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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Religionsfreiheit und Airchenreform

Wie anders in England! Daß in England das Christentum Volksreligion
ist, viel tiefer greifend als bei uns, das sollte niemand wegdispntieren. Und
doch wachsen in England die Kinder heran, ohne jeden Zwang zur Teilnahme
am Religionsunterricht und zur Konfirmation, nimmt niemand Anstoß an Be¬
gräbnissen ohne geistliches Geleit, gibt es keine Kontrolle der Trauung (sie ist
bei den dortigen Verhältnissen geradezu unmöglich). Dort sind Taufe, Konfir¬
mation, Trauung, was sie eigentlich sein sollen, religiöse Handlungen, die der
nachsucht, der danach verlangt, deren Wirkung sich darauf beschränkt, dem Herzen
und Gemüt etwas mitzugeben. Bei uns ist das alles verrechtlicht, es sind
schwerwiegende Staats- und kirchenrcchtliche Folgen daran geknüpft. Schon die
zopfige Beurkundung erweckt den Schein, als ob diese Handlung noch etwas
anderes bezweckte, wie eine religiöse Wirkung, als ob ein öffentlicher Akt vollzogen
werden sollte, der seinen Wert auch dann hat, wenn die Seele dabei bis zum
Grunde kalt und gleichgültig geblieben ist.

Ich führe aus einen: tüchtigen modernen "Kirchenrecht" ein paar Sätze an,
um dies zu belegen: "Als ordentliche Bestandteile des Taufaktes sind in den
Agenten regelmäßig vorgesehen: (Folgen die einzelnen Stücke.) . . . Wesentlich
sind von diesen einzelnen Handlungen, so daß, wenn sie fehlen oder unvollkommen
vollzogen werden, eine Taufe überhaupt nicht vorliegt, aber nur zwei: das
Begießen des Täuflings mit Wasser und das Aussprechen der trinitarischen Tauf¬
formel bei dieser Handlung; alle übrigen sind für dogmatische Bedeutung und
rechtliche Gültigkeit des Taufaktes unwesentlich." Dazu die Anmerkung: "Wesentlich
ist nur die Nennung der drei Personen der Trinität in einer Verbindung, die
auf ihre Einheit hindeutet, und die Erklärung, daß es sich um einen Taufakt
handelt. Also eine gültige Taufe würde auch vollzogen werden mit den Worten:
N. N., ich erteile dir die Taufe im Namen des Vaters, des Sohnes, des heiligen
Geistes. ... Ob der Taufende an die Trinität glaubt oder nicht, ist irrelevant.
Es ist nach evangelischer Auffassung überhaupt gleichgültig, was der tausende
Geistliche mit der Vollziehung der Taufe bezweckt, indem nach evangelischer
Auffassung die Kraft des Sakraments lediglich davon abhängt, daß es der Ein¬
setzung Christi gemäß verwaltet wird. Diesem Erfordernis ist aber genügt, wenn
der Geistliche das Sakrament in der von der Kirche vorgeschriebenen Form
spendet, denn indem er als Organ der Kirche in dieser Form handelt, wird
durch seine Handlung stets der Erfolg herbeigeführt, den die Kirche durch sie
herbeigeführt wissen will." Oder: "Die Trauung ist Anerkennung der Ehe¬
schließung als einer christlichen durch die Kirche oder, was dasselbe bedeutet,
kirchliche Legitimation der Ehe. Die Nachsuchung der Trauung ist eine kirchliche
Pflicht, die jeder Angehörige der Kirche, der eine Ehe schließt, wie jede andere
Rechtspflicht ohne Rücksicht auf sein religiöses Bedürfnis zu erfüllen hat." Und
diesen Theorien entspricht die Praxis. Hat doch der Senat der Freien Stadt
Bremen die Taufen eines Pastors ohne trinitarische Formel für ungültig erklärt,
die Württembergische Kirchenregierung die Eintragung der Taufe eines Kindes


