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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

der Verfasserin, oder ungünstige Momente der
Phantasie, oder vielleicht nur der sonst so
kunstvoll bewußten Wortgebung? Gleichviel!
Damajanti durfte an jener stark exponierten
Stelle auf dem Ball in Trinidad, wo ihr
Herz hoch erglühte, den Geliebten nicht so --
sagen wir's geradeheraus: backfischhaft kokett
abfertigen. Hier erscheint eine andere Dama¬
janti als das weiche kunstbeseelte Mädchen
("Sie ist wie ein banges Vögelchen voll Sehn¬
sucht nach der Mutter"), mit dem wir es sonst
zum Glück zu tun haben. Das ist aber auch
alles, was wir an dem Roman etwa zu be¬
mängeln hätten.

Im übrigen bedeutet Annie Boysens Buch
einen wertvollen Beitrag zu den wirklich weib¬
lichen Frauenbeichten des neuen Jahrhunderts.
Die Tendenz -- in welchem Erstlingswerk
eines deutschen Dichters steckt nicht die Tendenz
seiner Lebensperiode? -- ist so tief in Poesie
getaucht und so menschlich einfach gelöst, daß
wir sie nicht als sozialverwendbare Tendenz
empfinden, sondern mit ihr immer nur auf
dein individuellen Interesse für die Gestalten
des Romans verharren, obwohl Damcijcmtis
Schicksal typische Bedeutung haben mag. --
Dcnnajanti, in Indien geboren, wie die Ver¬
fasserin, durch exotische Erinnerungen aus der
Sphäre ihrerAltersgenossinnen herausgehoben,
fühlt den Beruf zur Sängerin als einzigen
lebensstarken Trieb in sich. Schicksalsmächte,
die von weither ihre Lebensfaden spinnen,
führen ihr auf Trinidad den vorbestimmten
Geliebten zu. Halgrimur, zwar begeistert
von dem Gesang Damcijcmtis, verlangt, daß
die Geliebte die Künstlcrlaufbahn aufgebe.
Stolz Pralle auf Stolz. Jähe Trennung ist
die Folge. Aber das Mädchen lernt in schweren
Prüfungen Weib zu werden und die Kunst
rin in ihre Liebe zu nehmen. Kunst und
Leben stehen ihr nicht mehr getrennt gegen¬
über: "Ich bin so dankbar ein Mensch zu
sein," sagt sie nicht resignierend, sondern sieg¬
reich in endlichem Verständnis des tieferen
Sinnes ihrer Kunst.

Die farbensatten Schilderungen der in¬
dischen Natur, die humorvollen Beschreibungen
des trägen Lebens der Europäer auf Trinidad
zeigen eine packende Gestaltungskraft. Die
Verfasserin, die als Missionarstochter das
Zauberland des Ostens, Zentralamerika und

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verschiedene Länder Europas kennen gelernt
hat und eine stattliche Anzahl fremder Sprachen
pricht, verfügt über einen Wort- und Begriffs¬
chatz, der namentlich in den Naturschilderungen
oft berauschend auf uns einströmt.

Fritz Tychow
Thca von Harvou: Die nach uns kommen.
Roman. Stuttgart. I. G. Cotta. Preis 3 M.

