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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertige"

Ergebnis wenig glücklich, das aus einer Vermischung der an der "freien Willens¬
bestimmung" festhaltenden Anschauungen der sogenannten klassischen Schule mit
der in: wesentlichen aus der biologisch-anthropologischen Betrachtungsweise
abgeleiteten Forderung derer entstanden ist, die eine strafrechtliche Zwischenstufe
wünschen. Ich glaube gezeigt zu haben, daß diese Mischung nicht befriedigender
ausfallen konnte.

Es ist daher wohl lohnend, zu untersuchen, ob für die Beibehaltung des
Begriffs der freien Willensbestimmung zwingende Gründe bestehen, welche
Berechtigung ferner eine andere Auffassung vom Wesen des Willens hat, wie
das Strafrecht auf einer anderen Auffassung aufgebaut werden kann, und wie
man sich schließlich von dem so gewonnenen anderen Standpunkt unter Berück¬
sichtigung der zu erstrebenden möglichst großen Rechtssicherheit zu unserem Problem
zu stellen hat.

In den Motiven zum Entwurf heißt es, daß sich die Beibehaltung des
Ausdrucks "freie Willensbestimmung" durch den Mangel eines besseren rechtfertige,
daß er im Sinne des gewöhnlichen Lebens zu verstehen sei und durch lange
Gewöhnung überdies volkstümlich geworden sei.

Dieser Begründung ist entgegenzuhalten, daß "der Sinn des gewöhnlichen
Lebens" keineswegs ein klar umschriebener ist, und daß selbst solche Juristen,
die im übrigen durchaus die "freie Willensbestimmung" anerkennen, nicht aus¬
nahmslos für die Beibehaltung des Begriffs im Strafgesetzbuch eintreten. So
hat z. B. Geheimrat Prof. Dr. Kahl wiederholt ausgesprochen, daß der Begriff
unbedenklich fallen könnte. Es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß
die Psychiater sämtlich von der Willensfreiheit des Menschen nichts wissen wollen.
Und doch sind sie es, deren sachverständiges Gutachten die Richter erst in den
Stand setzen soll, über das Vorhandensein der freien Willensbestimmung, ihre
Verminderung und ihr Ausgeschlossensein zu entscheiden. Man sollte meinen,
daß bei solcher Sachlage den Richtern wirklich nichts an der Beibehaltung des
vielumstrittenen Begriffs liegen könnte. Wenn wir schließlich bedenken, daß er
sehr wohl ersetzt werden kann -- wie, wird unten gezeigt werden --, und daß
er zu der oben dargelegten bedenklichen Bestimmung über die unter allen Um¬
ständen mildere Bestrafung der "vermindert Zurechnungsfähigen" geführt hat.
so können wir nur wünschen, daß er nicht wieder in das neue Strafgesetzbuch
aufgenommen wird.

Ich will hier das Problem der Willensfreiheit nicht ausführlich behandeln.
Hierzu würde zunächst eine erschöpfende Erörterung des Seelenproblems gehören,
die zu weit führen würde. Der Kampf um die Willensfreiheit wird vielfach
mit Leidenschaftlichkeit geführt, und namentlich auf der Seite der Bekenner des
freien Willens, der Jndeterministen, scheint nur ein reichliches Maß von Entrüstung
gegen seine Verneiner, die Deterministen, vorhanden zu sein. Ich habe den
Eindruck gewonnen, daß diese Entrüstung zum Teil auf einer falschen Auffassung
des Problems beruht. Gar manche scheinen zu glauben, nach deterministischer


Die geistig Minderwertige»

Ergebnis wenig glücklich, das aus einer Vermischung der an der „freien Willens¬
bestimmung" festhaltenden Anschauungen der sogenannten klassischen Schule mit
der in: wesentlichen aus der biologisch-anthropologischen Betrachtungsweise
abgeleiteten Forderung derer entstanden ist, die eine strafrechtliche Zwischenstufe
wünschen. Ich glaube gezeigt zu haben, daß diese Mischung nicht befriedigender
ausfallen konnte.

Es ist daher wohl lohnend, zu untersuchen, ob für die Beibehaltung des
Begriffs der freien Willensbestimmung zwingende Gründe bestehen, welche
Berechtigung ferner eine andere Auffassung vom Wesen des Willens hat, wie
das Strafrecht auf einer anderen Auffassung aufgebaut werden kann, und wie
man sich schließlich von dem so gewonnenen anderen Standpunkt unter Berück¬
sichtigung der zu erstrebenden möglichst großen Rechtssicherheit zu unserem Problem
zu stellen hat.

In den Motiven zum Entwurf heißt es, daß sich die Beibehaltung des
Ausdrucks „freie Willensbestimmung" durch den Mangel eines besseren rechtfertige,
daß er im Sinne des gewöhnlichen Lebens zu verstehen sei und durch lange
Gewöhnung überdies volkstümlich geworden sei.

