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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Degas als Impressionist

Degas ist unter den neueren Malern vielleicht derjenige, der den weiblichen
Körper am eindringlichsten kennt und beherrscht. Dafür zeugen die zahlreichen
Akte, die er geschaffen hat. Frauen, die ins Bad steigen, sich waschen, abtrocknen,
frisieren. Die Funktionsbedingungen des Mechanismus bei jeder Haltung und
Bewegung des Körpers werden zu bewunderungswürdiger Klarheit gebracht. Das
ganze Körpergebilde fügt sich gleichsam der den Moment bestimmenden Gebärde.
Die Empfindung für die Einheitlichkeit der Aktion ist ungemein stark. Deshalb
wirken seine Impressionen so suggestiv. In seinen Frauenalter ist mehr Modulation
als in Mcmets Olympia. Aber er hat auch niemals einen lebensgroßen Akt
geschaffen.

Es gibt in der Kunst von Degas keine Ausdrucksmomente, mit denen wir
seelisch Fühlung nehmen. Ihr fehlt der heiße Atem eines Delacroix oder
van Gogh. Man hat ihm vorgeworfen, daß er ein bloßer Verstandesmensch sei.
Einer solchen Sinnlichkeit des Schauens gegenüber ist dieser Vorwurf gewiß nicht
berechtigt. Romantisches Gefühl und Sentimentalität ist bei ihm allerdings nicht
zu finden. Seine Kunst arbeitet nicht mit heimlichen Gedanken und Empfindungen.
Sie verschmäht jede literarische Allüre und sucht ihre Wirkung nur in den
Sichtbarkeiten. Sie ist reinste Augenkunst. Er ist ein mathematischer Geist in
dem Sinne, wie sich Robim einmal einen mathematischen Geist genannt hat.

Auch in ihm ist eine stilsuchende Kraft lebendig wie in Cözanne. Über einen
bloßen Naturalismus hat er sich erhoben. Die Elemente, die ihm für seine
Stilschöpfung dienten, hat er in selbständiger Arbeit gewonnen. Da sein Stil in
der Linie seinen Halt hat, so hat er auf die vorwiegend zeichnerisch sich betätigenden
Künstler der nächsten Generation eingewirkt, einen Toulouse-Lautrec, einen Forum.
Der Impressionismus von Degas ist umfassender als der von Monet und Renoir,
weil er sich nicht daraus kapriziert, alles an erster Stelle aus der Qualität des
optischen Scheins zu deuten, sondern weil er zugleich mit der Sinnlichkeit des
Farbenschauspiels dem Ausdruckswert des Linienbaus mit den sich daran knüpfenden
Assoziationen eine höhere Bedeutung zuerkennt.

Dieser Stil ist nicht durch Annäherung der Formen an irgend ein Ideal
der Vergangenheit gewonnen. Degas' Akte entfernen sich so weit als möglich
von der sogenannten klassischen Schönheit, die immer eine Schönheit der Ruhe
ist, auch wo Bewegung zur Wiedergabe kommt. Es ist etwas anderes: Bewegung
als Darstellungsmotiv, als Bildinhalt, und Bewegung als künstlerisches Ausdrucks-
Mittel. Die malerische Technik kann durch die Art ihrer Behandlung einen
bewegten Gegenstand als ruhig und einen ruhigen als bewegt erscheinen lassen;
denn der Rhythmus, den sie schafft, ist unabhängig von dem Sujet. Degas hat
seine Kunst auf Beobachtungsmomenten aufgebaut, deren Charakter die ihm vor¬
schwebende Schönheit barg. Der Rhythmus, den er aus seinen Impressionen
ableitet, gibt seinem Stil das Gepräge.




Grenzboten IV 1911
Degas als Impressionist

Degas ist unter den neueren Malern vielleicht derjenige, der den weiblichen
Körper am eindringlichsten kennt und beherrscht. Dafür zeugen die zahlreichen
Akte, die er geschaffen hat. Frauen, die ins Bad steigen, sich waschen, abtrocknen,
frisieren. Die Funktionsbedingungen des Mechanismus bei jeder Haltung und
Bewegung des Körpers werden zu bewunderungswürdiger Klarheit gebracht. Das
ganze Körpergebilde fügt sich gleichsam der den Moment bestimmenden Gebärde.
Die Empfindung für die Einheitlichkeit der Aktion ist ungemein stark. Deshalb
wirken seine Impressionen so suggestiv. In seinen Frauenalter ist mehr Modulation
als in Mcmets Olympia. Aber er hat auch niemals einen lebensgroßen Akt
geschaffen.

Es gibt in der Kunst von Degas keine Ausdrucksmomente, mit denen wir
seelisch Fühlung nehmen. Ihr fehlt der heiße Atem eines Delacroix oder
van Gogh. Man hat ihm vorgeworfen, daß er ein bloßer Verstandesmensch sei.
Einer solchen Sinnlichkeit des Schauens gegenüber ist dieser Vorwurf gewiß nicht
berechtigt. Romantisches Gefühl und Sentimentalität ist bei ihm allerdings nicht
zu finden. Seine Kunst arbeitet nicht mit heimlichen Gedanken und Empfindungen.
Sie verschmäht jede literarische Allüre und sucht ihre Wirkung nur in den
Sichtbarkeiten. Sie ist reinste Augenkunst. Er ist ein mathematischer Geist in
dem Sinne, wie sich Robim einmal einen mathematischen Geist genannt hat.