Daß die ältere Generation um derent¬
willen, die nach ihr kommt und der die Zu¬
unft gehört, die herbsten Opfer bringen kann
und muß, daß eine Mutter um ihrem über
alles geliebten Sohn die Zukunft zu ebnen
nicht nur Geld und Gut sondern die eigene
Persönlichkeit opfert und sich in ehrloser Leib¬
eigenschaft einem verhaßten Manne hingibt,
st ein ernstes und dankbares Romanproblem.
Thea von Harbvu versteht Wohl, es zu stellen, aber
nicht, es zu lösen: bei ihr bringt die Mutter
das Opfer, um dem Sohn das Studieren zu
rmöglichen, aber es ist umsonst, da dies Ziel
bald aus den Augen verloren wird; und eben¬
o unnötig ist die Seelenangst der Muttor,
hr Sohn könne eines Tages den Kaufpreis
rfahren, den sie gezahlt hat: denn als er
davon erfährt, gibt er sich trotz anfänglichen
Grimms bald zufrieden. Eine Menge Seiten¬
motive werden angeschlagen, um gleich wieder
u verklingen, die Verfasserin schaltet eine
Schülcrtragödie, einen Feldzug in Südwest
und andere Episoden ein, die für unbefrie¬
igende Behandlung des Hauptthemas keinen
Ersatz bieten. -- Einer modernen realistischen
Schriftstellerin -- um eine solche zu sein, ge¬
nügt es nicht, das Leben der Bauern ein
wenig zu beobachten und einige zeitgenössische
Probleme anzuschlagen -- sollte es nicht
assieren, daß sie den Namen ihres Helden
alsch angibt: Hollander und Murten leben
n wilder Ehe, also kann ihr Sohn unmöglich
Mut Hollander heißen. --

Eine gewisse verhaltene Kraft und unge¬
ünstelte Schlichtheit zeichnet die gedrängte,
ber stimmungsreiche Darstellung der Vorge¬
chichte des eigentlichen Konflikts aus, so daß
man diese ersten hundert Seiten nicht ohne
Genuß liest. Aus ihnen darf man vielleicht
Hoffnung schöpfen, daß die Verfasserin in den
Büchern, die nach diesem kommen, die hier in die
Augen springenden Fehler vermeiden wird.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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der Verfasserin, oder ungünstige Momente der
Phantasie, oder vielleicht nur der sonst so
kunstvoll bewußten Wortgebung? Gleichviel!
Damajanti durfte an jener stark exponierten
Stelle auf dem Ball in Trinidad, wo ihr
Herz hoch erglühte, den Geliebten nicht so —
sagen wir's geradeheraus: backfischhaft kokett
abfertigen. Hier erscheint eine andere Dama¬
janti als das weiche kunstbeseelte Mädchen
(„Sie ist wie ein banges Vögelchen voll Sehn¬
sucht nach der Mutter"), mit dem wir es sonst
zum Glück zu tun haben. Das ist aber auch
alles, was wir an dem Roman etwa zu be¬
mängeln hätten.

Im übrigen bedeutet Annie Boysens Buch
einen wertvollen Beitrag zu den wirklich weib¬
lichen Frauenbeichten des neuen Jahrhunderts.
Die Tendenz — in welchem Erstlingswerk
eines deutschen Dichters steckt nicht die Tendenz
seiner Lebensperiode? — ist so tief in Poesie
getaucht und so menschlich einfach gelöst, daß
wir sie nicht als sozialverwendbare Tendenz
empfinden, sondern mit ihr immer nur auf
dein individuellen Interesse für die Gestalten
des Romans verharren, obwohl Damcijcmtis
Schicksal typische Bedeutung haben mag. —
Dcnnajanti, in Indien geboren, wie die Ver¬
fasserin, durch exotische Erinnerungen aus der
Sphäre ihrerAltersgenossinnen herausgehoben,
fühlt den Beruf zur Sängerin als einzigen
lebensstarken Trieb in sich. Schicksalsmächte,
die von weither ihre Lebensfaden spinnen,
führen ihr auf Trinidad den vorbestimmten
Geliebten zu. Halgrimur, zwar begeistert
von dem Gesang Damcijcmtis, verlangt, daß
die Geliebte die Künstlcrlaufbahn aufgebe.
Stolz Pralle auf Stolz. Jähe Trennung ist
die Folge. Aber das Mädchen lernt in schweren
Prüfungen Weib zu werden und die Kunst
rin in ihre Liebe zu nehmen. Kunst und
Leben stehen ihr nicht mehr getrennt gegen¬
über: „Ich bin so dankbar ein Mensch zu
sein," sagt sie nicht resignierend, sondern sieg¬
reich in endlichem Verständnis des tieferen
Sinnes ihrer Kunst.