Dieser Begründung ist entgegenzuhalten, daß „der Sinn des gewöhnlichen
Lebens" keineswegs ein klar umschriebener ist, und daß selbst solche Juristen,
die im übrigen durchaus die „freie Willensbestimmung" anerkennen, nicht aus¬
nahmslos für die Beibehaltung des Begriffs im Strafgesetzbuch eintreten. So
hat z. B. Geheimrat Prof. Dr. Kahl wiederholt ausgesprochen, daß der Begriff
unbedenklich fallen könnte. Es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß
die Psychiater sämtlich von der Willensfreiheit des Menschen nichts wissen wollen.
Und doch sind sie es, deren sachverständiges Gutachten die Richter erst in den
Stand setzen soll, über das Vorhandensein der freien Willensbestimmung, ihre
Verminderung und ihr Ausgeschlossensein zu entscheiden. Man sollte meinen,
daß bei solcher Sachlage den Richtern wirklich nichts an der Beibehaltung des
vielumstrittenen Begriffs liegen könnte. Wenn wir schließlich bedenken, daß er
sehr wohl ersetzt werden kann — wie, wird unten gezeigt werden —, und daß
er zu der oben dargelegten bedenklichen Bestimmung über die unter allen Um¬
ständen mildere Bestrafung der „vermindert Zurechnungsfähigen" geführt hat.
so können wir nur wünschen, daß er nicht wieder in das neue Strafgesetzbuch
aufgenommen wird.

Ich will hier das Problem der Willensfreiheit nicht ausführlich behandeln.
Hierzu würde zunächst eine erschöpfende Erörterung des Seelenproblems gehören,
die zu weit führen würde. Der Kampf um die Willensfreiheit wird vielfach
mit Leidenschaftlichkeit geführt, und namentlich auf der Seite der Bekenner des
freien Willens, der Jndeterministen, scheint nur ein reichliches Maß von Entrüstung
gegen seine Verneiner, die Deterministen, vorhanden zu sein. Ich habe den
Eindruck gewonnen, daß diese Entrüstung zum Teil auf einer falschen Auffassung
des Problems beruht. Gar manche scheinen zu glauben, nach deterministischer


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[0027] Die geistig Minderwertige» Ergebnis wenig glücklich, das aus einer Vermischung der an der „freien Willens¬ bestimmung" festhaltenden Anschauungen der sogenannten klassischen Schule mit der in: wesentlichen aus der biologisch-anthropologischen Betrachtungsweise abgeleiteten Forderung derer entstanden ist, die eine strafrechtliche Zwischenstufe wünschen. Ich glaube gezeigt zu haben, daß diese Mischung nicht befriedigender ausfallen konnte. Es ist daher wohl lohnend, zu untersuchen, ob für die Beibehaltung des Begriffs der freien Willensbestimmung zwingende Gründe bestehen, welche Berechtigung ferner eine andere Auffassung vom Wesen des Willens hat, wie das Strafrecht auf einer anderen Auffassung aufgebaut werden kann, und wie man sich schließlich von dem so gewonnenen anderen Standpunkt unter Berück¬ sichtigung der zu erstrebenden möglichst großen Rechtssicherheit zu unserem Problem zu stellen hat. In den Motiven zum Entwurf heißt es, daß sich die Beibehaltung des Ausdrucks „freie Willensbestimmung" durch den Mangel eines besseren rechtfertige, daß er im Sinne des gewöhnlichen Lebens zu verstehen sei und durch lange Gewöhnung überdies volkstümlich geworden sei. Dieser Begründung ist entgegenzuhalten, daß „der Sinn des gewöhnlichen Lebens" keineswegs ein klar umschriebener ist, und daß selbst solche Juristen, die im übrigen durchaus die „freie Willensbestimmung" anerkennen, nicht aus¬ nahmslos für die Beibehaltung des Begriffs im Strafgesetzbuch eintreten. So hat z. B. Geheimrat Prof. Dr. Kahl wiederholt ausgesprochen, daß der Begriff unbedenklich fallen könnte. Es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß die Psychiater sämtlich von der Willensfreiheit des Menschen nichts wissen wollen. Und doch sind sie es, deren sachverständiges Gutachten die Richter erst in den Stand setzen soll, über das Vorhandensein der freien Willensbestimmung, ihre Verminderung und ihr Ausgeschlossensein zu entscheiden. Man sollte meinen, daß bei solcher Sachlage den Richtern wirklich nichts an der Beibehaltung des vielumstrittenen Begriffs liegen könnte. Wenn wir schließlich bedenken, daß er sehr wohl ersetzt werden kann — wie, wird unten gezeigt werden —, und daß er zu der oben dargelegten bedenklichen Bestimmung über die unter allen Um¬ ständen mildere Bestrafung der „vermindert Zurechnungsfähigen" geführt hat. so können wir nur wünschen, daß er nicht wieder in das neue Strafgesetzbuch aufgenommen wird. Ich will hier das Problem der Willensfreiheit nicht ausführlich behandeln. Hierzu würde zunächst eine erschöpfende Erörterung des Seelenproblems gehören, die zu weit führen würde. Der Kampf um die Willensfreiheit wird vielfach mit Leidenschaftlichkeit geführt, und namentlich auf der Seite der Bekenner des freien Willens, der Jndeterministen, scheint nur ein reichliches Maß von Entrüstung gegen seine Verneiner, die Deterministen, vorhanden zu sein. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß diese Entrüstung zum Teil auf einer falschen Auffassung des Problems beruht. Gar manche scheinen zu glauben, nach deterministischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/27>, abgerufen am 01.07.2024.