Auch in ihm ist eine stilsuchende Kraft lebendig wie in Cözanne. Über einen
bloßen Naturalismus hat er sich erhoben. Die Elemente, die ihm für seine
Stilschöpfung dienten, hat er in selbständiger Arbeit gewonnen. Da sein Stil in
der Linie seinen Halt hat, so hat er auf die vorwiegend zeichnerisch sich betätigenden
Künstler der nächsten Generation eingewirkt, einen Toulouse-Lautrec, einen Forum.
Der Impressionismus von Degas ist umfassender als der von Monet und Renoir,
weil er sich nicht daraus kapriziert, alles an erster Stelle aus der Qualität des
optischen Scheins zu deuten, sondern weil er zugleich mit der Sinnlichkeit des
Farbenschauspiels dem Ausdruckswert des Linienbaus mit den sich daran knüpfenden
Assoziationen eine höhere Bedeutung zuerkennt.

Dieser Stil ist nicht durch Annäherung der Formen an irgend ein Ideal
der Vergangenheit gewonnen. Degas' Akte entfernen sich so weit als möglich
von der sogenannten klassischen Schönheit, die immer eine Schönheit der Ruhe
ist, auch wo Bewegung zur Wiedergabe kommt. Es ist etwas anderes: Bewegung
als Darstellungsmotiv, als Bildinhalt, und Bewegung als künstlerisches Ausdrucks-
Mittel. Die malerische Technik kann durch die Art ihrer Behandlung einen
bewegten Gegenstand als ruhig und einen ruhigen als bewegt erscheinen lassen;
denn der Rhythmus, den sie schafft, ist unabhängig von dem Sujet. Degas hat
seine Kunst auf Beobachtungsmomenten aufgebaut, deren Charakter die ihm vor¬
schwebende Schönheit barg. Der Rhythmus, den er aus seinen Impressionen
ableitet, gibt seinem Stil das Gepräge.




Grenzboten IV 1911
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[0417] Degas als Impressionist Degas ist unter den neueren Malern vielleicht derjenige, der den weiblichen Körper am eindringlichsten kennt und beherrscht. Dafür zeugen die zahlreichen Akte, die er geschaffen hat. Frauen, die ins Bad steigen, sich waschen, abtrocknen, frisieren. Die Funktionsbedingungen des Mechanismus bei jeder Haltung und Bewegung des Körpers werden zu bewunderungswürdiger Klarheit gebracht. Das ganze Körpergebilde fügt sich gleichsam der den Moment bestimmenden Gebärde. Die Empfindung für die Einheitlichkeit der Aktion ist ungemein stark. Deshalb wirken seine Impressionen so suggestiv. In seinen Frauenalter ist mehr Modulation als in Mcmets Olympia. Aber er hat auch niemals einen lebensgroßen Akt geschaffen. Es gibt in der Kunst von Degas keine Ausdrucksmomente, mit denen wir seelisch Fühlung nehmen. Ihr fehlt der heiße Atem eines Delacroix oder van Gogh. Man hat ihm vorgeworfen, daß er ein bloßer Verstandesmensch sei. Einer solchen Sinnlichkeit des Schauens gegenüber ist dieser Vorwurf gewiß nicht berechtigt. Romantisches Gefühl und Sentimentalität ist bei ihm allerdings nicht zu finden. Seine Kunst arbeitet nicht mit heimlichen Gedanken und Empfindungen. Sie verschmäht jede literarische Allüre und sucht ihre Wirkung nur in den Sichtbarkeiten. Sie ist reinste Augenkunst. Er ist ein mathematischer Geist in dem Sinne, wie sich Robim einmal einen mathematischen Geist genannt hat. Auch in ihm ist eine stilsuchende Kraft lebendig wie in Cözanne. Über einen bloßen Naturalismus hat er sich erhoben. Die Elemente, die ihm für seine Stilschöpfung dienten, hat er in selbständiger Arbeit gewonnen. Da sein Stil in der Linie seinen Halt hat, so hat er auf die vorwiegend zeichnerisch sich betätigenden Künstler der nächsten Generation eingewirkt, einen Toulouse-Lautrec, einen Forum. Der Impressionismus von Degas ist umfassender als der von Monet und Renoir, weil er sich nicht daraus kapriziert, alles an erster Stelle aus der Qualität des optischen Scheins zu deuten, sondern weil er zugleich mit der Sinnlichkeit des Farbenschauspiels dem Ausdruckswert des Linienbaus mit den sich daran knüpfenden Assoziationen eine höhere Bedeutung zuerkennt. Dieser Stil ist nicht durch Annäherung der Formen an irgend ein Ideal der Vergangenheit gewonnen. Degas' Akte entfernen sich so weit als möglich von der sogenannten klassischen Schönheit, die immer eine Schönheit der Ruhe ist, auch wo Bewegung zur Wiedergabe kommt. Es ist etwas anderes: Bewegung als Darstellungsmotiv, als Bildinhalt, und Bewegung als künstlerisches Ausdrucks- Mittel. Die malerische Technik kann durch die Art ihrer Behandlung einen bewegten Gegenstand als ruhig und einen ruhigen als bewegt erscheinen lassen; denn der Rhythmus, den sie schafft, ist unabhängig von dem Sujet. Degas hat seine Kunst auf Beobachtungsmomenten aufgebaut, deren Charakter die ihm vor¬ schwebende Schönheit barg. Der Rhythmus, den er aus seinen Impressionen ableitet, gibt seinem Stil das Gepräge. Grenzboten IV 1911

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/417>, abgerufen am 28.09.2024.