Die farbensatten Schilderungen der in¬
dischen Natur, die humorvollen Beschreibungen
des trägen Lebens der Europäer auf Trinidad
zeigen eine packende Gestaltungskraft. Die
Verfasserin, die als Missionarstochter das
Zauberland des Ostens, Zentralamerika und

[Spaltenumbruch]

verschiedene Länder Europas kennen gelernt
hat und eine stattliche Anzahl fremder Sprachen
pricht, verfügt über einen Wort- und Begriffs¬
chatz, der namentlich in den Naturschilderungen
oft berauschend auf uns einströmt.

Fritz Tychow
Thca von Harvou: Die nach uns kommen.
Roman. Stuttgart. I. G. Cotta. Preis 3 M.

Daß die ältere Generation um derent¬
willen, die nach ihr kommt und der die Zu¬
unft gehört, die herbsten Opfer bringen kann
und muß, daß eine Mutter um ihrem über
alles geliebten Sohn die Zukunft zu ebnen
nicht nur Geld und Gut sondern die eigene
Persönlichkeit opfert und sich in ehrloser Leib¬
eigenschaft einem verhaßten Manne hingibt,
st ein ernstes und dankbares Romanproblem.
Thea von Harbvu versteht Wohl, es zu stellen, aber
nicht, es zu lösen: bei ihr bringt die Mutter
das Opfer, um dem Sohn das Studieren zu
rmöglichen, aber es ist umsonst, da dies Ziel
bald aus den Augen verloren wird; und eben¬
o unnötig ist die Seelenangst der Muttor,
hr Sohn könne eines Tages den Kaufpreis
rfahren, den sie gezahlt hat: denn als er
davon erfährt, gibt er sich trotz anfänglichen
Grimms bald zufrieden. Eine Menge Seiten¬
motive werden angeschlagen, um gleich wieder
u verklingen, die Verfasserin schaltet eine
Schülcrtragödie, einen Feldzug in Südwest
und andere Episoden ein, die für unbefrie¬
igende Behandlung des Hauptthemas keinen
Ersatz bieten. — Einer modernen realistischen
Schriftstellerin — um eine solche zu sein, ge¬
nügt es nicht, das Leben der Bauern ein
wenig zu beobachten und einige zeitgenössische
Probleme anzuschlagen — sollte es nicht
assieren, daß sie den Namen ihres Helden
alsch angibt: Hollander und Murten leben
n wilder Ehe, also kann ihr Sohn unmöglich
Mut Hollander heißen. —

Eine gewisse verhaltene Kraft und unge¬
ünstelte Schlichtheit zeichnet die gedrängte,
ber stimmungsreiche Darstellung der Vorge¬
chichte des eigentlichen Konflikts aus, so daß
man diese ersten hundert Seiten nicht ohne
Genuß liest. Aus ihnen darf man vielleicht
Hoffnung schöpfen, daß die Verfasserin in den
Büchern, die nach diesem kommen, die hier in die
Augen springenden Fehler vermeiden wird.

