich freudestrahlend am nächsten Morgen einstellte: er hatte den erbetenen Urlaub von drei Tagen erhalten. So machten wir mit Herrn L. nur eine kleine Ausfahrt uach dem nahegelegenen buddhistischen Kloster Hai-chuang-sse. Von dort zurückgekehrt, wurden wir von Herrn Ao und einem chinesischen Lehrer abgeholt, um das Kwang-pa-puer zu besichtigen. Es ist dies eine Art freier Hochschule, die von dem ehemaligen Vizekönig Chang Chi-t'ung, einem der größten Gelehrten Chinas, vor einigen Jahren gegründet worden ist, um jungen Gelehrten, die die erste der drei Staatsprüfungen bestanden haben, die Möglichkeit zu gewähren, kostenfrei ihre Studien fortzusetzen. Das großartige Institut besteht aus einer ganzen Anzahl von schönen Gebäuden, die in einer prächtigen Parkanlage in chinesischem Ge¬ schmack verstreut liegen und einen ungeheuren Flüchenraum einnehmen. Da ist u. a. eine große nach vorn offene Halle, wo die Vorträge gehalten werden, die sich übrigens ausschließlich auf Geschichte und Literatur Chinas beziehen. Ein anderes großes Gebäude enthält die ungemein reiche Bibliothek, die den Studierenden ganz zur Verfügung gestellt ist. Als die dort arbeitenden Studenten sahen, daß ich etwas von der Sache verstehe, kamen sie herbei und zeigten mir mit dem freundlichsten Entgegenkommen all' die Schätze, die hier aufgespeichert sind. Die Professoren leben ganz in dem Institut, desgleichen ist da ein ganzer Gebäudekomplex, der die Wohnräume der ungefähr zweihundert Stu¬ dierenden enthält. Jeder der jungen Leute bewohnt einen hohen luftigen Raum, der einfach, aber doch mit allem Erforderlichen ausgestattet ist. An das Arbeits¬ zimmer schließt sich hinten ein alkovenartiges Schlafgemach an. Wir besuchten einen Studenten in seiner „Bude", die einen sehr sauberen und netten Eindruck machte und jedem deutscheu Musensöhne alle Ehre machen würde. Am Abend dieses Tages (Mittwoch, den 10.) waren wir bei L. zu Tische, wo wir u. a. den Inhaber der bedeutendsten deutschen Firma in Canton, Herrn B., einen Verwandten von Se. und B., kennen lernten. Er gehört zu den sehr wenigen deutschen Kaufleuten in China, die Interesse und Verständnis für das Land, in dem sie leben, haben. Seine Frau ist eine reizende junge Amerikanerin,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/487>, abgerufen am 23.07.2024.