Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.Reichsspiegel Regierung, Reichstag und Presse Marokko- und Kongovertrag im Reichstage -- Gewitterstimmung -- Die Rede des Kanzlers -- Verhalten des Kronprinzen -- Herr v, Hcydebrand -- Fragen des Staatsrechts -- Die "Maunesmcinnpresse" -- Herrn Ripplers Einladung -- Die Klubsitzung -- Herr v. Wrochem -- Irreführung der öffentlichen Meinung Es gibt Gewitter, die in wenigen Minuten die lechzende Natur erquicken, und Die Rede des Kanzlers war wie alle seine großen, vorbereiteten Reden Reichsspiegel Regierung, Reichstag und Presse Marokko- und Kongovertrag im Reichstage — Gewitterstimmung — Die Rede des Kanzlers — Verhalten des Kronprinzen — Herr v, Hcydebrand — Fragen des Staatsrechts — Die „Maunesmcinnpresse" — Herrn Ripplers Einladung — Die Klubsitzung — Herr v. Wrochem — Irreführung der öffentlichen Meinung Es gibt Gewitter, die in wenigen Minuten die lechzende Natur erquicken, und Die Rede des Kanzlers war wie alle seine großen, vorbereiteten Reden <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0359" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319960"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341893_319600/figures/grenzboten_341893_319600_319960_000.jpg"/><lb/> </div> </div> <div n="1"> <head> Reichsspiegel<lb/></head><lb/> <div n="2"> <head> Regierung, Reichstag und Presse</head><lb/> <note type="argument"> Marokko- und Kongovertrag im Reichstage — Gewitterstimmung — Die Rede des<lb/> Kanzlers — Verhalten des Kronprinzen — Herr v, Hcydebrand — Fragen des<lb/> Staatsrechts — Die „Maunesmcinnpresse" — Herrn Ripplers Einladung — Die<lb/> Klubsitzung — Herr v. Wrochem — Irreführung der öffentlichen Meinung</note><lb/> <p xml:id="ID_1512"> Es gibt Gewitter, die in wenigen Minuten die lechzende Natur erquicken, und<lb/> es gibt solche, die die lastende Schwüle selbst nach Stunden währendem Toben nicht<lb/> zu beseitigen vermögen. Sie vermehren nur das Angstgefühl und ihre Blitze beleuchten<lb/> ferne Sturmeswolken, die den Frieden bedrohen, aber auch wohl den lichten Streifen<lb/> am Horizont, von dem aus das gute Wetter zu erwarten ist. Ein solches Gewitter<lb/> tobte in der zweiten Hälfte der abgelaufenen Woche im Reichstage. Kühlung hat<lb/> es nicht gebracht; aber seine Blitze offenbarten mit grellem Licht die gefahr¬<lb/> drohenden Wolken, die gegen die innere Politik des Reichs heranstürmen; was sie<lb/> enthalten und das Maß ihrer Stärke läßt sich noch nicht ganz abschätzen. Alle<lb/> Anzeichen deuten jedenfalls darauf hin, daß noch viele Gewitter zu erwarten sind, ehe<lb/> sonnige Tage wiederkommen. In der Politik nennt man solche Gewitterperioden<lb/> „kritisch" und bezeichnet sie, wenn die Krise tiefer geht, als Konfliktszeit. Politische<lb/> Krisen gelten aber als tief, wenn sie gleichzeitig Versassungs- und Finanzfragen<lb/> in Mitleidenschaft ziehen. Diese beiden Fragen aber bilden den drohenden Hinter¬<lb/> grund unserer politischen Verhältnisse.</p><lb/> <p xml:id="ID_1513" next="#ID_1514"> Die Rede des Kanzlers war wie alle seine großen, vorbereiteten Reden<lb/> ein Meisterstück der Objektivität. Wenn sie die gewünschte aber kaum wohl<lb/> erhoffte Wirkung auf die Parteien nicht gehabt hat, so liegt das sowohl am Stoff,<lb/> den sie verarbeitete, wie an der Stimmung der Zuhörer aber auch an gewissen<lb/> Mängeln in der Rede selbst, wie am Redner. Der fünfte Kanzler mutet in seiner<lb/> Sachlichkeit als Parlementsredner an, wie ein Wahrheitsverkünder der zu Wahrheits¬<lb/> suchern spricht, nicht wie ein Politiker, der widerspenstige Hörer bezwingen will.