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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Das literarische Leben der Deutschen in und aus Böhmen

Grete Meisel-Heß, Auguste Hauschner u. a. Nur eines jungen Landsmanns sei
noch gedacht, des Komotauers Victor Fleischer in Berlin, der unter dem jüngsten
literarischen Nachwuchs neben Kolbenhener das Meiste verspricht. Seine Erzählung
"Die Handschrift des Bruders Engelbert" (1909 bei AxelJuncker in Charlottenburg)
hat lyrische Einzelschönheiten aufzuweisen, verrät jedoch durchaus nicht Eigenart,
eher noch die anspruchslose Geschichte aus dem Erzgebirge "Das Steinmetzendorf"
(1906 Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart). Um so mehr überrascht Fleischers
jüngstes Werk, der Erziehungs- und Kulturroman "Wendelin und das Dorf"
(1911 bei Meiler und Jessen in Berlin). Er spielt teilweise in der Heimat des
Verfassers, teilweise in Wien. Die großen politischen, konfessionellen und Rasse¬
gegensätze, der Kampf zwischen Dorf und Stadt, zwischen Gemeinsinn und Egoismus,
das Um und Auf unseres Zeitalters verdichtet Fleischer zu einem Charaktergemälde
der Gegenwart, schlicht und einfach in Anlage und Ausführung, freilich dadurch
erst recht packend. Der heiße Boden des deutschböhmischen Erdenwinkels, in dem
der Dichter daheim ist, dampft förmlich unter dem Streit der Parteien, aus dem
Wendelin hervorgeht, besiegt, verkannt, vertrieben, allein ungebrochen, sich selbst
getreu, der Beste seiner Gemeinde. (Vgl. auch die Besprechung dieses Buches
in Heft 29, Jahrgang 1911 der Grenzboten.)

Das deutschböhmische Schrifttum hat seit etwa einem Jahrzehnt entschieden
einen mächtigen Aufschwung genommen. Die hartbedrängten Deutschen des Landes
sind eben zur Überzeugung gekommen, daß sie zwar politisch zurückgedrängt werden
können, nicht aber kulturell. Als Seitenstück zur tschechischen "Akademie der
Wissenschaften" ist ebenfalls in Prag die "Gesellschaft zur Förderung deutscher
Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen" entstanden. Ihre Zeitschrift, die
soeben im elften Jahrgang stehende "Deutsche Arbeit", ursprünglich von Professor
Adolf Hauffer, später von Professor August Sauer geleitet, sammelt alle Denker,
Dichter und Künstler Deutschböhmens um ihre stolze Standarte. Der geschäfts¬
führende Schriftleiter Ferd. Madras, ein Neffe des berühmten Komikers, ist selbst
Dichter. Sein Stück "Die Studentenschwester" (1909 bei Bellmann in Prag),
aus den Märztagen des blutigen Jahres 1848, ist ein echtes Volksschauspiel.

Mögen die Würfel über Böhmen fallen so oder so! Ein Stamm, der geistig
in der ersten Reihe der europäischen Kulturpioniere steht, seit Jahrhunderten und
heute erst recht, ein solcher Stamm kann nicht untergehen.




Das literarische Leben der Deutschen in und aus Böhmen

Grete Meisel-Heß, Auguste Hauschner u. a. Nur eines jungen Landsmanns sei
noch gedacht, des Komotauers Victor Fleischer in Berlin, der unter dem jüngsten
literarischen Nachwuchs neben Kolbenhener das Meiste verspricht. Seine Erzählung
„Die Handschrift des Bruders Engelbert" (1909 bei AxelJuncker in Charlottenburg)
hat lyrische Einzelschönheiten aufzuweisen, verrät jedoch durchaus nicht Eigenart,
eher noch die anspruchslose Geschichte aus dem Erzgebirge „Das Steinmetzendorf"
(1906 Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart). Um so mehr überrascht Fleischers
jüngstes Werk, der Erziehungs- und Kulturroman „Wendelin und das Dorf"
(1911 bei Meiler und Jessen in Berlin). Er spielt teilweise in der Heimat des
Verfassers, teilweise in Wien. Die großen politischen, konfessionellen und Rasse¬
gegensätze, der Kampf zwischen Dorf und Stadt, zwischen Gemeinsinn und Egoismus,
das Um und Auf unseres Zeitalters verdichtet Fleischer zu einem Charaktergemälde
der Gegenwart, schlicht und einfach in Anlage und Ausführung, freilich dadurch
erst recht packend. Der heiße Boden des deutschböhmischen Erdenwinkels, in dem
der Dichter daheim ist, dampft förmlich unter dem Streit der Parteien, aus dem
Wendelin hervorgeht, besiegt, verkannt, vertrieben, allein ungebrochen, sich selbst
getreu, der Beste seiner Gemeinde. (Vgl. auch die Besprechung dieses Buches
in Heft 29, Jahrgang 1911 der Grenzboten.)

