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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Religionsfreiheit und Kirchenreform

letzung der religiösen Gewissensfreiheit erblickt werden können. Aber es ist
nicht so. Es ist nicht die Rasse, es ist die Religion, um derentwillen dieser
Druck geübt wird. Den Beweis liefert die Taufe. An den: Tage, wo der
chnstliche Taufschein präsentiert werden kann, öffnen sich alle bisher ver¬
schlossenen Türen; können Söhne alle Stufen der Beamtenlaufbahn erklimmen
und den Rock des Offiziers anziehen, sind die Töchter würdig, Offizieren,
Geheimräten und Grafen die Hand zu reichen; hindert nichts mehr, den
Adelsbrief zu erlangen. Bedeutet das nicht, daß der Staat die Juden zum
Übertritt einladet und verlockt?

Geht dies die evangelische Kirche und ihre Diener nichts an? Selbst wenn
sie sich auf den Standpunkt stellten: Da siehe du zu! -- und Dissidenten und
Juden sind ja wohl nicht so schwach und einflußlos, um nicht einmal eine
Änderung dieser Verhältnisse zu erzwingen, -- sie werden wollend oder nicht
wollend in diese Dinge hinein gezerrt und für diese Praxis des Staates
verantwortlich gemacht, ohne ausweichen zu können.

Wir stehen noch unter dem Eindruck der regen Agitation, die Arthur
Drews entfesselt hat, und die die Kreise der Freidenker und Freireligiösen auf¬
genommen haben. Da sind viele evangelische Geistliche in die Lage gekommen,
in öffentlichen Versammlungen Rede zu stehen und mit den Leuten zu dis¬
putieren, die sich dieses Fündlein zu eigen gemacht hatten und damit die Un¬
verständigen und zu eigenem Urteil nicht Fähigen aufsetzten. Nun, wie pflegten
denn die Sachen zu laufen? War es nicht überall so, daß dem Kampf um
die Christusmythe eben dies mit zündender Wirkung beigemischt wurde: die
tausenderlei Erfahrungen gefesselter und gekränkter Gewissensfreiheit? Die Ver¬
teidiger des historischen Christentums mochten sagen, was sie wollten, mochten
die besten sachlichen Gründe auf ihrer Seite haben, -- sowie einer verstand,
die Behandlung der Dissidentenkinder in der Schule, die Versagung der Be¬
stätigung von Dissidenten für Ämter der Selbstverwaltung, die Bedrückung frei¬
religiöser Gemeinden aufs Tapet zu bringen, sowie dies Verhalten des "christ¬
lichen Staates", diese Praxis, "um dem Volke die Religion zu erhalten", in
die Versammlungen hineingeworfen wurden, so hatten sie verloren, so standen
sie da als Anhänger einer schlechten Sache, als Angeklagte. Und für alle
Schwankenden und Umreisen war damit die Frage entschieden, sie mußten
Unrecht haben. Denn was kann eine Sache wert sein, die sich solcher Stützen
bedient?

Aber viel peinlicher noch wird die evangelische Kirche durch die Lage der
Juden berührt. Ich stehe durchaus nicht auf dem Standpunkte, daß Juden,
die zur christlichen Kirche übergehen, ein Makel anhafte. Ich habe Proselyten
in die christliche Religion eingeführt, bei denen ich erleben und erfahren durfte,
daß, was sie trieb, Überzeugung und inneres Verlangen nach voller Heimat¬
berechtigung in der religiösen Welt war, aus der Luther und Bach, Kant und
Goethe stammen. Wo solche Motive wirksam werden, haben wir sie zu achten


Religionsfreiheit und Kirchenreform

letzung der religiösen Gewissensfreiheit erblickt werden können. Aber es ist
nicht so. Es ist nicht die Rasse, es ist die Religion, um derentwillen dieser
Druck geübt wird. Den Beweis liefert die Taufe. An den: Tage, wo der
chnstliche Taufschein präsentiert werden kann, öffnen sich alle bisher ver¬
schlossenen Türen; können Söhne alle Stufen der Beamtenlaufbahn erklimmen
und den Rock des Offiziers anziehen, sind die Töchter würdig, Offizieren,
Geheimräten und Grafen die Hand zu reichen; hindert nichts mehr, den
Adelsbrief zu erlangen. Bedeutet das nicht, daß der Staat die Juden zum
Übertritt einladet und verlockt?

Geht dies die evangelische Kirche und ihre Diener nichts an? Selbst wenn
sie sich auf den Standpunkt stellten: Da siehe du zu! — und Dissidenten und
Juden sind ja wohl nicht so schwach und einflußlos, um nicht einmal eine
Änderung dieser Verhältnisse zu erzwingen, — sie werden wollend oder nicht
wollend in diese Dinge hinein gezerrt und für diese Praxis des Staates
verantwortlich gemacht, ohne ausweichen zu können.

