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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Neichsspiegel

der Parteien, aus Anlaß der liberalen Anträge, die auf eine nachträgliche
Genehmigung der neuen Abkommen durch die gesetzgebenden Faktoren hinzielten,
läßt sich ungefähr erkennen, auf welche Parteien die Regierung sich auch fernerhin
in staatsrechtlichen Fragen gegenüber den Wünschen der Linken wird stützen
können. Während alle Liberalen und die Sozialdemokraten für die erwähnten
liberalen Anträge eintraten, lehnten die Konservativen und das Zentrum sie
gemeinsam ab. Somit darf gefolgert werden, daß auch der demokratische Flügel
des Zentrums einstweilen darauf verzichtet, der Regierung irgendwelche Schwierig¬
keiten zu bereiten, so daß diese in allen ernsteren Fragen über eine feste
Mehrheit verfügen dürfte, trotz des heftigen Zusammenstoßes zwischen dem
Herrn Reichskanzler und dem Führer der Konservativen. Das muß man im
Auge behalten, wenn man sich ein Urteil über die innerpolitische Lage bilden will,
und diese Tatsache werden vor allen Dingen die Nationalliberalen im Hinblick
auf die Wahlen sehr berücksichtigen müssen; sie sind vor die Entscheidung gestellt,
ob sie an der Spitze der vereinigten Linken das Land durch eine Ära von
Reformen führen oder alsAnhängsel der konservativ-klerikalen Gruppe "dasZünglein
an der Wage" spielen wollen. Der am Sonntag abgehaltene Parteitag, dessen
Verlauf ich aus technischen Gründen hier noch nicht zu berücksichtigen vermag,
dürfte darüber einige Aufklärung bringen. So viel aber darf man heute schou
als feststehend annehmen: wenn die Parteileitung angesichts der Situation nicht
eine ganz unzweideutige Haltung bezüglich der brennenden Fragen der inneren
Politik einnimmt, kann sie mit absoluter Sicherheit darauf rechnen, daß ihr die
Wählermasfen nach rechts und links auseinander laufen. Man glaube nicht,
die Massen mit Flottenagitation oder Heeresvermehrung ködern zu können. Der
Schuh drückt anderswo: Bodenreform, Wohnuugsreform, Steuerreform, das sind
G, Li, die großen Ziele, die den Sieg in sich schließen!


Aolonialamtssorgen

Das Sorgenkind der Reichsregierung -- Staatssekretäre und Kandidaten dazu --
Am Ausgange der Kolonialabteilung -- Die Kandidatur Wiegands -- Dessen Absage¬
brief -- Das Eröe Buchka-Lindequist

Das Kolonialamt ist noch nicht volle sechs Jahre alt, und doch gehört
es zu den größten Sorgenkindern der Reichsregierung. Kein Ressort
unter den Reichsämtern hat einen so lebhaften Wechsel bei den leitenden Männern
und so häufig unangenehme Auseinandersetzungen mit der Volksvertretung wie
eben das Kolonialamt. Ein Wunder ist es eigentlich auch nicht. Gehört es
doch zu den jüngsten Ergebnissen der wirtschaftspolitischen Entwicklung des
Reichs und ist es doch mehr oder weniger eine Experimentieranstalt, in der
ehrgeizige Diplomaten, Soldaten, Verwaltungsbeamte, Gelehrte oder Kaufleute
ihr Wesen treiben können. Neuland, Versuchsland, wie die Kolonien selbst I
In sechs Jahren drei Staatssekretäre und sechs Kandidaten dazu: ein Prinz,
ein Kaufmann, ein Diplomat, -- auf Hohenlohe Dernburg; dann Lindequist,


Neichsspiegel

der Parteien, aus Anlaß der liberalen Anträge, die auf eine nachträgliche
Genehmigung der neuen Abkommen durch die gesetzgebenden Faktoren hinzielten,
läßt sich ungefähr erkennen, auf welche Parteien die Regierung sich auch fernerhin
in staatsrechtlichen Fragen gegenüber den Wünschen der Linken wird stützen
können. Während alle Liberalen und die Sozialdemokraten für die erwähnten
liberalen Anträge eintraten, lehnten die Konservativen und das Zentrum sie
gemeinsam ab. Somit darf gefolgert werden, daß auch der demokratische Flügel
des Zentrums einstweilen darauf verzichtet, der Regierung irgendwelche Schwierig¬
keiten zu bereiten, so daß diese in allen ernsteren Fragen über eine feste
Mehrheit verfügen dürfte, trotz des heftigen Zusammenstoßes zwischen dem
Herrn Reichskanzler und dem Führer der Konservativen. Das muß man im
Auge behalten, wenn man sich ein Urteil über die innerpolitische Lage bilden will,
und diese Tatsache werden vor allen Dingen die Nationalliberalen im Hinblick
auf die Wahlen sehr berücksichtigen müssen; sie sind vor die Entscheidung gestellt,
ob sie an der Spitze der vereinigten Linken das Land durch eine Ära von
Reformen führen oder alsAnhängsel der konservativ-klerikalen Gruppe „dasZünglein
an der Wage" spielen wollen. Der am Sonntag abgehaltene Parteitag, dessen
Verlauf ich aus technischen Gründen hier noch nicht zu berücksichtigen vermag,
dürfte darüber einige Aufklärung bringen. So viel aber darf man heute schou
als feststehend annehmen: wenn die Parteileitung angesichts der Situation nicht
eine ganz unzweideutige Haltung bezüglich der brennenden Fragen der inneren
Politik einnimmt, kann sie mit absoluter Sicherheit darauf rechnen, daß ihr die
Wählermasfen nach rechts und links auseinander laufen. Man glaube nicht,
die Massen mit Flottenagitation oder Heeresvermehrung ködern zu können. Der
Schuh drückt anderswo: Bodenreform, Wohnuugsreform, Steuerreform, das sind
G, Li, die großen Ziele, die den Sieg in sich schließen!


