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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Die innsrpolitische Lage

Beginnende Beruhigung -- staatsrechtliche Fragen -- Gruppierung der Parteien

Die amtlichen Mitteilungen über Inhalt und Verlauf der deutsch-
französischen Verhandlungen beginnen doch allenthalben Eindruck zu machen.
Nicht nur in den Kreisen der Großbanken und des Handels, auch aus Industrie
und Landwirtschaft mehren sich die Stimmen, die das Marokkoabkommen "eine
anerkennenswerte Leistung" nennen. (Deutsche Tageszeitung, Kölnische Zeitung.)
Auch über die Gebietserwerbungen in Äquatorialafrika mehren sich optimistische
Stimmen. Daneben beginnt sich auch die Tatenlust zu regen, und allerhand
Pläne über intensive Durchforschung der Kongo- und Ubangiufer liegen in der
Luft. Das sind um so erfreulichere Tatsachen, als sie von neuem zeigen, wie
sehr bei uns Deutschen alles zu positiver Arbeit drängt und wie im Herzen
zuwider uns tatenloses Nörgeln ist. An diesen Tatsachen aber kann man auch
ermessen, wie schwerwiegend die Fehler der Regierung sind, wenn sie auf eine
Mitwirkung der Nation an den großen Fragen der Politik leichten Herzens ver¬
zichtet und die Bearbeitung und Leitung der öffentlichen Meinung privaten
Kreisen überläßt.

Die staatsrechtlichen Fragen, die besonders mit dem Austausch von
Kolonialland akut geworden sind, haben in der Kommission eine schnelle Er¬
ledigung gefunden. Abgesehen von den Konservativen stimmten alle Parteien
mit der Regierung darin überein, daß die Verfassung eine Lücke aufweise, die
durch den Übergang des Reichs zu kolonialen Erwerbungen hervorgerufen ist.
Daher ist denn auch der Zentrumsantrag auf Ergänzung der Verfassung ohne
erheblichen Widerstand angenommen und zu einem Gesetzentwurf umgewandelt
worden, der lautet:

"Paragraph 1 des Schutzgebietsgesetzes vom 10. Dezember 1902 erhält
folgenden Absatz 2: .Zum Erwerb und zur Abtretung eines Schutzgebietes oder
von Teilen eines solchen bedarf es eines Reichsgesetzes. Diese Vorschrift findet
auf Grenzberichtigungen keine Anwendung.'"

Die Verhandlungen boten (abgesehen von dem zur Erörterung stehenden
Thema) auch rein politisch betrachtet ein hohes Interesse. Aus der Gruppierung




Reichsspiegel
Die innsrpolitische Lage

Beginnende Beruhigung — staatsrechtliche Fragen — Gruppierung der Parteien

Die amtlichen Mitteilungen über Inhalt und Verlauf der deutsch-
französischen Verhandlungen beginnen doch allenthalben Eindruck zu machen.
Nicht nur in den Kreisen der Großbanken und des Handels, auch aus Industrie
und Landwirtschaft mehren sich die Stimmen, die das Marokkoabkommen „eine
anerkennenswerte Leistung" nennen. (Deutsche Tageszeitung, Kölnische Zeitung.)
Auch über die Gebietserwerbungen in Äquatorialafrika mehren sich optimistische
Stimmen. Daneben beginnt sich auch die Tatenlust zu regen, und allerhand
Pläne über intensive Durchforschung der Kongo- und Ubangiufer liegen in der
Luft. Das sind um so erfreulichere Tatsachen, als sie von neuem zeigen, wie
sehr bei uns Deutschen alles zu positiver Arbeit drängt und wie im Herzen
zuwider uns tatenloses Nörgeln ist. An diesen Tatsachen aber kann man auch
ermessen, wie schwerwiegend die Fehler der Regierung sind, wenn sie auf eine
Mitwirkung der Nation an den großen Fragen der Politik leichten Herzens ver¬
zichtet und die Bearbeitung und Leitung der öffentlichen Meinung privaten
Kreisen überläßt.

