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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Jntclligenzprilfungen an Schulkindern

Untersuchung einer großen Zahl von neuaufgenonunenen Hilfsschulkindern hat
nun ergeben, daß sie zum größten Teil in der Tat eine Rückständigkeit um zwei
Jahre oder mehr zeigen, aber nicht alle ohne Ausnahme. Hier liegt also ein
gewisser Mangel der Methode vor, aber dies ist kein Wunder. Alle mensch¬
lichen Erfindungen sind nun einmal unvollkommen, und die Unvollkommenheit
erklärt sich in unserem Falle daraus, daß bei manchen Kindern andere als rein
intellektuelle Defekte bestehen, die es nötig machen, auf sie die individualisierende
Unterrichtsmethode der Hilfsschule anzuwenden: nervöse Reizbarkeit, Störungen
des Affekt- und Willenslebens, pathologische Ermüdbarkeit u. tgi. Dieser Umstand
beeinträchtigt jedoch die allgemeine Verwertbarkeit der Methode nicht, da man
ja während der gesamten Prüfung das Vorhandensein der erwähnten patholo¬
gischen Erscheinungen sowieso feststellen wird. Vorläufig stehen wir ja auch erst
im Anfange unserer Untersuchungen, und es ist zu hoffen, daß die allmähliche
Verbesserung der Methode gewisse Mängel ihrer Anwendung beseitigen wird.

Von dem, was die Versuche an älteren verwahrlosten Kindern bis jetzt
ergeben haben, möge folgendes erwähnt werden. Bei solchen Kindern sind die
Milieu- und Erziehungseinflüsse oft besonders ungünstig. Dies führt zu häufigem
Schulwechsel, häufiger Schulversäumnis wegen Krankheit oder wegen Ausnutzung
der Kinder als Arbeitskraft, zur Vernachlässigung der Schularbeit und zum
"Schwänzen", so daß sie auch in der Schule nicht ordentlich fortkommen, selbst
wenn sie keinen wesentlichen Defekt auf intellektuellem Gebiete zeigen. Im Ein¬
klang hiermit steht nun das, was sich über das Verhältnis des Jntelligenzalters
der angehenden Fürsorgezöglinge zu ihrem Schulalter hat feststellen lassen, dieses
letzte bestimmt durch das Normalalter der Kinder in derjenigen Klasse, in der
sie sitzen, so daß also z. B. das Schulalter eines zehnjährigen Kindes, das
zweimal sitzen geblieben ist, acht Jahr beträgt. Bei einem großen Teil der
Zöglinge stimmte nämlich Schul- und Jntelligenzalter ungefähr überein; es
waren dies die Kinder mit wirklichem Jntelligenzdefekt. Bei vielen aber, und
zwar gerade den besonders schlechten Milieueinflüssen ausgesetzten, fehlte jene
Übereinstimmung; sie zeigten ein normales oder nur um wenig zu niedriges
Jntelligenzalter, während ihr Schulalter erheblich zurückblieb. Und damit war
erwiesen, daß moralische ohne, oder doch ohne entsprechend große, intellektuelle
Defekte vorkommen.

Auch zur Untersuchung erwachsener Schwachsinniger kann man sich natürlich
der Binetschen Methode bedienen, doch erfordert dies einige Vorsicht. Wir
gehen hierauf nicht mehr näher ein. Nur das mag noch als wichtig für die
Beurteilung jugendlicher und erwachsener Schwachsinniger angeführt werden, was
Binet über die Zuordnung der verschiedenen Schwachsinnsgrade zu bestimmten
Stufen seines "Stufenmaßes der Intelligenz" festgestellt hat, nämlich folgendes.
Die Idiotie entspricht einem Jntelligenzalter von höchstens zwei Jahr, die
Imbezillität einem solchen von höchstens sieben Jahr, die Debilität endlich
eineni solchen von höchstens neun bis zehn Jahr. Diese letzte Zuordnung ist