<lb/> Der gelehrte Forscher wird später in den Reden ein klares Spiegelbild von den<lb/> Dingen finden wie sie tatsächlich sind, aber kein Bild von der Stimmung, die sie<lb/> veranlaßt haben. Die Stimmung wird völlig ignoriert, die ganze Arbeit und<lb/> aufgewendete Kraft gilt der speziellen zur Verhandlung stehenden Materie. So<lb/> unterbleibt denn auch jede Anknüpfung an die Dinge außerhalb, die nicht sachlich<lb/> direkt mit der Materie zusammenhängen. Ich habe aus diesen Mangel der<lb/> Kanzlerreden schon öfter, zuletzt gelegentlich der Fleischteuerungsdebatte hingewiesen,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0359]
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Reichsspiegel
Regierung, Reichstag und Presse
Marokko- und Kongovertrag im Reichstage — Gewitterstimmung — Die Rede des
Kanzlers — Verhalten des Kronprinzen — Herr v, Hcydebrand — Fragen des
Staatsrechts — Die „Maunesmcinnpresse" — Herrn Ripplers Einladung — Die
Klubsitzung — Herr v. Wrochem — Irreführung der öffentlichen Meinung
Es gibt Gewitter, die in wenigen Minuten die lechzende Natur erquicken, und
es gibt solche, die die lastende Schwüle selbst nach Stunden währendem Toben nicht
zu beseitigen vermögen. Sie vermehren nur das Angstgefühl und ihre Blitze beleuchten
ferne Sturmeswolken, die den Frieden bedrohen, aber auch wohl den lichten Streifen
am Horizont, von dem aus das gute Wetter zu erwarten ist. Ein solches Gewitter
tobte in der zweiten Hälfte der abgelaufenen Woche im Reichstage. Kühlung hat
es nicht gebracht; aber seine Blitze offenbarten mit grellem Licht die gefahr¬
drohenden Wolken, die gegen die innere Politik des Reichs heranstürmen; was sie
enthalten und das Maß ihrer Stärke läßt sich noch nicht ganz abschätzen. Alle
Anzeichen deuten jedenfalls darauf hin, daß noch viele Gewitter zu erwarten sind, ehe
sonnige Tage wiederkommen. In der Politik nennt man solche Gewitterperioden
„kritisch" und bezeichnet sie, wenn die Krise tiefer geht, als Konfliktszeit. Politische
Krisen gelten aber als tief, wenn sie gleichzeitig Versassungs- und Finanzfragen
in Mitleidenschaft ziehen. Diese beiden Fragen aber bilden den drohenden Hinter¬
grund unserer politischen Verhältnisse.
Die Rede des Kanzlers war wie alle seine großen, vorbereiteten Reden
ein Meisterstück der Objektivität. Wenn sie die gewünschte aber kaum wohl
erhoffte Wirkung auf die Parteien nicht gehabt hat, so liegt das sowohl am Stoff,
den sie verarbeitete, wie an der Stimmung der Zuhörer aber auch an gewissen
Mängeln in der Rede selbst, wie am Redner. Der fünfte Kanzler mutet in seiner
Sachlichkeit als Parlementsredner an, wie ein Wahrheitsverkünder der zu Wahrheits¬
suchern spricht, nicht wie ein Politiker, der widerspenstige Hörer bezwingen will.
Der gelehrte Forscher wird später in den Reden ein klares Spiegelbild von den
Dingen finden wie sie tatsächlich sind, aber kein Bild von der Stimmung, die sie
veranlaßt haben. Die Stimmung wird völlig ignoriert, die ganze Arbeit und
aufgewendete Kraft gilt der speziellen zur Verhandlung stehenden Materie. So
unterbleibt denn auch jede Anknüpfung an die Dinge außerhalb, die nicht sachlich
direkt mit der Materie zusammenhängen. Ich habe aus diesen Mangel der
Kanzlerreden schon öfter, zuletzt gelegentlich der Fleischteuerungsdebatte hingewiesen,
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