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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Intelligenzprüfungen an Schulkindern
Veto Lobcrtag von

er in den letzten Jahren den Fortschritt der psychologischen
Forschung und der Verwertung ihrer Ergebnisse für die Theorie
und Praxis der Erziehung aufmerksam verfolgt hat, muß bemerkt
haben, daß sich das Thema "Jntelligenzprüfungen an Schul¬
kindern" einer dauernd zunehmenden Beliebtheit erfreut. Noch
vor zwanzig Jahren gab es etwas derartiges überhaupt nicht, und heute wird
dieses Thema in psychologischen und pädagogischen Zeitschriften, auf Ver¬
sammlungen und Kongressen, in Kursen und Seminaren erörtert. Durch welche
Faktoren ist diese Entwicklung bestimmt worden, und zu welchen Resultaten
hat sie bis jetzt geführt? -- Wir werden gut tun, diese beiden Fragen in der
angegebenen Reihenfolge zu beantworten, wenn wir uns ein klares Bild von
dem gegenwärtigen Stand des Jntelligenzprüfungs-Problems machen wollen.

In der Praxis der psychiatrischen Klinik sind schon seit langem
psychologische Untersuchungen an Erwachsenen üblich, die den Zweck haben,
Desektzustände auf intellektuellem Gebiete festzustellen. Derartige Untersuchungen
zur Diagnose auf angeborenen oder erworbenen Schwachsinn hatten freilich
und haben auch im allgemeinen jetzt noch mehr den Charakter einer gelegentlichen
Unterhaltung als den eines wissenschaftlichen Experiments. Die ganze Art der
klinischen Beobachtung sowie der Zweck, den man dabei verfolgt, bewirken es,
daß man durch eine gewöhnliche Exploration des Patienten über seine
Jntelligenzdefekte in der Regel ebensoviel, wenn nicht mehr, erfährt als durch
eigentliche psychologische Experimente. Im Laufe der Zeit hat man sich allerdings
bestrebt, das Verfahren exakter und systematischer zu gestalten, hauptsächlich
dadurch, daß man der Diagnose ein psychologisches Schema zugrunde legte.
Man stellte eine Art System der intellektuellen "Fähigkeiten" des Menschen auf
-- z, B. Orientierung, Wahrnehmung, Auffassung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit,
Urteilsvermögen usw. -- und ordnete jeder dieser Fähigkeiten einige Fragen
Zu, aus deren Beantwortung man auf das Vorhandensein oder Fehlen der
betreffenden geistigen Funktion im einzelnen "Falle" einen Rückschluß zog.
Obwohl eine solche Prüfungsmethode in den Händen eines routinierten Unter¬
suchers befriedigende Resultate zu liefern vermag, lassen sich zwei Einwände
gegen sie erheben. Erstens wechseln die Auswahl und die nähere Formulierung




Intelligenzprüfungen an Schulkindern
Veto Lobcrtag von

er in den letzten Jahren den Fortschritt der psychologischen
Forschung und der Verwertung ihrer Ergebnisse für die Theorie
und Praxis der Erziehung aufmerksam verfolgt hat, muß bemerkt
haben, daß sich das Thema „Jntelligenzprüfungen an Schul¬
kindern" einer dauernd zunehmenden Beliebtheit erfreut. Noch
vor zwanzig Jahren gab es etwas derartiges überhaupt nicht, und heute wird
dieses Thema in psychologischen und pädagogischen Zeitschriften, auf Ver¬
sammlungen und Kongressen, in Kursen und Seminaren erörtert. Durch welche
Faktoren ist diese Entwicklung bestimmt worden, und zu welchen Resultaten
hat sie bis jetzt geführt? — Wir werden gut tun, diese beiden Fragen in der
angegebenen Reihenfolge zu beantworten, wenn wir uns ein klares Bild von
dem gegenwärtigen Stand des Jntelligenzprüfungs-Problems machen wollen.