Das deutschböhmische Schrifttum hat seit etwa einem Jahrzehnt entschieden
einen mächtigen Aufschwung genommen. Die hartbedrängten Deutschen des Landes
sind eben zur Überzeugung gekommen, daß sie zwar politisch zurückgedrängt werden
können, nicht aber kulturell. Als Seitenstück zur tschechischen „Akademie der
Wissenschaften" ist ebenfalls in Prag die „Gesellschaft zur Förderung deutscher
Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen" entstanden. Ihre Zeitschrift, die
soeben im elften Jahrgang stehende „Deutsche Arbeit", ursprünglich von Professor
Adolf Hauffer, später von Professor August Sauer geleitet, sammelt alle Denker,
Dichter und Künstler Deutschböhmens um ihre stolze Standarte. Der geschäfts¬
führende Schriftleiter Ferd. Madras, ein Neffe des berühmten Komikers, ist selbst
Dichter. Sein Stück „Die Studentenschwester" (1909 bei Bellmann in Prag),
aus den Märztagen des blutigen Jahres 1848, ist ein echtes Volksschauspiel.

Mögen die Würfel über Böhmen fallen so oder so! Ein Stamm, der geistig
in der ersten Reihe der europäischen Kulturpioniere steht, seit Jahrhunderten und
heute erst recht, ein solcher Stamm kann nicht untergehen.




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[0439] Das literarische Leben der Deutschen in und aus Böhmen Grete Meisel-Heß, Auguste Hauschner u. a. Nur eines jungen Landsmanns sei noch gedacht, des Komotauers Victor Fleischer in Berlin, der unter dem jüngsten literarischen Nachwuchs neben Kolbenhener das Meiste verspricht. Seine Erzählung „Die Handschrift des Bruders Engelbert" (1909 bei AxelJuncker in Charlottenburg) hat lyrische Einzelschönheiten aufzuweisen, verrät jedoch durchaus nicht Eigenart, eher noch die anspruchslose Geschichte aus dem Erzgebirge „Das Steinmetzendorf" (1906 Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart). Um so mehr überrascht Fleischers jüngstes Werk, der Erziehungs- und Kulturroman „Wendelin und das Dorf" (1911 bei Meiler und Jessen in Berlin). Er spielt teilweise in der Heimat des Verfassers, teilweise in Wien. Die großen politischen, konfessionellen und Rasse¬ gegensätze, der Kampf zwischen Dorf und Stadt, zwischen Gemeinsinn und Egoismus, das Um und Auf unseres Zeitalters verdichtet Fleischer zu einem Charaktergemälde der Gegenwart, schlicht und einfach in Anlage und Ausführung, freilich dadurch erst recht packend. Der heiße Boden des deutschböhmischen Erdenwinkels, in dem der Dichter daheim ist, dampft förmlich unter dem Streit der Parteien, aus dem Wendelin hervorgeht, besiegt, verkannt, vertrieben, allein ungebrochen, sich selbst getreu, der Beste seiner Gemeinde. (Vgl. auch die Besprechung dieses Buches in Heft 29, Jahrgang 1911 der Grenzboten.) Das deutschböhmische Schrifttum hat seit etwa einem Jahrzehnt entschieden einen mächtigen Aufschwung genommen. Die hartbedrängten Deutschen des Landes sind eben zur Überzeugung gekommen, daß sie zwar politisch zurückgedrängt werden können, nicht aber kulturell. Als Seitenstück zur tschechischen „Akademie der Wissenschaften" ist ebenfalls in Prag die „Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen" entstanden. Ihre Zeitschrift, die soeben im elften Jahrgang stehende „Deutsche Arbeit", ursprünglich von Professor Adolf Hauffer, später von Professor August Sauer geleitet, sammelt alle Denker, Dichter und Künstler Deutschböhmens um ihre stolze Standarte. Der geschäfts¬ führende Schriftleiter Ferd. Madras, ein Neffe des berühmten Komikers, ist selbst Dichter. Sein Stück „Die Studentenschwester" (1909 bei Bellmann in Prag), aus den Märztagen des blutigen Jahres 1848, ist ein echtes Volksschauspiel. Mögen die Würfel über Böhmen fallen so oder so! Ein Stamm, der geistig in der ersten Reihe der europäischen Kulturpioniere steht, seit Jahrhunderten und heute erst recht, ein solcher Stamm kann nicht untergehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/439>, abgerufen am 23.07.2024.