Wir stehen noch unter dem Eindruck der regen Agitation, die Arthur
Drews entfesselt hat, und die die Kreise der Freidenker und Freireligiösen auf¬
genommen haben. Da sind viele evangelische Geistliche in die Lage gekommen,
in öffentlichen Versammlungen Rede zu stehen und mit den Leuten zu dis¬
putieren, die sich dieses Fündlein zu eigen gemacht hatten und damit die Un¬
verständigen und zu eigenem Urteil nicht Fähigen aufsetzten. Nun, wie pflegten
denn die Sachen zu laufen? War es nicht überall so, daß dem Kampf um
die Christusmythe eben dies mit zündender Wirkung beigemischt wurde: die
tausenderlei Erfahrungen gefesselter und gekränkter Gewissensfreiheit? Die Ver¬
teidiger des historischen Christentums mochten sagen, was sie wollten, mochten
die besten sachlichen Gründe auf ihrer Seite haben, — sowie einer verstand,
die Behandlung der Dissidentenkinder in der Schule, die Versagung der Be¬
stätigung von Dissidenten für Ämter der Selbstverwaltung, die Bedrückung frei¬
religiöser Gemeinden aufs Tapet zu bringen, sowie dies Verhalten des „christ¬
lichen Staates", diese Praxis, „um dem Volke die Religion zu erhalten", in
die Versammlungen hineingeworfen wurden, so hatten sie verloren, so standen
sie da als Anhänger einer schlechten Sache, als Angeklagte. Und für alle
Schwankenden und Umreisen war damit die Frage entschieden, sie mußten
Unrecht haben. Denn was kann eine Sache wert sein, die sich solcher Stützen
bedient?

Aber viel peinlicher noch wird die evangelische Kirche durch die Lage der
Juden berührt. Ich stehe durchaus nicht auf dem Standpunkte, daß Juden,
die zur christlichen Kirche übergehen, ein Makel anhafte. Ich habe Proselyten
in die christliche Religion eingeführt, bei denen ich erleben und erfahren durfte,
daß, was sie trieb, Überzeugung und inneres Verlangen nach voller Heimat¬
berechtigung in der religiösen Welt war, aus der Luther und Bach, Kant und
Goethe stammen. Wo solche Motive wirksam werden, haben wir sie zu achten


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[0474] Religionsfreiheit und Kirchenreform letzung der religiösen Gewissensfreiheit erblickt werden können. Aber es ist nicht so. Es ist nicht die Rasse, es ist die Religion, um derentwillen dieser Druck geübt wird. Den Beweis liefert die Taufe. An den: Tage, wo der chnstliche Taufschein präsentiert werden kann, öffnen sich alle bisher ver¬ schlossenen Türen; können Söhne alle Stufen der Beamtenlaufbahn erklimmen und den Rock des Offiziers anziehen, sind die Töchter würdig, Offizieren, Geheimräten und Grafen die Hand zu reichen; hindert nichts mehr, den Adelsbrief zu erlangen. Bedeutet das nicht, daß der Staat die Juden zum Übertritt einladet und verlockt? Geht dies die evangelische Kirche und ihre Diener nichts an? Selbst wenn sie sich auf den Standpunkt stellten: Da siehe du zu! — und Dissidenten und Juden sind ja wohl nicht so schwach und einflußlos, um nicht einmal eine Änderung dieser Verhältnisse zu erzwingen, — sie werden wollend oder nicht wollend in diese Dinge hinein gezerrt und für diese Praxis des Staates verantwortlich gemacht, ohne ausweichen zu können. Wir stehen noch unter dem Eindruck der regen Agitation, die Arthur Drews entfesselt hat, und die die Kreise der Freidenker und Freireligiösen auf¬ genommen haben. Da sind viele evangelische Geistliche in die Lage gekommen, in öffentlichen Versammlungen Rede zu stehen und mit den Leuten zu dis¬ putieren, die sich dieses Fündlein zu eigen gemacht hatten und damit die Un¬ verständigen und zu eigenem Urteil nicht Fähigen aufsetzten. Nun, wie pflegten denn die Sachen zu laufen? War es nicht überall so, daß dem Kampf um die Christusmythe eben dies mit zündender Wirkung beigemischt wurde: die tausenderlei Erfahrungen gefesselter und gekränkter Gewissensfreiheit? Die Ver¬ teidiger des historischen Christentums mochten sagen, was sie wollten, mochten die besten sachlichen Gründe auf ihrer Seite haben, — sowie einer verstand, die Behandlung der Dissidentenkinder in der Schule, die Versagung der Be¬ stätigung von Dissidenten für Ämter der Selbstverwaltung, die Bedrückung frei¬ religiöser Gemeinden aufs Tapet zu bringen, sowie dies Verhalten des „christ¬ lichen Staates", diese Praxis, „um dem Volke die Religion zu erhalten", in die Versammlungen hineingeworfen wurden, so hatten sie verloren, so standen sie da als Anhänger einer schlechten Sache, als Angeklagte. Und für alle Schwankenden und Umreisen war damit die Frage entschieden, sie mußten Unrecht haben. Denn was kann eine Sache wert sein, die sich solcher Stützen bedient? Aber viel peinlicher noch wird die evangelische Kirche durch die Lage der Juden berührt. Ich stehe durchaus nicht auf dem Standpunkte, daß Juden, die zur christlichen Kirche übergehen, ein Makel anhafte. Ich habe Proselyten in die christliche Religion eingeführt, bei denen ich erleben und erfahren durfte, daß, was sie trieb, Überzeugung und inneres Verlangen nach voller Heimat¬ berechtigung in der religiösen Welt war, aus der Luther und Bach, Kant und Goethe stammen. Wo solche Motive wirksam werden, haben wir sie zu achten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/474>, abgerufen am 23.07.2024.