Die staatsrechtlichen Fragen, die besonders mit dem Austausch von
Kolonialland akut geworden sind, haben in der Kommission eine schnelle Er¬
ledigung gefunden. Abgesehen von den Konservativen stimmten alle Parteien
mit der Regierung darin überein, daß die Verfassung eine Lücke aufweise, die
durch den Übergang des Reichs zu kolonialen Erwerbungen hervorgerufen ist.
Daher ist denn auch der Zentrumsantrag auf Ergänzung der Verfassung ohne
erheblichen Widerstand angenommen und zu einem Gesetzentwurf umgewandelt
worden, der lautet:

„Paragraph 1 des Schutzgebietsgesetzes vom 10. Dezember 1902 erhält
folgenden Absatz 2: .Zum Erwerb und zur Abtretung eines Schutzgebietes oder
von Teilen eines solchen bedarf es eines Reichsgesetzes. Diese Vorschrift findet
auf Grenzberichtigungen keine Anwendung.'"

Die Verhandlungen boten (abgesehen von dem zur Erörterung stehenden
Thema) auch rein politisch betrachtet ein hohes Interesse. Aus der Gruppierung


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[0421] [Abbildung] Reichsspiegel Die innsrpolitische Lage Beginnende Beruhigung — staatsrechtliche Fragen — Gruppierung der Parteien Die amtlichen Mitteilungen über Inhalt und Verlauf der deutsch- französischen Verhandlungen beginnen doch allenthalben Eindruck zu machen. Nicht nur in den Kreisen der Großbanken und des Handels, auch aus Industrie und Landwirtschaft mehren sich die Stimmen, die das Marokkoabkommen „eine anerkennenswerte Leistung" nennen. (Deutsche Tageszeitung, Kölnische Zeitung.) Auch über die Gebietserwerbungen in Äquatorialafrika mehren sich optimistische Stimmen. Daneben beginnt sich auch die Tatenlust zu regen, und allerhand Pläne über intensive Durchforschung der Kongo- und Ubangiufer liegen in der Luft. Das sind um so erfreulichere Tatsachen, als sie von neuem zeigen, wie sehr bei uns Deutschen alles zu positiver Arbeit drängt und wie im Herzen zuwider uns tatenloses Nörgeln ist. An diesen Tatsachen aber kann man auch ermessen, wie schwerwiegend die Fehler der Regierung sind, wenn sie auf eine Mitwirkung der Nation an den großen Fragen der Politik leichten Herzens ver¬ zichtet und die Bearbeitung und Leitung der öffentlichen Meinung privaten Kreisen überläßt. Die staatsrechtlichen Fragen, die besonders mit dem Austausch von Kolonialland akut geworden sind, haben in der Kommission eine schnelle Er¬ ledigung gefunden. Abgesehen von den Konservativen stimmten alle Parteien mit der Regierung darin überein, daß die Verfassung eine Lücke aufweise, die durch den Übergang des Reichs zu kolonialen Erwerbungen hervorgerufen ist. Daher ist denn auch der Zentrumsantrag auf Ergänzung der Verfassung ohne erheblichen Widerstand angenommen und zu einem Gesetzentwurf umgewandelt worden, der lautet: „Paragraph 1 des Schutzgebietsgesetzes vom 10. Dezember 1902 erhält folgenden Absatz 2: .Zum Erwerb und zur Abtretung eines Schutzgebietes oder von Teilen eines solchen bedarf es eines Reichsgesetzes. Diese Vorschrift findet auf Grenzberichtigungen keine Anwendung.'" Die Verhandlungen boten (abgesehen von dem zur Erörterung stehenden Thema) auch rein politisch betrachtet ein hohes Interesse. Aus der Gruppierung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/421>, abgerufen am 26.06.2024.