Religionsfreiheit und Airchenreform

Wie anders in England! Daß in England das Christentum Volksreligion
ist, viel tiefer greifend als bei uns, das sollte niemand wegdispntieren. Und
doch wachsen in England die Kinder heran, ohne jeden Zwang zur Teilnahme
am Religionsunterricht und zur Konfirmation, nimmt niemand Anstoß an Be¬
gräbnissen ohne geistliches Geleit, gibt es keine Kontrolle der Trauung (sie ist
bei den dortigen Verhältnissen geradezu unmöglich). Dort sind Taufe, Konfir¬
mation, Trauung, was sie eigentlich sein sollen, religiöse Handlungen, die der
nachsucht, der danach verlangt, deren Wirkung sich darauf beschränkt, dem Herzen
und Gemüt etwas mitzugeben. Bei uns ist das alles verrechtlicht, es sind
schwerwiegende Staats- und kirchenrcchtliche Folgen daran geknüpft. Schon die
zopfige Beurkundung erweckt den Schein, als ob diese Handlung noch etwas
anderes bezweckte, wie eine religiöse Wirkung, als ob ein öffentlicher Akt vollzogen
werden sollte, der seinen Wert auch dann hat, wenn die Seele dabei bis zum
Grunde kalt und gleichgültig geblieben ist.

Ich führe aus einen: tüchtigen modernen „Kirchenrecht" ein paar Sätze an,
um dies zu belegen: „Als ordentliche Bestandteile des Taufaktes sind in den
Agenten regelmäßig vorgesehen: (Folgen die einzelnen Stücke.) . . . Wesentlich
sind von diesen einzelnen Handlungen, so daß, wenn sie fehlen oder unvollkommen
vollzogen werden, eine Taufe überhaupt nicht vorliegt, aber nur zwei: das
Begießen des Täuflings mit Wasser und das Aussprechen der trinitarischen Tauf¬
formel bei dieser Handlung; alle übrigen sind für dogmatische Bedeutung und
rechtliche Gültigkeit des Taufaktes unwesentlich." Dazu die Anmerkung: „Wesentlich
ist nur die Nennung der drei Personen der Trinität in einer Verbindung, die
auf ihre Einheit hindeutet, und die Erklärung, daß es sich um einen Taufakt
handelt. Also eine gültige Taufe würde auch vollzogen werden mit den Worten:
N. N., ich erteile dir die Taufe im Namen des Vaters, des Sohnes, des heiligen
Geistes. ... Ob der Taufende an die Trinität glaubt oder nicht, ist irrelevant.
Es ist nach evangelischer Auffassung überhaupt gleichgültig, was der tausende
Geistliche mit der Vollziehung der Taufe bezweckt, indem nach evangelischer
Auffassung die Kraft des Sakraments lediglich davon abhängt, daß es der Ein¬
setzung Christi gemäß verwaltet wird. Diesem Erfordernis ist aber genügt, wenn
der Geistliche das Sakrament in der von der Kirche vorgeschriebenen Form
spendet, denn indem er als Organ der Kirche in dieser Form handelt, wird
durch seine Handlung stets der Erfolg herbeigeführt, den die Kirche durch sie
herbeigeführt wissen will." Oder: „Die Trauung ist Anerkennung der Ehe¬
schließung als einer christlichen durch die Kirche oder, was dasselbe bedeutet,
kirchliche Legitimation der Ehe. Die Nachsuchung der Trauung ist eine kirchliche
Pflicht, die jeder Angehörige der Kirche, der eine Ehe schließt, wie jede andere
Rechtspflicht ohne Rücksicht auf sein religiöses Bedürfnis zu erfüllen hat." Und
diesen Theorien entspricht die Praxis. Hat doch der Senat der Freien Stadt
Bremen die Taufen eines Pastors ohne trinitarische Formel für ungültig erklärt,
die Württembergische Kirchenregierung die Eintragung der Taufe eines Kindes