In der Praxis der psychiatrischen Klinik sind schon seit langem
psychologische Untersuchungen an Erwachsenen üblich, die den Zweck haben,
Desektzustände auf intellektuellem Gebiete festzustellen. Derartige Untersuchungen
zur Diagnose auf angeborenen oder erworbenen Schwachsinn hatten freilich
und haben auch im allgemeinen jetzt noch mehr den Charakter einer gelegentlichen
Unterhaltung als den eines wissenschaftlichen Experiments. Die ganze Art der
klinischen Beobachtung sowie der Zweck, den man dabei verfolgt, bewirken es,
daß man durch eine gewöhnliche Exploration des Patienten über seine
Jntelligenzdefekte in der Regel ebensoviel, wenn nicht mehr, erfährt als durch
eigentliche psychologische Experimente. Im Laufe der Zeit hat man sich allerdings
bestrebt, das Verfahren exakter und systematischer zu gestalten, hauptsächlich
dadurch, daß man der Diagnose ein psychologisches Schema zugrunde legte.
Man stellte eine Art System der intellektuellen „Fähigkeiten" des Menschen auf
— z, B. Orientierung, Wahrnehmung, Auffassung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit,
Urteilsvermögen usw. — und ordnete jeder dieser Fähigkeiten einige Fragen
Zu, aus deren Beantwortung man auf das Vorhandensein oder Fehlen der
betreffenden geistigen Funktion im einzelnen „Falle" einen Rückschluß zog.
Obwohl eine solche Prüfungsmethode in den Händen eines routinierten Unter¬
suchers befriedigende Resultate zu liefern vermag, lassen sich zwei Einwände
gegen sie erheben. Erstens wechseln die Auswahl und die nähere Formulierung


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[0387] [Abbildung] Intelligenzprüfungen an Schulkindern Veto Lobcrtag von er in den letzten Jahren den Fortschritt der psychologischen Forschung und der Verwertung ihrer Ergebnisse für die Theorie und Praxis der Erziehung aufmerksam verfolgt hat, muß bemerkt haben, daß sich das Thema „Jntelligenzprüfungen an Schul¬ kindern" einer dauernd zunehmenden Beliebtheit erfreut. Noch vor zwanzig Jahren gab es etwas derartiges überhaupt nicht, und heute wird dieses Thema in psychologischen und pädagogischen Zeitschriften, auf Ver¬ sammlungen und Kongressen, in Kursen und Seminaren erörtert. Durch welche Faktoren ist diese Entwicklung bestimmt worden, und zu welchen Resultaten hat sie bis jetzt geführt? — Wir werden gut tun, diese beiden Fragen in der angegebenen Reihenfolge zu beantworten, wenn wir uns ein klares Bild von dem gegenwärtigen Stand des Jntelligenzprüfungs-Problems machen wollen. In der Praxis der psychiatrischen Klinik sind schon seit langem psychologische Untersuchungen an Erwachsenen üblich, die den Zweck haben, Desektzustände auf intellektuellem Gebiete festzustellen. Derartige Untersuchungen zur Diagnose auf angeborenen oder erworbenen Schwachsinn hatten freilich und haben auch im allgemeinen jetzt noch mehr den Charakter einer gelegentlichen Unterhaltung als den eines wissenschaftlichen Experiments. Die ganze Art der klinischen Beobachtung sowie der Zweck, den man dabei verfolgt, bewirken es, daß man durch eine gewöhnliche Exploration des Patienten über seine Jntelligenzdefekte in der Regel ebensoviel, wenn nicht mehr, erfährt als durch eigentliche psychologische Experimente. Im Laufe der Zeit hat man sich allerdings bestrebt, das Verfahren exakter und systematischer zu gestalten, hauptsächlich dadurch, daß man der Diagnose ein psychologisches Schema zugrunde legte. Man stellte eine Art System der intellektuellen „Fähigkeiten" des Menschen auf — z, B. Orientierung, Wahrnehmung, Auffassung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Urteilsvermögen usw. — und ordnete jeder dieser Fähigkeiten einige Fragen Zu, aus deren Beantwortung man auf das Vorhandensein oder Fehlen der betreffenden geistigen Funktion im einzelnen „Falle" einen Rückschluß zog. Obwohl eine solche Prüfungsmethode in den Händen eines routinierten Unter¬ suchers befriedigende Resultate zu liefern vermag, lassen sich zwei Einwände gegen sie erheben. Erstens wechseln die Auswahl und die nähere Formulierung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/387>, abgerufen am 26.08.2024.