Jntclligenzprilfungen an Schulkindern

Untersuchung einer großen Zahl von neuaufgenonunenen Hilfsschulkindern hat
nun ergeben, daß sie zum größten Teil in der Tat eine Rückständigkeit um zwei
Jahre oder mehr zeigen, aber nicht alle ohne Ausnahme. Hier liegt also ein
gewisser Mangel der Methode vor, aber dies ist kein Wunder. Alle mensch¬
lichen Erfindungen sind nun einmal unvollkommen, und die Unvollkommenheit
erklärt sich in unserem Falle daraus, daß bei manchen Kindern andere als rein
intellektuelle Defekte bestehen, die es nötig machen, auf sie die individualisierende
Unterrichtsmethode der Hilfsschule anzuwenden: nervöse Reizbarkeit, Störungen
des Affekt- und Willenslebens, pathologische Ermüdbarkeit u. tgi. Dieser Umstand
beeinträchtigt jedoch die allgemeine Verwertbarkeit der Methode nicht, da man
ja während der gesamten Prüfung das Vorhandensein der erwähnten patholo¬
gischen Erscheinungen sowieso feststellen wird. Vorläufig stehen wir ja auch erst
im Anfange unserer Untersuchungen, und es ist zu hoffen, daß die allmähliche
Verbesserung der Methode gewisse Mängel ihrer Anwendung beseitigen wird.

Von dem, was die Versuche an älteren verwahrlosten Kindern bis jetzt
ergeben haben, möge folgendes erwähnt werden. Bei solchen Kindern sind die
Milieu- und Erziehungseinflüsse oft besonders ungünstig. Dies führt zu häufigem
Schulwechsel, häufiger Schulversäumnis wegen Krankheit oder wegen Ausnutzung
der Kinder als Arbeitskraft, zur Vernachlässigung der Schularbeit und zum
„Schwänzen", so daß sie auch in der Schule nicht ordentlich fortkommen, selbst
wenn sie keinen wesentlichen Defekt auf intellektuellem Gebiete zeigen. Im Ein¬
klang hiermit steht nun das, was sich über das Verhältnis des Jntelligenzalters
der angehenden Fürsorgezöglinge zu ihrem Schulalter hat feststellen lassen, dieses
letzte bestimmt durch das Normalalter der Kinder in derjenigen Klasse, in der
sie sitzen, so daß also z. B. das Schulalter eines zehnjährigen Kindes, das
zweimal sitzen geblieben ist, acht Jahr beträgt. Bei einem großen Teil der
Zöglinge stimmte nämlich Schul- und Jntelligenzalter ungefähr überein; es
waren dies die Kinder mit wirklichem Jntelligenzdefekt. Bei vielen aber, und
zwar gerade den besonders schlechten Milieueinflüssen ausgesetzten, fehlte jene
Übereinstimmung; sie zeigten ein normales oder nur um wenig zu niedriges
Jntelligenzalter, während ihr Schulalter erheblich zurückblieb. Und damit war
erwiesen, daß moralische ohne, oder doch ohne entsprechend große, intellektuelle
Defekte vorkommen.

Auch zur Untersuchung erwachsener Schwachsinniger kann man sich natürlich
der Binetschen Methode bedienen, doch erfordert dies einige Vorsicht. Wir
gehen hierauf nicht mehr näher ein. Nur das mag noch als wichtig für die
Beurteilung jugendlicher und erwachsener Schwachsinniger angeführt werden, was
Binet über die Zuordnung der verschiedenen Schwachsinnsgrade zu bestimmten
Stufen seines „Stufenmaßes der Intelligenz" festgestellt hat, nämlich folgendes.
Die Idiotie entspricht einem Jntelligenzalter von höchstens zwei Jahr, die
Imbezillität einem solchen von höchstens sieben Jahr, die Debilität endlich
eineni solchen von höchstens neun bis zehn Jahr. Diese letzte Zuordnung ist