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[0477] Religionsfreiheit und Airchenreform Wie anders in England! Daß in England das Christentum Volksreligion ist, viel tiefer greifend als bei uns, das sollte niemand wegdispntieren. Und doch wachsen in England die Kinder heran, ohne jeden Zwang zur Teilnahme am Religionsunterricht und zur Konfirmation, nimmt niemand Anstoß an Be¬ gräbnissen ohne geistliches Geleit, gibt es keine Kontrolle der Trauung (sie ist bei den dortigen Verhältnissen geradezu unmöglich). Dort sind Taufe, Konfir¬ mation, Trauung, was sie eigentlich sein sollen, religiöse Handlungen, die der nachsucht, der danach verlangt, deren Wirkung sich darauf beschränkt, dem Herzen und Gemüt etwas mitzugeben. Bei uns ist das alles verrechtlicht, es sind schwerwiegende Staats- und kirchenrcchtliche Folgen daran geknüpft. Schon die zopfige Beurkundung erweckt den Schein, als ob diese Handlung noch etwas anderes bezweckte, wie eine religiöse Wirkung, als ob ein öffentlicher Akt vollzogen werden sollte, der seinen Wert auch dann hat, wenn die Seele dabei bis zum Grunde kalt und gleichgültig geblieben ist. Ich führe aus einen: tüchtigen modernen „Kirchenrecht" ein paar Sätze an, um dies zu belegen: „Als ordentliche Bestandteile des Taufaktes sind in den Agenten regelmäßig vorgesehen: (Folgen die einzelnen Stücke.) . . . Wesentlich sind von diesen einzelnen Handlungen, so daß, wenn sie fehlen oder unvollkommen vollzogen werden, eine Taufe überhaupt nicht vorliegt, aber nur zwei: das Begießen des Täuflings mit Wasser und das Aussprechen der trinitarischen Tauf¬ formel bei dieser Handlung; alle übrigen sind für dogmatische Bedeutung und rechtliche Gültigkeit des Taufaktes unwesentlich." Dazu die Anmerkung: „Wesentlich ist nur die Nennung der drei Personen der Trinität in einer Verbindung, die auf ihre Einheit hindeutet, und die Erklärung, daß es sich um einen Taufakt handelt. Also eine gültige Taufe würde auch vollzogen werden mit den Worten: N. N., ich erteile dir die Taufe im Namen des Vaters, des Sohnes, des heiligen Geistes. ... Ob der Taufende an die Trinität glaubt oder nicht, ist irrelevant. Es ist nach evangelischer Auffassung überhaupt gleichgültig, was der tausende Geistliche mit der Vollziehung der Taufe bezweckt, indem nach evangelischer Auffassung die Kraft des Sakraments lediglich davon abhängt, daß es der Ein¬ setzung Christi gemäß verwaltet wird. Diesem Erfordernis ist aber genügt, wenn der Geistliche das Sakrament in der von der Kirche vorgeschriebenen Form spendet, denn indem er als Organ der Kirche in dieser Form handelt, wird durch seine Handlung stets der Erfolg herbeigeführt, den die Kirche durch sie herbeigeführt wissen will." Oder: „Die Trauung ist Anerkennung der Ehe¬ schließung als einer christlichen durch die Kirche oder, was dasselbe bedeutet, kirchliche Legitimation der Ehe. Die Nachsuchung der Trauung ist eine kirchliche Pflicht, die jeder Angehörige der Kirche, der eine Ehe schließt, wie jede andere Rechtspflicht ohne Rücksicht auf sein religiöses Bedürfnis zu erfüllen hat." Und diesen Theorien entspricht die Praxis. Hat doch der Senat der Freien Stadt Bremen die Taufen eines Pastors ohne trinitarische Formel für ungültig erklärt, die Württembergische Kirchenregierung die Eintragung der Taufe eines Kindes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/477>, abgerufen am 23.07.2024.