Aolonialamtssorgen

Das Sorgenkind der Reichsregierung — Staatssekretäre und Kandidaten dazu —
Am Ausgange der Kolonialabteilung — Die Kandidatur Wiegands — Dessen Absage¬
brief — Das Eröe Buchka-Lindequist

Das Kolonialamt ist noch nicht volle sechs Jahre alt, und doch gehört
es zu den größten Sorgenkindern der Reichsregierung. Kein Ressort
unter den Reichsämtern hat einen so lebhaften Wechsel bei den leitenden Männern
und so häufig unangenehme Auseinandersetzungen mit der Volksvertretung wie
eben das Kolonialamt. Ein Wunder ist es eigentlich auch nicht. Gehört es
doch zu den jüngsten Ergebnissen der wirtschaftspolitischen Entwicklung des
Reichs und ist es doch mehr oder weniger eine Experimentieranstalt, in der
ehrgeizige Diplomaten, Soldaten, Verwaltungsbeamte, Gelehrte oder Kaufleute
ihr Wesen treiben können. Neuland, Versuchsland, wie die Kolonien selbst I
In sechs Jahren drei Staatssekretäre und sechs Kandidaten dazu: ein Prinz,
ein Kaufmann, ein Diplomat, — auf Hohenlohe Dernburg; dann Lindequist,


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[0422] Neichsspiegel der Parteien, aus Anlaß der liberalen Anträge, die auf eine nachträgliche Genehmigung der neuen Abkommen durch die gesetzgebenden Faktoren hinzielten, läßt sich ungefähr erkennen, auf welche Parteien die Regierung sich auch fernerhin in staatsrechtlichen Fragen gegenüber den Wünschen der Linken wird stützen können. Während alle Liberalen und die Sozialdemokraten für die erwähnten liberalen Anträge eintraten, lehnten die Konservativen und das Zentrum sie gemeinsam ab. Somit darf gefolgert werden, daß auch der demokratische Flügel des Zentrums einstweilen darauf verzichtet, der Regierung irgendwelche Schwierig¬ keiten zu bereiten, so daß diese in allen ernsteren Fragen über eine feste Mehrheit verfügen dürfte, trotz des heftigen Zusammenstoßes zwischen dem Herrn Reichskanzler und dem Führer der Konservativen. Das muß man im Auge behalten, wenn man sich ein Urteil über die innerpolitische Lage bilden will, und diese Tatsache werden vor allen Dingen die Nationalliberalen im Hinblick auf die Wahlen sehr berücksichtigen müssen; sie sind vor die Entscheidung gestellt, ob sie an der Spitze der vereinigten Linken das Land durch eine Ära von Reformen führen oder alsAnhängsel der konservativ-klerikalen Gruppe „dasZünglein an der Wage" spielen wollen. Der am Sonntag abgehaltene Parteitag, dessen Verlauf ich aus technischen Gründen hier noch nicht zu berücksichtigen vermag, dürfte darüber einige Aufklärung bringen. So viel aber darf man heute schou als feststehend annehmen: wenn die Parteileitung angesichts der Situation nicht eine ganz unzweideutige Haltung bezüglich der brennenden Fragen der inneren Politik einnimmt, kann sie mit absoluter Sicherheit darauf rechnen, daß ihr die Wählermasfen nach rechts und links auseinander laufen. Man glaube nicht, die Massen mit Flottenagitation oder Heeresvermehrung ködern zu können. Der Schuh drückt anderswo: Bodenreform, Wohnuugsreform, Steuerreform, das sind G, Li, die großen Ziele, die den Sieg in sich schließen! Aolonialamtssorgen Das Sorgenkind der Reichsregierung — Staatssekretäre und Kandidaten dazu — Am Ausgange der Kolonialabteilung — Die Kandidatur Wiegands — Dessen Absage¬ brief — Das Eröe Buchka-Lindequist Das Kolonialamt ist noch nicht volle sechs Jahre alt, und doch gehört es zu den größten Sorgenkindern der Reichsregierung. Kein Ressort unter den Reichsämtern hat einen so lebhaften Wechsel bei den leitenden Männern und so häufig unangenehme Auseinandersetzungen mit der Volksvertretung wie eben das Kolonialamt. Ein Wunder ist es eigentlich auch nicht. Gehört es doch zu den jüngsten Ergebnissen der wirtschaftspolitischen Entwicklung des Reichs und ist es doch mehr oder weniger eine Experimentieranstalt, in der ehrgeizige Diplomaten, Soldaten, Verwaltungsbeamte, Gelehrte oder Kaufleute ihr Wesen treiben können. Neuland, Versuchsland, wie die Kolonien selbst I In sechs Jahren drei Staatssekretäre und sechs Kandidaten dazu: ein Prinz, ein Kaufmann, ein Diplomat, — auf Hohenlohe Dernburg; dann Lindequist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/422>, abgerufen am 26.06.2024.