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[0356] Maßgebliches und Unmaßgebliches der Verfasserin, oder ungünstige Momente der Phantasie, oder vielleicht nur der sonst so kunstvoll bewußten Wortgebung? Gleichviel! Damajanti durfte an jener stark exponierten Stelle auf dem Ball in Trinidad, wo ihr Herz hoch erglühte, den Geliebten nicht so — sagen wir's geradeheraus: backfischhaft kokett abfertigen. Hier erscheint eine andere Dama¬ janti als das weiche kunstbeseelte Mädchen („Sie ist wie ein banges Vögelchen voll Sehn¬ sucht nach der Mutter"), mit dem wir es sonst zum Glück zu tun haben. Das ist aber auch alles, was wir an dem Roman etwa zu be¬ mängeln hätten. Im übrigen bedeutet Annie Boysens Buch einen wertvollen Beitrag zu den wirklich weib¬ lichen Frauenbeichten des neuen Jahrhunderts. Die Tendenz — in welchem Erstlingswerk eines deutschen Dichters steckt nicht die Tendenz seiner Lebensperiode? — ist so tief in Poesie getaucht und so menschlich einfach gelöst, daß wir sie nicht als sozialverwendbare Tendenz empfinden, sondern mit ihr immer nur auf dein individuellen Interesse für die Gestalten des Romans verharren, obwohl Damcijcmtis Schicksal typische Bedeutung haben mag. — Dcnnajanti, in Indien geboren, wie die Ver¬ fasserin, durch exotische Erinnerungen aus der Sphäre ihrerAltersgenossinnen herausgehoben, fühlt den Beruf zur Sängerin als einzigen lebensstarken Trieb in sich. Schicksalsmächte, die von weither ihre Lebensfaden spinnen, führen ihr auf Trinidad den vorbestimmten Geliebten zu. Halgrimur, zwar begeistert von dem Gesang Damcijcmtis, verlangt, daß die Geliebte die Künstlcrlaufbahn aufgebe. Stolz Pralle auf Stolz. Jähe Trennung ist die Folge. Aber das Mädchen lernt in schweren Prüfungen Weib zu werden und die Kunst rin in ihre Liebe zu nehmen. Kunst und Leben stehen ihr nicht mehr getrennt gegen¬ über: „Ich bin so dankbar ein Mensch zu sein," sagt sie nicht resignierend, sondern sieg¬ reich in endlichem Verständnis des tieferen Sinnes ihrer Kunst. Die farbensatten Schilderungen der in¬ dischen Natur, die humorvollen Beschreibungen des trägen Lebens der Europäer auf Trinidad zeigen eine packende Gestaltungskraft. Die Verfasserin, die als Missionarstochter das Zauberland des Ostens, Zentralamerika und verschiedene Länder Europas kennen gelernt hat und eine stattliche Anzahl fremder Sprachen pricht, verfügt über einen Wort- und Begriffs¬ chatz, der namentlich in den Naturschilderungen oft berauschend auf uns einströmt. Fritz Tychow Thca von Harvou: Die nach uns kommen. Roman. Stuttgart. I. G. Cotta. Preis 3 M. Daß die ältere Generation um derent¬ willen, die nach ihr kommt und der die Zu¬ unft gehört, die herbsten Opfer bringen kann und muß, daß eine Mutter um ihrem über alles geliebten Sohn die Zukunft zu ebnen nicht nur Geld und Gut sondern die eigene Persönlichkeit opfert und sich in ehrloser Leib¬ eigenschaft einem verhaßten Manne hingibt, st ein ernstes und dankbares Romanproblem. Thea von Harbvu versteht Wohl, es zu stellen, aber nicht, es zu lösen: bei ihr bringt die Mutter das Opfer, um dem Sohn das Studieren zu rmöglichen, aber es ist umsonst, da dies Ziel bald aus den Augen verloren wird; und eben¬ o unnötig ist die Seelenangst der Muttor, hr Sohn könne eines Tages den Kaufpreis rfahren, den sie gezahlt hat: denn als er davon erfährt, gibt er sich trotz anfänglichen Grimms bald zufrieden. Eine Menge Seiten¬ motive werden angeschlagen, um gleich wieder u verklingen, die Verfasserin schaltet eine Schülcrtragödie, einen Feldzug in Südwest und andere Episoden ein, die für unbefrie¬ igende Behandlung des Hauptthemas keinen Ersatz bieten. — Einer modernen realistischen Schriftstellerin — um eine solche zu sein, ge¬ nügt es nicht, das Leben der Bauern ein wenig zu beobachten und einige zeitgenössische Probleme anzuschlagen — sollte es nicht assieren, daß sie den Namen ihres Helden alsch angibt: Hollander und Murten leben n wilder Ehe, also kann ihr Sohn unmöglich Mut Hollander heißen. — Eine gewisse verhaltene Kraft und unge¬ ünstelte Schlichtheit zeichnet die gedrängte, ber stimmungsreiche Darstellung der Vorge¬ chichte des eigentlichen Konflikts aus, so daß man diese ersten hundert Seiten nicht ohne Genuß liest. Aus ihnen darf man vielleicht Hoffnung schöpfen, daß die Verfasserin in den Büchern, die nach diesem kommen, die hier in die Augen springenden Fehler vermeiden wird. —r

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/356>, abgerufen am 23.07.2024.