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[0395] Jntclligenzprilfungen an Schulkindern Untersuchung einer großen Zahl von neuaufgenonunenen Hilfsschulkindern hat nun ergeben, daß sie zum größten Teil in der Tat eine Rückständigkeit um zwei Jahre oder mehr zeigen, aber nicht alle ohne Ausnahme. Hier liegt also ein gewisser Mangel der Methode vor, aber dies ist kein Wunder. Alle mensch¬ lichen Erfindungen sind nun einmal unvollkommen, und die Unvollkommenheit erklärt sich in unserem Falle daraus, daß bei manchen Kindern andere als rein intellektuelle Defekte bestehen, die es nötig machen, auf sie die individualisierende Unterrichtsmethode der Hilfsschule anzuwenden: nervöse Reizbarkeit, Störungen des Affekt- und Willenslebens, pathologische Ermüdbarkeit u. tgi. Dieser Umstand beeinträchtigt jedoch die allgemeine Verwertbarkeit der Methode nicht, da man ja während der gesamten Prüfung das Vorhandensein der erwähnten patholo¬ gischen Erscheinungen sowieso feststellen wird. Vorläufig stehen wir ja auch erst im Anfange unserer Untersuchungen, und es ist zu hoffen, daß die allmähliche Verbesserung der Methode gewisse Mängel ihrer Anwendung beseitigen wird. Von dem, was die Versuche an älteren verwahrlosten Kindern bis jetzt ergeben haben, möge folgendes erwähnt werden. Bei solchen Kindern sind die Milieu- und Erziehungseinflüsse oft besonders ungünstig. Dies führt zu häufigem Schulwechsel, häufiger Schulversäumnis wegen Krankheit oder wegen Ausnutzung der Kinder als Arbeitskraft, zur Vernachlässigung der Schularbeit und zum „Schwänzen", so daß sie auch in der Schule nicht ordentlich fortkommen, selbst wenn sie keinen wesentlichen Defekt auf intellektuellem Gebiete zeigen. Im Ein¬ klang hiermit steht nun das, was sich über das Verhältnis des Jntelligenzalters der angehenden Fürsorgezöglinge zu ihrem Schulalter hat feststellen lassen, dieses letzte bestimmt durch das Normalalter der Kinder in derjenigen Klasse, in der sie sitzen, so daß also z. B. das Schulalter eines zehnjährigen Kindes, das zweimal sitzen geblieben ist, acht Jahr beträgt. Bei einem großen Teil der Zöglinge stimmte nämlich Schul- und Jntelligenzalter ungefähr überein; es waren dies die Kinder mit wirklichem Jntelligenzdefekt. Bei vielen aber, und zwar gerade den besonders schlechten Milieueinflüssen ausgesetzten, fehlte jene Übereinstimmung; sie zeigten ein normales oder nur um wenig zu niedriges Jntelligenzalter, während ihr Schulalter erheblich zurückblieb. Und damit war erwiesen, daß moralische ohne, oder doch ohne entsprechend große, intellektuelle Defekte vorkommen. Auch zur Untersuchung erwachsener Schwachsinniger kann man sich natürlich der Binetschen Methode bedienen, doch erfordert dies einige Vorsicht. Wir gehen hierauf nicht mehr näher ein. Nur das mag noch als wichtig für die Beurteilung jugendlicher und erwachsener Schwachsinniger angeführt werden, was Binet über die Zuordnung der verschiedenen Schwachsinnsgrade zu bestimmten Stufen seines „Stufenmaßes der Intelligenz" festgestellt hat, nämlich folgendes. Die Idiotie entspricht einem Jntelligenzalter von höchstens zwei Jahr, die Imbezillität einem solchen von höchstens sieben Jahr, die Debilität endlich eineni solchen von höchstens neun bis zehn Jahr. Diese letzte Zuordnung ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/395>, abgerufen am 23.07.2024.